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Chorleiterin in JVA Düsseldorf<br>Singen fühlt sich nach „fairer Behandlung im Gefängnis an“

Lesezeit 6 Minuten
Lioba Lichtschlag ist vor bunten Glasfenstern eines Andachtsraums zu sehen.

Gibt den Ton im Männerchor an: Lioba Lichtschlag engagiert sich seit 40 Jahren in einem Gefängnis in Düsseldorf ehrenamtlich.

Lioba Lichtschlag ist seit 40 Jahren Ehrenamtlerin in einem Gefängnis – dort leitet sie den Männerchor. Ein Ortsbesuch

Ein kurzer, strenger Blick über den Rand ihrer Brille – und sofort hört das Gequatsche auf. Die Männer konzentrieren sich wieder auf die Noten und Texte in ihren Liederbüchern. Es ist Samstag, der Gefängnischor der Justizvollzugsanstalt (JVA) Düsseldorf probt für den Gottesdienst am Sonntag. Angeleitet wird er von Lioba Lichtschlag. Sie ist 81 Jahre alt, eine zierliche Frau mit weißem Haar, resolut auf sanfte Art. Die Häftlinge, von denen einige sie mit Umarmung begrüßt haben, nennen sie „Mutter“.

Kürzlich ehrte NRW-Justizminister Benjamin Limbach im Rahmen der Eröffnung einer Fotoausstellung Menschen, die sich ehrenamtlich im Justizvollzug engagieren. Menschen wie Lioba Lichtschlag. Nordrhein-Westfalen verfügt in 36 Justizvollzugsanstalten und fünf Jugendarrestanstalten über mehr als 18.000 Haftplätze und damit den größten Justizvollzug Deutschlands. In den Einrichtungen arbeiten knapp 10.000 Bedienstete, diese werden durch rund 1.800 Bürgerinnen und Bürger im Ehrenamt unterstützt.

„Sie treten als wertvolle Brückenbauer zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten innerhalb und außerhalb des Vollzuges auf“, sagte Justizminister Limbach: „Den Gefangenen wird durch Sie vor Augen geführt, dass die Welt draußen sie nicht vergessen hat.“

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Für eine Schachgruppe wird jemand aktuell gesucht

Sie schicken zum Beispiel Briefe an Häftlinge oder besuchen sie, hören zu, begleiten, bieten Musik-, Koch-, Spiele-, Sport- oder Vater-Kind-Gruppen an, helfen beim Schreiben an Ämter oder der Suche nach Wohnung und Arbeitsplatz für die Zeit nach der Entlassung. In der JVA Düsseldorf wird aktuell beispielsweise jemand gesucht, der eine Schachgruppe anbieten könnte. Vor allem aus Osteuropa stammende Häftlinge zeigen daran großes Interesse.

Lioba Lichtschlag kommt seit 40 Jahren ins Düsseldorfer Gefängnis. Bis 2012 war es die „Ulmer Höh“ in Düsseldorf-Derendorf, heute liegt der moderne Neubau mit gut 800 Plätzen in Ratingen. Am dritten Adventssonntag 1984 begleitete Lichtschlag zum ersten Mal einen Gottesdienst im Gefängnis, und ihre Augen funkeln, wenn sie an den kommenden dritten Adventssonntag denkt. Sie weiß, dass man sie ehren wird. Große Planungen sind im Gange. Was genau passieren und wer anwesend sein wird an diesem besonderen Tag, weiß Lioba Lichtschlag nicht – aber sie freut sich drauf.

Sicherheitscheck zur Teilnahme am Chor

In der JVA Düsseldorf gibt es einen großen Saal, den „Begegnungsraum“. Ein Bereich ist als christliche Kapelle eingerichtet. In der Ecke ein geschnitzter Jesus am Holzkreuz, neben dem Pult steht eine geschnitzte Maria mit Kind, große Kerzen sind einsatzbereit. Aber an diesem Samstagnachmittag fällt viel Sonnenlicht durch die schmalen, hohen Fenster. Auf einer Seite des Raumes sind die Scheiben von sechs Fenstern aus buntem Glas zu sehen. Nach Zeichnungen eines Inhaftierten wird hier die Schöpfung dargestellt: Vom ersten Tag, an dem Gott das Licht herbeirief, bis zum sechsten Tag, als Landtiere und Menschen erschaffen wurden. Ein siebtes Fenster für den Tag der Ruhe gibt es nicht in der Gefängniskirche, dafür steht sie selbst mit ihren sonntäglichen Gottesdiensten.

Probe Lioba Lichtschlag - Reportage Gefängnischor von Susanne Rohlfing

Wer am Chor teilnehmen möchte, muss sich das von der Gefängnisleitung genehmigen lassen.

Vom Gefängniseingang bis in den Begegnungsraum im Herzen der Anlage ist ein knapp zehnminütiger Marsch nötig. Es geht durch lange Gänge, unter- und oberirdisch. Lichtschlag hat ein dickes Schlüsselbund um den Hals hängen. Einer der Schlüssel, ein mächtiges Exemplar mit markantem Bart, nennt sich „Durchgänger“. Damit kann sie die vielen Zwischentüren auf dem Weg zur Kapelle öffnen. „Aber keine Zellentüren“, betont sie.

Ihr Handy gibt Lichtschlag an der Pforte ab

Ihr Handy musste Lichtschlag wie alle anderen Besucher oder Bediensteten an der Pforte abgeben. Dafür hat sie jetzt ein internes Handtelefon dabei, über das sie Beginn, Pause und Ende ihrer Chorprobe beim Wachpersonal ankündigt. Auch wenn es wirkt, als sei sie allein mit den Häftlingen – das ist sie nie. Wo sich die Kameras verstecken, wird allerdings nicht verraten.

