Atradius-Deutschlandchef im Interview„Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Deutschland nehmen zu“

Lesezeit 5 Minuten
Thomas Langen, Deutschlandchef von Atradius.

Thomas Langen, Deutschlandchef von Atradius.

In krisenhaften Zeiten schlägt die Stunde der Versicherer, so auch für den Kölner Kreditversicherer Atradius. Welche Branchen aktuell zu den Sorgenkindern zählen und ab wann es wieder aufwärts geht. 

Herr Langen, Atradius versichert Unternehmen gegen Risiken wie Insolvenz oder Forderungsausfall. In Zeiten von Krieg und Krise müsste bei Ihnen doch die Kasse klingeln, oder?

Langen: Natürlich sind Absicherungen gegen Forderungsausfall gefragter, wenn es wolkig ist oder regnet, als wenn wirtschaftlich die Sonne scheint. Allerdings sind die Risiken dann auch höher. Im Jahr 2023 haben knapp 18.000 deutsche Unternehmen Insolvenz angemeldet, rund ein Fünftel mehr als noch ein Jahr zuvor. Wir sichern unsere Kunden genau für diesen Fall ab. Unser Kerngeschäft ist die Kreditversicherung, mit der wir Unternehmen gegen verspätete oder ausgefallene Zahlungen versichern. Wenn sechs Monate nach Rechnungsstellung noch nicht bezahlt wurde, entschädigen wir unsere Kunden. Daneben bieten wir Bürgschaften, Inkasso, Special Products und Deckungskonzepte für multinationale Konzerne an.

Wie oft bleiben Unternehmen denn auf offenen Forderungen sitzen?

Die Forderungsausfälle bewegen sich derzeit noch in einem akzeptablen Rahmen. Aber im Vergleich zu den Jahren zuvor sehen wir durchaus mehr Unternehmen, die in Schwierigkeiten geraten oder sogar insolvent werden. In der Vergangenheit waren Forderungsausfälle häufig ein Thema im Ausland, deutsche Unternehmen hatten zumeist eine gute Zahlungsmoral. Doch das ist nicht mehr so wie früher. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Deutschland nehmen zu. Wir gehen davon aus, dass es in diesem Jahr rund 20.000 Unternehmensinsolvenzen geben könnte, also ein weiterer Anstieg von zehn Prozent gegenüber 2023.

Was wir dabei sehen, ist eine verspätete Marktbereinigung als Effekt der Coronajahre: Der Staat hat vielen Unternehmen finanziell über diese Ausnahmezeit hinweggeholfen, auch solchen, denen man eigentlich nicht mehr helfen konnte, weil das Geschäftsmodell nicht mehr tragbar war. Nun sind die Hilfen ausgelaufen und die Unternehmen mussten die Unterstützung zurückzahlen. Dadurch sind einige in Schieflage geraten. Negativ wirken sich auch die hohen Zinsen, die Folgen der Inflation der Vorjahre, die Konsumzurückhaltung und die allgemeine wirtschaftliche Schwäche aus.


Aus dem Gerling-Konzern hervorgegangen

Die historischen Wurzeln des Deutschlandgeschäfts von Atradius liegen in Köln. Hier hat der Warenkreditversicherer vor 70 Jahren als Gerling-Konzern Speziale Kreditversicherungs-AG (GKS) angefangen. Im Jahr 2001 schloss sich die GKS mit dem niederländischen Kreditversicherer NCM zusammen und wurde so zum zweitgrößten Kreditversicherer weltweit. 2004 trennte sich das Unternehmen vom Gerlingkonzern und wurde in Atradius umbenannt – ein Kunstwort aus „Trade“ (Handel) und Radius. 2008 schloss sich Atradius mit einem spanischen Kreditversicherer zusammen, gleichzeitig wurde d spanische Versicherung Grupo Catalana Occidente größte Aktionärin. Köln ist nach wie vor der deutsche Hauptsitz, 450 von 520 Mitarbeitern in Deutschland arbeiten am Deutzer Standort. Von hier aus betreut Atradius elf Märkte in Zentral- und Osteuropa. Atradius hat im Jahr 2023 rund 2,3 Milliarden Euro mit Versicherungsprämien erlöst. Das Jahresergebnis lag bei 372 Millionen Euro.   


