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Autor Thomas BraschDie Neigung zum Exzess

Lesezeit 6 Minuten
Thomas Brasch, Grab, Dorotheenstädtischer Friedhof, Chausseestraße, Mitte, Berlin, Deutschland *** Thomas Brasch, Grave, Dorotheenstädtischer Friedhof, Chausseestraße, Mitte, Berlin, Germany

Das Grab von Thomas Brasch auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin

Der früh verstorbenen Thomas Brasch wäre dieser Tage 80 geworden. Jetzt erscheint seine gesammelte Prosa. 

Die „zehn Gebote“ des 15-jährigen Thomas Brasch haben nichts mit dem biblischen Dekalog zu tun. „Du mußt dir einbilden können, alles zu sein“, lautet bei ihm das bescheidene fünfte Gebot. „Du darfst dich nie allein zu Haus' betrinken“ das sechste. Dann das achte: „Du mußt gegen den Wind laufen können, bis du nicht mehr atmen kannst.“

Merkwürdiger Fall: In diesem Text, mit dem in einem neuen Suhrkamp-Band die Sektion der unveröffentlichten fiktionalen Prosa aus dem Nachlass beginnt, ist der 2001 mit nur 56 Jahren verstorbene Autor, Regisseur, Übersetzer und Filmemacher, schon „voll da“, um es einmal salopp zu sagen: der narzisstische Selbstentwurf, die Neigung zum Exzess, vor allem aber – in der Metapher des Laufes gegen den Wind – die habituelle Weigerung, irgendwo dazuzugehören, das leidenschaftliche Nein-Sagen zu den Zumutungen irgendeiner kollektiven Identität. So eine Weigerung macht fremd in der Welt – und „ein Fremdling überall“, wie es in Schuberts Lied „Der Wanderer“ heißt, ist Brasch tatsächlich gewesen.

Thomas Braschs Eigenarten waren schon mit 15 ausgeprägt

Nachdem 2013 ebenfalls bei Suhrkamp seine „Gesammelten Gedichte“ erschienen sind, folgt nun der knapp 900 Seiten starke Band „Gesammelte Prosa“, der sich aus vier Abteilungen zusammenfügt: zu Lebzeiten gedruckte fiktionale und essayistische sowie fiktionale und essayistische Texte aus dem Nachlass. Herausgegeben und mit ausführlichen Anmerkungen versehen wurde das Ganze von Martina Hanf, der Betreuerin des im Archiv der Berliner Akademie der Künste liegenden Nachlasses, die bereits an der Lyrikedition beteiligt war, den Abschluss ihrer neuerlichen peniblen Brasch-Bemühung allerdings nur kurz überlebte – sie verstarb 2024 71-jährig. Ein Namensregister fehlt leider, für den Leser wäre es hilfreich gewesen – allein, um auf Braschs Freund- und Feindschaften schneller zugreifen zu können.

Brasch, der Fremdling überall. Man kann sich die Szene im Internet anschauen: Da hat er im Januar 1982 in München für sein Regiedebüt („Engel aus Eisen“) soeben den immerhin mit 50 000 Mark dotierten Bayerischen Filmpreis erhalten. Und was tut der Geehrte, abweisend aufs Podium steigend? Er beißt die Hand, die ihn füttert, bedankt sich nicht etwa bei der Münchner Staatsregierung, sondern bei der DDR-Filmhochschule. Für seine Ausbildung. Der Saal zischt und buht, der anwesende Ministerpräsident – Franz Josef Strauß sein Name – fängt sich freilich schnell und feiert mit Haifischgrinsen die „liberalitas bavaria“, die sich gerade angesichts eines solchen Affronts bewähre.

Den Muster-Dissidenten wollte Thomas Brasch nicht geben

Tatsächlich: Wer im Westen geglaubt hatte, den 1976 nach dem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung mit seiner damaligen Partnerin Katharina Thalbach aus der DDR in die Bundesrepublik Gewechselten als antikommunistischen Muster-Dissidenten vereinnahmen zu können, wurde rasch enttäuscht. Brasch gab – man kann das in dem neuen Prosa-Buch alles nachlesen – das Rumpelstilzchen, opponierte mit Grass, Sarah Kirsch und Peter Schneider gegen den Nato-Nachrüstungsbeschluss, nahm die in der DDR gebliebene Christa Wolf gegen die politische Anfeindung Marcel Reich-Ranickis in Schutz, zerquälte sich anlässlich ihres Todes dialektisch über der Bolschewistin Anna Seghers, die dem SED-Regime eisern die Treue gehalten hatte, beseelt von einer utopischen Hoffnung, die auch Brasch gegen alle Enttäuschungen nicht loslassen wollte.

Brasch wurde nicht „Bürger der BRD“, sondern ließ sich nach seiner Übersiedlung nach West-Berlin einen britischen Pass ausstellen. In Großbritannien war er schließlich als Sohn jüdisch-kommunistischer Nazi-Flüchtlinge zur Welt gekommen – der Vater wurde später stellvertretender DDR-Kulturminister.

