Warum Fehlanreize dafür sorgen, dass die Zahlen steigen und die Inklusion in Köln stagniert.
Neuer HöchststandKnapp jedes zehnte Kind an Kölner Schulen hat sonderpädagogischen Förderbedarf
Die Zahl der Kölner Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist im vergangenen Schuljahr auf einen neuen Höchststand gestiegen. Derzeit lernen 8800 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 1 bis 10 entweder als Inklusionskinder im Gemeinsamen Lernen an Regelschulen oder an Kölner Förderschulen. Das ist eine Steigerung um nochmal 405 Kinder gegenüber dem Höchststand vom Vorjahr. Damit wird neun Prozent aller Kölner Kinder in der Primar- bis Mittelstufe sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert und damit eine Lernbehinderung. Diese Quote blieb im Vergleich zum Vorjahr konstant, da auch die Schülerzahlen insgesamt stiegen.
Dabei ist der Anstieg über einen längeren Zeitraum betrachtet signifikant: In den letzten neun Jahren wuchs die Zahl der Förderschüler um knapp 60 Prozent. Damit liegt Köln im landesweiten Trend: In Nordrhein-Westfalen stieg der Anteil der Förderschüler im vergangenen Jahr um 3,3 Prozent auf insgesamt 152.630 an. Seit zehn Jahren wächst NRW-weit die Zahl kontinuierlich. Köln liegt allerdings mit neun Prozent Kindern mit Förderbedarf deutlich über dem Landesschnitt, der bei 7,8 Prozent liegt.
Über 40 Prozent der Kinder werden nicht inklusiv beschult
Betrachtet man die Beeinträchtigungen der Kinder, so entfällt der Zuwachs vor allem auf Kinder mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und geistige Entwicklung. Sie machen fast 75 Prozent aller Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf aus. Damit hat sich die Förderquote bei emotionaler und sozialer Entwicklung, Sprache und geistiger Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt.
Dabei werden über 40 Prozent der Kölner Förderschüler nicht inklusiv beschult: 3739 Kinder besuchen eine Förderschule, 5.011 werden an einer Regelschule im Gemeinsamen Lernen unterrichtet. Das entspricht einer konstanten Inklusionsquote von 5,1 Prozent.
An den Gesamtschulen haben elf Prozent der Schüler sonderpädagogischen Förderbedarf
Die Zahl der Kölner Schulen, die Gemeinsames Lernen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen anbieten, steigt kontinuierlich. Neben allen Haupt-, Real- und Gesamtschulen gibt es derzeit an fünf Gymnasien Gemeinsames Lernen. Zum neuen Schuljahr wird noch das neu an den Start gehende Deutzer Gymnasium Brügelmannstraße hinzukommen. Von den Kölner Grundschulen bieten 56 Prozent Gemeinsames Lernen an.
Die Arbeit der Inklusion ist allerdings an den weiterführenden Schulen auf die Schulformen sehr unterschiedlich verteilt: Rund die Hälfte der förderbedürftigen Kinder und Jugendlichen lernen an Gesamtschulen, gefolgt von den Hauptschulen, an denen knapp 20 Prozent der Förderschüler lernen. Damit ist die Herausforderung für diese Schulformen am größten: Denn bezogen auf die Gesamtzahl aller Kölner Schülerinnen und Schüler haben elf Prozent an den Gesamtschulen sonderpädagogischen Förderbedarf, an den Kölner Hauptschulen sind es 13,7 Prozent.
Die wachsende Zahl an Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf stellt die Stadt angesichts des Schulplatzmangels vor große Herausforderungen: Einerseits gibt es gerade für Familien, die für ihr Kind einen Inklusionsplatz an einer Gesamtschule wünschen, viel zu wenig wohnortnahe Plätze im Gemeinsamen Lernen. Andererseits platzen auch die Förderschulen aus allen Nähten. Da es eine deutliche Zunahme an Lernenden mit geistigen Beeinträchtigungen gibt, sind die derzeit vier Förderschulen, die diesen Förderschwerpunkt anbieten, vollkommen ausgelastet.
Als eine Ursache für den stetig wachsenden Anteil an Förderschülern wird die wachsende Zahl von Kindern gesehen, die in sozial benachteiligten Verhältnissen aufwachsen und keine Kita besuchen. Eine weitere Ursache dafür, dass Schulen immer mehr Kindern Förderbedarf attestieren, sieht die Stadt im sogenannten „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“ (RED) und damit in einem falschen Anreizsystem: Wenn Schulen mehr diagnostizierte Schüler mit Förderbedarf melden, erhalten sie nämlich auch mehr Personal für ihre Schule, um die Kinder zu fördern. In der akuten Personalmangel-Lage, gerade an den Grundschulen, kann die Ressource über das Ausmaß der festgestellten Förderbedarfe erhöht werden.
Wissenschaftler fordern Reform des Verfahrens
Das Gutachten eines Wissenschaftskonsortiums, das die NRW-Landesregierung dazu in Auftrag gegeben hatte, hat das Etikettierungsdilemma in diesem Jahr bestätigt. Nach Ansicht der Experten muss das Verfahren dringend grundlegend reformiert werden. In der jetzigen Form fördere es „systemisch Exklusion und Etikettierung statt Chancengerechtigkeit“, so das Ergebnis der Wissenschaftler. Derzeit würden nicht nur nahezu alle Gutachten, die die Lehrkräfte erstellen, durch die entsprechende Schulaufsicht positiv beschieden. Es fehlten auch genaue und einheitliche Verfahrensvorgaben.
Sie forderten einheitliche Verfahrensabläufe und wissenschaftlich geprüfte Test- und Diagnosematerialien. Durch mehr Standardisierung sollten künftig die Interpretationsspielräume von Lehrkräften reduziert werden. Außerdem müsse nach Ansicht der Wissenschaftler der Fokus mehr auf Prävention gelegt werden statt auf Etikettierung. Individuelle Förderung durch eine verlässliche Diagnostik und Förderpläne dürfe nicht mehr an einen bestimmten Status gekoppelt sein. Schulministerin Dorothee Feller (CDU) prüft derzeit, welche Maßnahmen aus dem Gutachten wie umgesetzt werden können.