Seit fast zwei Jahren steht die Frage im Raum, was Kardinal Rainer Woelki über Missbrauchstäter aus den Reihen des Erzbistums Köln wusste. Strittig war zuletzt Woelkis Kenntnisstand zum Fall des Ex-„Sternsinger“-Präsidenten Winfried Pilz. Eine ehemalige Mitarbeiterin aus der Personalabteilung des Erzbistums, die 2015 eine Täterliste für Woelki erstellt hat, bricht jetzt ihr Schweigen: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten.“ Ihre Aussagen zum Fall Pilz könnten Woelki auch strafrechtlich in Bedrängnis bringen.
Interview zum Erzbistum KölnHat Woelki doch die Unwahrheit gesagt?
Frau Dahm, Sie waren von 2013 bis 2017 Assistentin des Personalchefs im Erzbistum Köln. Wie waren Sie in dieser Funktion mit Missbrauchsfällen befasst?
Hildegard Dahm: Bis zum Neuaufbau der Interventionsstelle 2015 landeten alle Meldungen über Missbrauchsfälle beim Personalchef, wenn die Beschuldigten Kleriker waren. Meine Aufgabe war es dann, alle vorhandenen Personalunterlagen zu dem jeweiligen Fall zu sichten.
Auch die Akten aus dem berühmten „Giftschrank“ beim Generalvikar?
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Wenn es bereits bekannte Fälle waren, ja. Diese Akten wurden dann angefordert, und aus dem gesamten Bestand habe ich jeweils ein Dossier erstellt, das mein Chef dem Kardinal in einem wöchentlichen Jour fixe vorlegte.
Wie sind Sie damit umgegangen, was Sie da zu lesen bekamen? Andere im Erzbistum, wie die frühere Justiziarin, sollen darüber psychisch krank geworden sein.
Ich habe versucht, zu abstrahieren. Von meiner Ausbildung her bin ich Krankenschwester, und ich habe mir gesagt: Ich betrachte diese Missbrauchsfälle – im übertragenen Sinn – wie eine Erkrankung, die ich professionell behandeln muss. Ich habe aber auch Supervision bekommen. Richtig bedrängend wurde es, als ich es 2014 mit beschuldigten Priestern zu tun bekam, die noch im Dienst waren. Das ist ja etwas ganz anderes als Recherchen zu verstorbenen Priestern. Jetzt mussten die Gemeinden mit Vorwürfen gegen „ihren Pastor“ konfrontiert werden, was nicht selten zu schweren Konflikten führte.
Warum sitzen wir heute hier und sprechen miteinander?
Weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, Dinge aus erster Hand zu wissen, die den öffentlichen Aussagen von Kardinal Woelki widersprechen, speziell zum Missbrauchsfall des früheren Sternsinger-Präsidenten Winfried Pilz…
… mit dem Kardinal Woelki nach eigener Aussage erstmals im Juni 2022 befasst worden sein will.
Das war so: Ich habe im Januar 2015 persönlich eine Excel-Liste für den Kardinal erstellt mit allen damals aktuellen Missbrauchsfällen. Auf dieser Liste standen 14 Namen. Einer davon ist Winfried Pilz.
Wie kam es zu dieser Liste?
Ein Vierteljahr nach Kardinal Woelkis Amtsantritt im September 2014 sollte ein Arbeitstreffen stattfinden zwischen dem Kardinal, meinem Chef, Pfarrer Stephan Weißkopf, und dem Leiter der Stabsstelle Prävention/Intervention, Oliver Vogt. Thema war die Frage, wie Vogts Bereich künftig neu strukturiert werden sollte. Mit der Liste für diesen Termin im Januar 2015 sollte der Kardinal bestmöglich darüber ins Bild gesetzt werden, welche offenen Missbrauchsfälle wir im Erzbistum hatten. Fälle, auf die er möglicherweise auch angesprochen werden könnte. Dafür habe ich in der Excel-Liste auch Zusatz-Infos hinterlegt wie eine verwandtschaftliche Verbindung zwischen zwei Tätern oder die Tatsache, dass ein Opfer später selbst Priester geworden war. Ich dachte: So etwas sollte mein Erzbischof wissen, auch für sein Herangehen als Seelsorger.