Der deutsche Schriftsteller und Regisseur Thomas Brasch, aufgenommen am 13. Februar 1992 in Berlin.

Thomas Brasch, aufgenommen am 13. Februar 1992 in Berlin

Der Essay-Teil des Buches zeigt, dass Brasch an basalen marxistischen Überzeugungen festhielt – DDR und Bundesrepublik wurden unter diesem Blick zu komplementären Versionen eines Abzulehnenden. Das mochte eine Selbstinszenierung sein, geboren aus schier neurotischer Angst vor parteilich-parteiischer Vereinnahmung. Manches wirkt wie pure Provokation – deren Inhalt ernst zu nehmen auch in der Rückschau zum Teil schwerfällt. Tatsächlich aber wird in all dieser Aufsässigkeit, dieser Generalattacke auf konformistisches Denken und Fühlen die wilde, anarchische, romantische Sehnsucht eben des Fremdlings erkenn- und erlebbar. Sucht man nach einem Parallelfall, fällt einem am ehesten der Kölner Autor Rolf Dieter Brinkmann ein.

Typisch für Braschs Textproduktion: Der Prosa-Nachlass ist quantitativ genauso umfangreich wie die veröffentlichte Prosa. Der Autor scheint fieberhaft und verbissen gearbeitet – und genauso rasch aufgegeben und liegengelassen zu haben. Der riesige „Mädchenmörder Brunke“-Archipel, an dem Brasch ein Jahrzehnt lang arbeitete, ohne ihn zum Abschluss zu bringen – nur eine Rumpfversion daraus wurde veröffentlicht – konnte keine Aufnahme in diese „Gesammelte Prosa“ finden, er umfasst mehr als 15 000 Blatt.

Sucht man nach einem Parallelfall, fällt einem der Kölner Autor Rolf Dieter Brinkmann ein

Das Buch beginnt mit dem schmalen Band „Vor den Vätern sterben die Söhne“, der – als erste Veröffentlichung im Westen (im Rotbuch-Verlag) – Brasch gleich nach seiner Übersiedlung bekannt machte und ihn schlagartig als „neue Stimme“ zeitgenössischer Erzählkunst im Literaturbetrieb etablierte. Man kann das anlässlich der Wiederlektüre nachvollziehen. Da geht es um das nicht lebbare Leben in der DDR, um Maßregelung im Betrieb, um Fluchtimpulse, um Auseinandersetzungen mit Systemtreuen und Stasi.

Das alles, prinzipiell autobiografisch grundiert, wird aber auch verfremdet, allegorisch und kafkaesk überhöht. „Marxengels“ geistert als imaginärer Gesprächspartner durch die Bewusstseins- und Traumwelten der Betroffenen. Das Buch ist als eine Folge von Erzählungen angelegt, deren Figuren aber jeweils wiederkehren – so formt sich ein übergreifender Zusammenhang. Die Genre-Unsicherheit – Erzählung oder Roman? – ist intendiert, kein Leser soll sich hier in Schablonen zu Hause fühlen.

Braschs Prosa lässt sich in ihrer proteushaften Vielgestalt so oder so nicht auf einen Begriff bringen und hat doch ihren unverwechselbaren Sound. Diesbezüglich sind auch anhand der Nachlass-Texte Entdeckungen zu machen. Die Erzählung „Fahne am Haus“ von 1963 etwa bringt eine Grundfigur des Lebens in eine überaus lapidar-einprägsame Bildlichkeit: „Er“ muss Fahnen aufhängen – mutmaßlich im Vorfeld einer offiziös-staatstragenden Feier – und wird dabei von einem Mädchen in blauem Mantel auf der Straße abgelenkt, das ihm, anders als seine Fahnen, zum utopisch-erotischen Vorschein wird.

Braschs Prosa ist explosiv, fiebrig, sie verweilt nicht, beschreibt nicht – der Autor ist ein erklärter Feind des Adjektivs. Alles treibt voran, hin zur szenischen und dialogischen Spitze. Das erinnert irgendwie an Kleist, und tatsächlich erscheint auch Brasch in seinen Erzählungen als verkappter Dramatiker. Eine Gesamtausgabe des Bühnen-Oeuvres steht noch aus – sie, ergänzt um eine Veröffentlichung der Drehbücher, würde wahrscheinlich die faszinierende Einheit des auf Anhieb so heterogenen Gesamtwerks sichtbar.


Thomas Brasch: „Du mußt gegen den Wind laufen. Gesammelte Prosa“, hrsg. Von Martina Hanf, Suhrkamp, 885 Seiten, 42 Euro

„Lieber Thomas“, ein Spielfilm zum 80. Geburtstag von Thomas Brasch ist am 16. Februar im Ersten zu sehen (00.05 Uhr), ab 14.2. in der ARD-Mediathek