Wie kalkulieren Sie Risiken? In Zeiten von politischer Unsicherheit, Pandemie, Krieg und wirtschaftlichen Verwerfungen ist das sicherlich nicht ganz leicht.

Bei Atradius gibt es eine eigene Kreditprüfung, die die Risiken recherchiert und gewichtet. Sie sammelt Informationen über Unternehmen, Branchen, Geschäftsaktivitäten sowie über den Markt allgemein und schaut sich dabei auch jeden Kunden unseres Kunden einzeln an. Bei international tätigen Firmen bewerten wir zudem jedes Land, in dem unser Kunde Geschäfte macht. Je risikoreicher die Branche, das Unternehmen und die Gesamtbedingungen sind, desto wichtiger ist eine Absicherung gegen Forderungsausfallrisiken. Dafür kalkulieren wir im Schnitt mit einer Prämie von unter einem Prozent der versicherten Umsätze. Diese Prämie ist für die Laufzeit des Vertrages festgeschrieben. Als Atradius Kreditversicherung legen wir besonderen Wert auf langjährige Zusammenarbeit und haben daher eine hohe Kundenbindungsquote. Dadurch lernen wir unsere Kunden immer besser kennen und können deren Risiken genauer abschätzen. Das gibt beiden Seiten auch Planungssicherheit.

Welche Branchen sind denn aktuell risikoreich?

Der Bereich Automotive ist aktuell schwierig, da der technische Wandel zur E-Mobilität ins Stocken geraten ist. Die Automobilzulieferer haben viel investiert, die Kunden kaufen aber eher verhalten, nicht zuletzt wegen des Wegfalls der staatlichen Förderprämien. Auch die Wohnungsbaubranche schwächelt aufgrund der hohen Bauzinsen, die Zahl der Bauanträge ist stark zurückgegangen, ebenso die Nachfrage. Im Maschinenbau haben viele Unternehmen Investitionen zurückgestellt aufgrund mangelnder positiver Impulse der Wirtschaftspolitik. Daneben schwächelt auch der Export. Die Textilwirtschaft steckt in der Krise – und das schon seit vielen Jahren. Als ich bei Atradius vor 36 Jahren angefangen habe, gab es noch vollstufige Textilbetriebe in Deutschland. Diese gibt es heute faktisch gar nicht mehr. Auch der Textileinzelhandel hatte schon immer seine Aufs und Abs, aber gerade in der letzten Zeit haben wir eine ganze Reihe von Modeinsolvenzen durch Konsumzurückhaltung und generelle Probleme des stationären Einzelhandels gesehen.


Deutschlandchef Langen ist Kölner durch und durch

Thomas Langen, geboren 1960, ist promovierter Jurist, verheiratet, hat vier Kinder und verantwortet bei der Atradius Kreditversicherung seit 2002 das Kreditversicherungsgeschäft in Deutschland, Mittel- und Osteuropa. Von 1988 bis 2002 war er im Risikomanagement von Atradius tätig. Seit 2015 ist er zudem Sprecher der Kommission Kreditversicherung und Mitglied im Präsidialausschuss Risikoschutz für Gesellschaft und Wirtschaft im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. Thomas Langen ist in Köln-Lindenthal geboren, in Ehrenfeld aufgewachsen und hat an der Universität Köln Jura studiert. Seit nunmehr 30 Jahren wohnt er mit seiner Familie in Siegburg.


Welchen Branchen geht es gut?

Der Lebensmittelbereich läuft insgesamt gut, auch IT und Finanzierung. Im Blick nach vorne erwarten wir aktuell auch in den noch schwächelnden Branchen – außer der Textilbranche – eine Erholung. Diese dürften sich ab dem zweiten Halbjahr 2024 langsam erholen und spätestens 2025 wieder positive Impulse setzen.

KStA abonnieren