Sie sprechen so betont von „Ihrem“ Erzbischof.
Ja, ich wollte ihn möglichst gut dastehen lassen. Die Kollegen haben sich seinerzeit schon darüber lustig gemacht: Du und dein Erzbischof. Aber das war mein Empfinden: Der neue Mann nach Kardinal Meisner soll einen guten Start haben. Ich wollte alles dafür tun, dass er das Amt des Erzbischofs gut ausüben kann. Das war mein Verständnis von Loyalität – dem Amt und der Person gegenüber.
Sie sagen, der Fall Pilz stand als „aktueller Fall“ auf der Liste. Das Erzbistum betont, die Akte Pilz sei nach Erlass eines Strafdekrets schon unter Kardinal Meisner 2014 geschlossen worden.
Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Die Akte kann nach meinem Dafürhalten gar nicht geschlossen gewesen sein, weil Pilz eine von Kardinal Meisner auferlegte Geldstrafe in Raten abbezahlt hat. Als ich die Liste für Kardinal Woelki erstellt habe, war beim Erzbistum erst eine Rate eingegangen. Auch das habe ich eigens vermerkt.
Woher wissen Sie, dass der Kardinal die Liste bekommen hat?
Weil mein Chef sie in das erwähnte Gespräch beim Kardinal mitgenommen hat.
Und dann?
Als er vom Kardinal zurückkam, war erst einmal keine Rede davon. Weil mich das Ganze sehr beschäftigt hat, habe ich explizit nachgefragt, was der Kardinal eigentlich zu der Liste gesagt habe. Darauf bekam ich von meinem Chef die Antwort: „Das hat den Kardinal überhaupt nicht interessiert.“
Wie haben Sie reagiert?
Ganz ehrlich: Ich war wie versteinert. Aber dann habe ich gedacht: „Na gut. Ich habe zumindest versucht, ihm mitzuteilen, was ich weiß. Wenn er wollte, könnte auch er es wissen.“
Noch einmal: Woelki sagt, er sei erst im Juni 2022 mit dem Fall Pilz befasst worden.
Das ist nicht wahr. Mag sein, dass er sich das Blatt mit Pilz und den anderen 13 Namen nicht angeschaut hat. Aber befasst habe ich ihn damit. Ganz eindeutig.Deshalb war ich auch so entsetzt über die Selbstdarstellung des Kardinals in der Öffentlichkeit.
Sie wissen, dass genau dieser Punkt auch Gegenstand einer eidesstattlichen Versicherung des Kardinals ist.
Ja. Nach dem Interview des Kardinals im „Kölner Stadt-Anzeiger“ Anfang September, in dem er seinen angeblichen Wissensstand zum Fall Pilz geschildert hat, habe ich ihm eine E-Mail geschrieben. Der letzte Impuls war, dass er in dem Interview auch die Stadt- und Kreisdechanten abgewatscht und sie aufgefordert hat, das Gespräch mit ihm zu suchen, statt in den Medien über ihn zu reden. Ich habe gedacht: „Gut, dann suche jetzt ich das Gespräch.“ Ich habe also um einen Termin gebeten und ihm geschildert, dass mich die Presse-Veröffentlichungen sehr belasten.
Inwiefern?
Es war ja auch zu lesen, dass der Kardinal selbst eine Excel-Liste mit Missbrauchstätern geschreddert habe. Am 5. September schrieb ich ihm: „Aufgrund der Berichterstattung gehe ich davon aus, dass die ‚geschredderte Excel-Liste‘ von mir erstellt wurde.“
Was geschah dann?
Nichts, gar nichts. Es gab nicht einmal eine Eingangsbestätigung.
Die Staatsanwaltschaft wäre auch eine Adresse gewesen. Schließlich stand der Verdacht im Raum, Woelkis eidesstattliche Versicherung könnte falsch sein. Das wäre dann eine Straftat. Ende September erklärte die Behörde, sie habe keinerlei Indizien dafür gefunden. Was Sie jetzt berichten, ist ein sehr deutliches Indiz.
