Die Hamburger Elektro-Helden feiern in Köln die Bier-Party als subversiven Akt. Vielleicht zum letzten Mal.
Konzert in der Lanxess-ArenaDeichkind fahren im Riesenfass durch die Menge
In der äußersten Bühnenecke hat ein Nomade sein Zelt aufgeschlagen, sein Gesicht hat er hinter blickdichten Brillengläsern und unter einer gelben Kapuze verborgen. Aus den Lautsprechern über ihm pulst ein zickig insistierender Industrial-Beat. Dann beginnt er zu reden. Oder zu rappen. Zu uns oder mit sich selbst, das ist ebenso schwer zu entscheiden, wie die Frage, ob der Anorakträger ein ganz gewöhnlicher Obdachloser oder ein Botschafter aus einer postapokalyptischen Zukunft ist.
Der Wortschwall, der sich über die Kölner Arena ergießt, entpuppt sich als große Wutrede, als aufzählende Abrechnung mit der eigenen Generation. „Kids in meinem Alter finden Wissen arrogant/Gefährliches Halb-Googeln“, schimpft Kryptik Joe. „Kids in meinem Alter gucken nach atemberaubenden Gartenlauben/Kids in meinem Alter haben in eurem Alter eine Wohnung für 500 Euro bekommen.“
Philipp Grütering alias Kryptik Joe berichtet „Neues vom Dauerzustand“
Philipp Grütering, der sein Wortkunst-Alter-Ego Kryptik Joe nennt, ist das einzig verbliebene Original-Mitglied von Deichkind, jener Hamburger Hip-Hop-Crew, die ein klein wenig zu spät kam für den ersten großen Deutsch-Rap-Schub. Der Grütering aber dann ein radikales Update verpasste: Eine Optik aus Müllsack-Outfits und Tetraeder-Hüten, ein Elektro-Sound, der wie ein vertonter Druckbetankungs-Appell klang. Und Texte, die Ballermann-Schlager und Hugo Ball, den dadaistischen Lautgedicht-Pionier, zur treffend-möglichsten Zeitkritik verbanden.
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Jetzt ist Grütering 50, verheiratet, hat drei Kinder und bereits angedeutet, sich mit der „Kids in meinem Alter“-Tour aus den großen Hallen verabschieden zu wollen. Wie lange kann man gegen die Verhältnisse antanzen, wenn sie anschließend doch nur wieder in dieselbe Starre zurückfallen? „Neues vom Dauerzustand“ heißt das aktuelle Deichkind-Album. Nicht dass irgendjemand in der Lanxess-Arena das Konzept für auserzählt hält, im Innenraum bilden sich immer wieder Moshpits wie Brown'sche Molekularbewegungen. „Aber bitte ohne sexistische Scheiße“, mahnt die Band.
Und als die drei Rapper – Grütering, Sebastian „Porky“ Dürre und seit 2019 Roger Rekless – schließlich in einem riesigen, wie von Jackson Pollock besprenkelten Fass durch die Menge gefahren werden, wie ein Persiflage-Wagen auf unruhiger See, ist das Hallo noch dreimal so groß. Zwei Deichkinder wippen im Kessel Buntes, das Dritte reitet fassoben und schwenkt eine weiße Fahne. Darauf ist zu entziffern: „Teilen hier alle Anwesenden die Meinung, dass ‚Könnt ihr noch?‘ im aktuellen Zustand der Welt eine gute Frage ist?“
Womit die Band einmal mehr eine fröhliche Eskalations-Aufforderung mit gesellschaftlicher Diagnostik verbunden hätte. Das ist schon eine große Kunst. Allein „Bück dich hoch“ und „Arbeit nervt“, diese beiden Großangriffe auf das Leistungsprinzip: Zu Ersterem wippen und rollen Band und Tänzer, oft weiß man nicht, wer hier wer ist, in Drehstühlen zum Büro-Ballett über die Bühne – die Rückenlehnen buchstabieren in korrekter Formation: „Fuck AfD“. Letzterer ist eine Kraftwerk-artige Choreografie für fünf Pyramidenhut-Träger und einen Roboterarm, unterbrochen von der heraus geschmetterten Klage eines Geringverdieners: „Mein Konto gibt kein‘ Cent mehr her/Mein Kühlschrank ist komplett entleert“, zur Melodie von Styx‘ „Mr. Roboto“.
Die Zitate von der kulturellen Resterampe, die patentierten fahrbaren Mini-Bühnen, die Wortwitze („Niveau, weshalb, warum“), alles hält hier die Balance zwischen Stumpfsinn und Geniestreich. Wie zum Beispiel „Leider geil“, die längst sprichwörtlich gewordene Hymne an Willensschwäche und Herdentrieb: „Schlecht für den Nachwuchs, schlecht für die Nordsee, schlecht für den Kopf – doch leider geil/ Schlecht für dein Karma, schlecht für die Zukunft, schlecht für den Job – doch leider geil.“ Und wer das Ende der Debattenkultur beklagt, muss nur mal drei Minuten lang zu „Wer sagt denn das?“ den Kopf nicken, um das Problem zu erfassen: „Alexa und Siri, die Cloud und dein Boss/Die stille Post und die Stimmen in deinem Kopf/Der Guru, die Trainer, der TÜV und der Mob/Der hat’s von Tinder und die haben’s von Gott.“
Dass diese Legitimationskrise irgendwann auch Deichkind selbst erfasst, war von vorneherein klar. Die neueren Songs arbeiten sich an immer naheliegenderen Zielen ab, naturferne Großstadtbewohner („vielleicht als Doku ganz okay“), Kommentarspalten-Irre („Ich lass' mir nicht vom Spiegel sagen, dass wir Viren haben“) oder die oberen ein Prozent („Blick' auf die Rolex, Zeit für eine Breitling“). Wobei es schon eine Schau ist, wenn Kryptik Joe zu „Auch im Bentley wird geweint“ auf einem zum Chanel-Täschchen umgestalteten elektrischen Bullen reitet.
Henning Besser alias La Perla, das vierte Deichkind-Mitglied, zuständig für die optische Umsetzung der Songs, hat zum aktuellen Album die Hedonismus-als-Subversion-Strategie der Band bereits infrage gestellt. Wie auch nicht, wenn die Dokumentation hedonistischen Erlebens längst zum Leistungssport geworden ist. Aber muss es deshalb in der Selbstgenügsamkeit der Satire enden?
Dann doch lieber die lustig neu arrangierten Klassiker aus der Hip-Hop-Zeit (zu „Komm schon!“ erklingt etwa der „Sunshine Reggae“) und als Zugabe das unvermeidliche „Remmidemmi“. Auf dem Meer erhobener Hände wogt eine Rettungsinsel, Federn fallen auf die Feiernden und auf der Bühne tanzen noch einmal die von Luxusleben und Absturzängsten deformierten Charaktere aus den gerade erlebten Bühnennummern, jetzt unterstützt von einer Hüpfburg und einem überdimensionierten Kothaufen-Emoji.