Hatte sie jemals Angst? Oder gab es unangenehme Situationen mit den Häftlingen? „Nein, nie!“, sagt Lichtschlag. Die Männer sind ihr gegenüber sehr respektvoll. Sie geht freundlich mit ihnen um, zugewandt, aber auch mit professioneller Distanz. Sie fragt sie niemals aus, ergründet nicht, warum sie im Gefängnis sind, hört aber zu, wenn einer von ihnen darüber sprechen möchte.

Lichtschlag: „Diese Gruppe kennt sich jetzt schon sehr lange, da fällt einiges an Gehabe weg“

Zu Beginn, wenn die Häftlinge aus ihren Zellen in die Kapelle kommen, herrscht erst einmal Chaos. Es wird geredet, gelacht, sich positioniert. „Diese Gruppe kennt sich jetzt schon sehr lange, da fällt einiges an Gehabe weg“, sagt Lichtschlag. Die Rollen sind verteilt: Es gibt die Stillen, die viel beobachten und wenig sagen. Und es gibt jene, die sich zeigen, die den Ton angeben wollen. Lioba Lichtschlag hat die Gruppe im Griff und führt mit ihrer klaren, hohen Stimmlage zwischen all den Klängen aus Männerkehlen souverän durch die Probe.

Zwölf von 16 Chormitgliedern sind an diesem Tag dabei. Einfach mal vorbeikommen, das geht im Gefängnis nicht. Wer Interesse am Chor hat, muss sich die Teilnahme von der Gefängnisleitung genehmigen lassen. Nur nach persönlichem Sicherheits- und Persönlichkeits-Check ist das möglich.

Ordner mit beschrifteten Rücken sind zu sehen, darin viele Blätter und Schutzhüllen.

Lioba Lichtschlags Notensammlung -

Christian nimmt seit gut zwanzig Jahren teil. Zwischendurch trifft Lioba Lichtschlag ihn auch mal draußen. Aber er bleibt nie lange in Freiheit, Drogenkriminalität bringt ihn immer wieder zurück ins Gefängnis. Bei der Chorprobe spielen er und ein Mitinsasse Gitarre. „Mit Frau Lichtschlag über die Musik zu kommunizieren, das bedeutet mir viel“, sagt er. Und: „Es ist schön, dass sich jemand so einsetzt für uns hier drinnen.“

„Amazing Grace“ zum Abschuss der Probe

Ein junger Mann, einer der Stillen, singt seit zwei Jahren im Gefängnischor mit. Es sei seine erste Hafterfahrung, sagt er. Seinen Namen möchte er nicht nennen. Als Schüler habe er schon einem Chor angehört, jetzt genieße er „das gemeinschaftliche Singen“, es fühle sich für ihn nach „fairer Behandlung im Gefängnis an“. Er sei Lioba Lichtschlag „mehr als dankbar“, sie sei „eine inspirierende Person“.

Antonio, einer der Tonangeber, hat sich zum Abschluss der Probe das Lied „Amazing Grace“ gewünscht. Er sagt: „Wir singen, wir lachen und wir respektieren Lioba Lichtschlag.“

Lioba Lichtschlag 
steht vor dem Regal mit den Chornoten.

„Die Häftlinge werden von mir gesehen“, sagt Lichtschlag.

Ihr Geld hat Lichtschlag als Lehrerin an einer Hauptschule verdient. Sie unterrichtete auch Musik, musizierte und sang aber vor allem viel in der Familie. 1984 entdeckte sie ein Kursangebot des ASG-Bildungsforums, einem vom Erzbistum Köln und der Stadt Düsseldorf beauftragten Bildungsträger.

„Der Gefangene, unser Mitbürger“ habe der Kurs geheißen, erzählt Lichtschlag. Sie meldete sich an und war ganz überrascht, als sie im Anschluss gefragt wurde, wie sie sich denn engagieren wolle. Damit hatte sie nicht gerechnet. Aber sie ließ sich nicht lange bitten und half zunächst bei den Gottesdiensten – bis sie schließlich den Gefängnischor übernahm.

Warum sie seit nun 40 Jahren dabeigeblieben ist? „Ich bin dazu berufen worden“, sagt Lichtschlag: „Das hat eine höhere Macht für mich entschieden.“ Sie mag die Gefangenen mit all ihren Schwächen, guckt genau hin, führt hier und da kurze Gespräche mit ihnen. „Beim Singen verstellen die sich nicht, da bekommt man mit, wie die wirklich sind“, sagt Lichtschlag. Sie selbst hat am Singen in der Gruppe ebenfalls sichtlich Spaß. Und sie erfährt Dankbarkeit und Respekt. „Die Häftlinge werden von mir gesehen“, sagt Lichtschlag. Wie lange sie das noch machen will? Da blitzt es wieder fröhlich in den Augen der 81-Jährigen: „Das überlasse ich dem da oben.“


Ehrenamt im Justizvollzug

Der Katholische Gefängnisverein Düsseldorf vermittelt Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler an die JVA Düsseldorf. Nach einem Schulungskurs (der nächste beginnt Mitte Januar) starten die Interessierten zunächst mit einer Einzelbetreuung. Probleme zwischen Ehrenamtlern und Häftlingen gebe es kaum, sagt Ehrenamts-Koordinatorin Brigitte Fey: „Das Ehrenamt wird von den Inhaftierten als sehr positiv wahrgenommen.“

Interessierte wenden sich an:

Brigitte.Fey@jva-duesseldorf.nrw.de

www.gefaengnisverein.de

Weitere Infos auch zu anderen Gefängnissen gibt die Landesweite Koordinierungsstelle für die ehrenamtliche Arbeit im Justizvollzug

www.ehrenamt-straffaelligenhilfe-nrw.de