Ich weiß. Ich stand auch kurz davor, zur Staatsanwaltschaft zu gehen. Aber ganz ehrlich: Mir ging es gar nicht so sehr um ein strafbares Handeln des Kardinals, sondern um den Konflikt, dass ich aus Loyalität gegenüber meinem Dienstherrn eigentlich nicht sagen darf, was ich aber doch weiß. Das habe ich irgendwann nicht mehr ertragen. Das musste jetzt einfach raus. Ich will nicht, dass später einmal Menschen zu mir kommen und mich fragen: „Du hast doch so viel gewusst. Warum nur hast du nichts gesagt?“ Im Grunde die Frage an alle Vertuscher in der kirchlichen Hierarchie.
Sie verletzen mit Ihrem Gang an die Öffentlichkeit die Verschwiegenheitspflicht. Fürchten Sie keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen?
Wenn das Erzbistum das versuchen sollte, dann ist das eben so. Ich stelle aber eine Gegenfrage: Hat der Dienstgeber denn keine Loyalitätspflichten? Ich finde, wie der Erzbischof hier mit den Tatsachen umgeht und sich nicht einmal im Ansatz bemüht, zumindest intern Klarheit zu schaffen, das ist eine Missachtung des Einsatzes und der guten Arbeit von Mitarbeitenden. Was der Erzbischof sagt, ist illoyal – auch mir gegenüber als Verfasserin der Excel-Liste. Sie müssen ja sehen: Ich war damals kein kleines Rädchen im Getriebe. Wenn dann nach sechs, sieben Jahren offenbar keiner mehr eine Idee davon hat, dass es diese Liste mit Missbrauchstätern gab und sich niemand dafür interessiert, wer sie erstellt hat - welchen Sinn hat es dann noch, nach außen von „Aufklärungswille“ zu reden?
Was ist nach Ihrer Kenntnis aus Ihrer Excel-Liste geworden?
Gelöscht habe ich sie jedenfalls nicht. Bis ich 2017 wegging, lag die Datei auf einem speziellen Laufwerk der Personalabteilung, auf das nur eine klar definierte Personengruppe Zugriff hatte. Die Datei mit der Liste habe ich per Mail an den Personalchef geschickt. Die E-Mail befindet sich nach wie vor in meinem Account.
2018 wurden laut Erzbistum die Akten zum Fall Pilz der Staatsanwaltschaft übergeben. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass dies ohne Wissen des Erzbischofs geschah?
Das halte ich für ausgeschlossen. Das waren doch genau die Themen, die im Jour fixe regelmäßig mit dem Kardinal besprochen wurden. Dass der Personalchef oder später die Interventionsstelle ohne Information an Generalvikar und Erzbischof Personalakten herausgegeben haben könnte – das widerspräche allem, was ich als Assistentin des Personalchefs mitbekommen habe.
Zum Tod von Winfried Pilz 2019 erschien vom Erzbistum ein hymnischer Nachruf ohne jeden Hinweis auf Missbrauch. Kardinal Woelki sagt, er sei im Urlaub gewesen und habe davon nichts mitbekommen.
Das kann ich mir insofern schwer vorstellen, als es für den Sterbefall von Priestern ein klares Reglement gab: Den Nachruf unterschreibt der Erzbischof, in seiner Abwesenheit der Generalvikar. Der Nachruf auf Pilz aber war von Personalchef Mike Kolb verfasst. Da ist der Dienstweg nicht eingehalten worden. Das passiert nicht einfach so.
Kolb ist auch stellvertretender Generalvikar.
Aber der Generalvikar persönlich war zu dieser Zeit in Köln.
Woher wissen Sie das?
Weil ich ihn auf Pilz angesprochen und ihm gesagt habe, ich fände es nicht richtig, dass das Erzbistum solch einen Nachruf veröffentlicht. Am Sonntag zuvor war im Vatikan die Kinderschutzkonferenz zu Ende gegangen, auf der Papst Franziskus noch einmal ganz entschieden gesagt hatte: „Wir müssen das Thema Missbrauch angehen!“ Und im Erzbistum Köln wird ein, zwei Tage später ein Missbrauchstäter glorifiziert. Das fand ich ganz schlimm.
