Abo

Historisches FotoBewegende Geschichte hinter dem Bild einer Drahtseilartistin in Köln

Lesezeit 5 Minuten
Rosanna war der Name der Artistin, die 1946 über dem Heumarkt balancierte.

Rosanna war der Name der Artistin, die 1946 über dem Heumarkt balancierte.

Köln – Einsam sieht sie aus, die junge Artistin, die hoch oben barfuß über das Seil läuft und den konzentrierten Blick fest auf den Fotografen gerichtet hat, während der Wind an Rock und Haaren zieht. Unten, in den Trümmern des zerstörten Köln von 1946, stehen Menschenmassen und starren zu ihr hinauf, aber da oben, zwischen Himmel und Erde, ist der bunte Paradiesvogel ganz allein auf sich gestellt. Jeder falsche Schritt kann den Tod bedeuten. Das weiß sie selbst am besten, aber sie ahnt nicht, wie bald es sie selbst treffen wird, denn 1947, nur wenige Monate nach dem Auftritt in Köln, wird die 25-Jährige in Herford vom Seil in den Tod stürzen.

Ein historisches Foto aus dem neuen Bildband „Köln und der Krieg“ (Greven Verlag), das im „Kölner Stadt-Anzeiger“ zu sehen war, hat die Geschichte wieder in Erinnerung gerufen. „Das war meine Cousine Rosanna“, sagt Johann Traber (64), Chef der berühmten Artistenfamilie Traber. Er führt das Archiv der weit verzweigten Sippe in Breisach bei Stuttgart. Aus den Erzählungen seines Cousins Johann (89), der damals dabei war, kennt er die genauen Umstände der Entstehung des Bildes, der Fotograf selbst ist unbekannt.

„Das machen sonst nur Männer“

„Das Foto zeigt Rosanna beim Kompliment- oder Todeslauf“, sagt Traber. Dabei steigt der Artist unter dem Beifall des Publikums über das Schrägseil zum Mast empor. „Das machen sonst nur Männer. Die einzigen Frauen, die das konnten, waren Rosanna und meine Schwester Sonja“, so Traber. Weil unter dem Schrägseil nie ein Netz gespannt ist, gilt der Schräglauf als besonders gefährlich.

Die Trabers stillten schon bald nach Kriegsende das Bedürfnis der Menschen nach Unterhaltung. In Köln traten sie unter anderem im Severinsviertel auf, wo sie zum Dach des Krankenhauses hinaufstiegen, und auf dem Heumarkt. Hier führte das Schrägseil aus der Richtung von St. Maria im Kapitol zum eigentlichen Horizontalseil, das sich in 28 Meter Höhe spannte.

Schon damals zeigten die Trabers nicht nur Trapez-Akte, sondern auch menschliche Pyramiden und Balance-Akte mit Fahrrad und Motorrad. Während oben die Artisten ihre Kunststücke darboten, sammelten unten „fliegende Kassierer“ Geld beim Publikum ein.

Spektakuläre Auftritte in Köln

„Wir sind immer gern nach Köln gekommen“, erzählt Johann Traber, „wir sind im Tivoli aufgetreten und am Tanzbrunnen.“ Auch diese Shows waren spektakulär. Im Mai 1974 hatten die Hochseilartisten aus dem linksrheinischen Vergnügungspark ein 300 Meter langes Stahlseil bis zu einem Pfeiler der Mülheimer Brücke gespannt. Auf der Trosse fuhr der damals 18-jährige Charly Traber mit einer 250er Honda bis in 80 Meter Höhe hoch, während sein Bruder Johann in einem Gestell unter der Maschine hing.

Höhepunkt war ein dreifacher seitlicher Salto Mortale − das alles ohne Netz hoch über dem Rhein. Als Bezahlung erhielten die Trabers einen Scheck der Herstatt-Bank, die genau in diesem Monat Pleite ging. „Aber als wir da ankamen, haben die gesagt »Das sind doch Artisten, die können wir nicht hängenlassen« und haben den Scheck noch eingelöst“, erinnert sich Johann Traber.

Ein lebensgefährlicher Job

Für ihre artistischen Spitzenleistungen musste die Traber-Familie immer wieder einen hohen Preis zahlen. 1996 stürzte Lutz Schreyer vom Seil in den Tod, als er seinen Cousin Falko Traber bei dessen Weltrekordlauf über ein 645 Meter langes Seil filmte. 2006 verunglückte Trabers Sohn Johann in Hamburg, als ein von innen korrodierter Mast brach. Er wurde so schwer verletzt, dass er seine Artistenlaufbahn abbrechen musste. „Heute geht es ihm wieder besser, er ist verheiratet und hat sein eigenes Leben“, sagt sein Vater.

Aufgeben nach solchen Ereignissen kommt für Vater Johann nicht in Frage. „In unserer Familie ist das eben Tradition. Wir wissen, wie gefährlich der Job ist, und müssen uns jedes Mal neu überwinden. Da brennt immer eine rote Lampe im Kopf. Der Rest ist Training, Teamwork und verlässliches Material.“

„Gute Artisten sterben im Bett“

„Gute Artisten sterben im Bett“, heißt ein geflügeltes Wort aus dem Artisten-Milieu. Für Rosanna hat das nicht gegolten. Sie war für eine Kollegin eingesprungen, als das Hanfseil ihres Trapezes riss und sie auf den Marktplatz in Herford stürzte. Die Artistin, die mit bürgerlichem Namen Margot Bügler hieß, starb wenige Stunden später.

Die Vorstellung wurde trotz des Unfalls zu Ende gebracht und auch am nächsten Tag noch einmal wiederholt. Bevor sie ihre Gerüste abbauten, ließen die Trabers noch einen Gedenkstein in das Pflaster des Marktplatzes ein. Einen Stein ohne Namen − Gedenken nach Artisten-Art.

Viele Rekorde und eine lange Familiengeschichte

Die Tradition der Traber-Familie reicht bis in das 15. Jahrhundert zurück. Die älteste erhaltene Urkunde datiert aus dem Jahr 1512 und erlaubt der Familie das Auftreten und Umherziehen im Elsass. Seit 1799 arbeiten die Mitglieder der Familie Traber als Hochseilartisten.

Bekannt sind heute vor allem die Truppen der Brüder Johann (mit Sitz in Breisach) und Falko Traber (Vogtsburg). 1979 wirkte die Familie in dem James-Bond-Film „Moonraker“ mit.

Zu den Rekorden der Artistenfamilie gehören vor allem Motorradfahrten. So gilt Johann Traber als schnellster Mann auf dem Seil, seit er 1998 mit einer Honda (164 PS) in Freiburg eine Geschwindigkeit von 96 Stundenkilometern auf der Stahltrosse erreichte. Auf einem Seil, das an der Loreley über den Rhein gespannt war, zeigten Vater und Sohn 2003 14 Seitwärts-Salti mit dem Motorrad. Ein Jahr später fuhr Johann Traber mit einem serienmäßigen Smart zum Stuttgarter Fernsehturm bis in 54 Meter n Höhe.

KStA abonnieren