Was hat Generalvikar Markus Hofmann gesagt?
Sinngemäß lautete seine Antwort: „Was hätten wir denn sonst tun sollen?“ Und den Nachruf habe ja auch nur Pfarrer Kolb unterschrieben.
Das heißt, ihm war klar, was Sie die Verletzung des Dienstwegs nannten?
Offenkundig. Es war ja auch so, dass zu Pilz‘ Beerdigung offiziell niemand von der Bistumsspitze erschienen ist. Das war bei einem so prominenten Geistlichen wie dem Prälaten und Ex-Sternsinger-Präsidenten höchst ungewöhnlich. Dann hat Hofmann aber auch noch zu mir gesagt, Pilz sei letzten Endes doch einer von den Guten gewesen, weil er sein Unrecht wenigstens eingesehen habe.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Mein Entsetzen hat das nur noch größer gemacht. Ich weiß: Jeder Mensch hat viele Facetten. Auch ein Missbrauchstäter ist nicht nur schlecht. Aber dieser Nachruf auf Pilz war nur gut. Und ich finde: So kann man nicht mit Missbrauch umgehen, am wenigsten in der Kirche.
Sie waren 2019 doch gar nicht mehr im Generalvikariat tätig, sondern in der Verwaltungsleitung einer Gemeinde außerhalb von Köln. Wieso hatten Sie eigentlich so schnell und so direkt Zugang zum Generalvikar?
Weil ich fast täglich in den Dom zur Messe gehe. Das ist für mich eine Kraftquelle. So war es auch in der Woche nach Pilz‘ Tod. Monsignore Hofmann hatte eine der Frühmessen. Danach habe ich mit ihm geredet.
Der Fall Pilz
Gegen den Kölner Priester Winfried Pilz (1940 bis 2019) wurde 2012 der Vorwurf eines Missbrauchs in den 1970er Jahren erhoben (Aktenvorgang 148 im „Gercke-Gutachten“ des Erzbistums Köln). Kardinal Joachim Meisner belegte PIlz mit einer Geldstrafe und einem Kontaktverbot zu Minderjährigen. Darüber hätte er das Bistum Dresden-Meißen informieren müssen, wo Pilz bis zu seinem Tod 2019 lebte.
Die Meldung erfolgte erst 2021 nach neuen belastenden Hinweisen. In der Diskussion, ob Kardinal Rainer Woelki zuvor seine Meldepflicht verletzt habe, versicherte er für eine presserechtliche Auseinandersetzung an Eides statt: „Ich wurde mit dem Fall Pilz durch das Erzbistum Köln erst in der 4. Juni-Woche 2022 befasst... Auch unabhängig von einer Befassung durch das Erzbistum Köln habe ich mich vor der 4. Juni-Woche 2022 auch nicht aus anderen Gründen mit dem Fall Pilz und/oder diesbezüglich zu treffenden Maßnahmen befasst.“
Nachdem der „Deutschlandfunk“ und die „Zeit“-Beilage „Christ&Welt“ über ein Gesprächsangebot Woelkis an ein weiteres Opfer von Pilz bereits Anfang berichtet hatten, wurden gegen Woelki mehrere Strafanzeigen wegen des Verdachts der Falschaussage gestellt. Das Bistum und Woelkis Anwalt, sein früherer Gutachter Björn Gercke, erklärten die schriftliche Einladung an das Pilz-Opfer als einen standardisiertes, selbstständiges Vorgehen von Woelkis Büroleiterin. Der Kardinal habe davon nichts gewusst.
Ende September 2022 lehnte die Kölner Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Woelki ab. Es gebe keine Indizien für einen Anfangsverdacht. In ähnlicher Sache erläuterte Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn: „Es hätten Tatsachen vorliegen müssen, tatsächlich Anhaltspunkte für die Annahme dafür, dass das, was Kardinal Woelki in dieser eidesstattlichen Versicherung wörtlich gesagt hat, dass das gelogen war.“ (jf)
Noch einmal zurück zu Ihrer Excel-Liste. Der Fall des mit Woelki befreundeten Pfarrers O. steht nicht darauf. Für das Gercke-Gutachten (Aktenvorgang 5, d.Red.) hat der Kardinal aber ausgeführt, gerade diesen Namen lesen zu müssen, habe ihm „den Boden unter den Füßen weggezogen“. Wie kann das sein?
Ich gehe von einer anderen Liste aus, die möglicherweise Oliver Vogt als Interventionsbeauftragter erstellt hat. Darauf werden sämtliche bekannten Fälle gestanden haben, deren Akten ab 2015 in Vogts Stelle aufbewahrt und gesichtet wurden. Darunter muss sich auch die Akte O. befunden haben. Meine Liste lag dem Kardinal früher vor, und sie umfasste eben nur ein gutes Dutzend Namen.
Was wissen Sie aus Ihrer Zeit denn zum Fall O.? Laut Gercke-Gutachten wurde gegen den Düsseldorfer Pfarrer weder unter Kardinal Meisner noch unter Kardinal Woelki eine Voruntersuchung veranlasst, und es gab auch keine Meldung nach Rom. Woelki hat geltend gemacht, 2015 sei Pfarrer O. so schwer erkrankt gewesen, dass jede Befragung aussichtslos gewesen sei.
In diesem Jahr saß Oliver Vogt eines Tages bei mir im Büro und sagte: „Wir haben da eine Akte gefunden von einem Priester, zu dessen Fall Woelki in seiner Zeit als Weihbischof gesagt habe: ‚Da machen wir nichts.‘ – Und jetzt ist der Priester dement.“ Das kann niemand anderes als O. gewesen sein.
Wie schauen Sie heute auf all diese Vorgänge?
In einem komplett anderen Zusammenhang, es ging da um Verwaltungsprozeduren, habe ich einmal zu einem meiner Vorgesetzten gesagt: „Ich verstehe die Strukturen der Kirche nicht.“ Seine Antwort: „Frau Dahm, Sie müssen die Strukturen nicht verstehen, Sie müssen sie für sich arbeiten lassen.“ Ich glaube, genau das ist das Übel: Die am System Beteiligten lassen das System für sich arbeiten.
Und es gab in Ihrer Zeit niemals Risse im System?
Wenn, dann nur Haarrisse.
Sind Sie jetzt nach eigenem Empfinden ein Riss im System, indem Sie sagen: Ich mache das nicht mehr mit?
Ja. Das kann man so sagen. Die Loyalität, von der ich sprach, ist inzwischen zerbröselt oder besser: zwiegespalten. Ich stehe loyal zu Bischofsamt und Kirche, aber nicht mehr zu diesem Erzbischof. Es hat gedauert, bis ich Amt und Person getrennt bekommen habe. Aber auch deswegen wollte ich jetzt reden, weil ich glaube: Das Bischofsamt wird in Köln nicht loyal ausgeübt. Loyalität ist eben keine Einbahnstraße.
Fragen Sie sich manchmal, ob Sie schon in Ihrer Zeit in der Personalabteilung mehr hätten tun können – etwa für einen verbesserten Opferschutz?
Ich habe damals die Akten mit all diesen schrecklichen Geschehnissen sechsmal, siebenmal, zehnmal durchgelesen – um nur ja nichts zu übersehen, was für die Aufklärung wichtig sein könnte. Und dann musste ich hören, „es hat den Kardinal nicht interessiert“. (stockt, ringt um Fassung) Können Sie sich vorstellen, wie einen das trifft?
Haben Sie über Kirchenaustritt nachgedacht?
Ich trete nicht aus – nicht aus der Kirche und schon gar nicht aus meinem Glauben. Grundsätzlich steht die Kirche für etwas Gutes. Das will ich mir bewahren. Das will ich aber auch gut bewahrt wissen. Deswegen muss sich etwas ändern in der Kirche.