Der Berliner Politologe Herfried Münkler hält das jüngste Friedensmanifest von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht für „verlogenes, kenntnisloses Dahergerede.“ Das Papier gehe eine Komplizenschaft mit dem Aggressor Putin ein. Eines nimmt Münkler den Initiatorinnen besonders übel.
Politologe Münkler„Gewissenloses Manifest“ von Schwarzer und Wagenknecht
Herr Professor Münkler, Sie stehen nicht als Unterzeichner unter dem Friedensmanifest von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Warum nicht?
Herfried Münkler: Die Vorstellung der Autorinnen und Autoren, man könne Frieden herstellen, indem man „Frieden!“ ruft, ist mir zuwider. Dieses Manifest, und das nehme ich Schwarzer und Wagenknecht besonders übel, desavouiert die gesamte Idee des Pazifismus und das Grundanliegen der Friedensbewegung. Wer das Wort Frieden nicht bloß für eine beliebige Wünsch-dir-was-Vokabel hält, muss dem mit Entschiedenheit entgegentreten.
Was meinen Sie mit Desavouierung der Friedensbewegung?
Die Idee des Pazifismus, wie sie seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in internationale Vertragssysteme überführt wurde, beruht auf dem Verbot des Angriffskriegs. Die Verteidigung gegen einen Aggressor bleibt selbstverständlich zulässig. Das Manifest aber nivelliert fortgesetzt die Kategorien von Angriff und Verteidigung. Pazifismus ist dann nicht anderes als Unterwerfungsbereitschaft. Das war er eigentlich nie, und was wir in diesem Papier vorgeführt bekommen, ist das Ende einer politisch ernstzunehmenden Friedensbewegung.
Das Manifest beschreibt die seit bald einem Jahr anhaltenden Grauen des Krieges und Stufen einer militärischen Ausweitung des Konflikts. Kann man von dieser Beschreibung nicht berechtigterweise zu Warnungen vor weiteren Eskalationen kommen, bis hin zu einem Atomkrieg?
Wenn die Beschreibung denn zutreffend wäre! Das ist sie aber nicht. Das fängt an mit Passivkonstruktionen wie „Frauen wurden vergewaltigt“ – als ob unklar wäre, wer diese abscheulichen Verbrechen begangen hat. Es ist ja nicht so, dass die ukrainische Armee in Russland eingefallen wäre und ihre Soldaten russische Frauen vergewaltigt hätten. Tatsächlich ist es genau andersherum. Das sagt das Manifest aber nicht. Es ist beschönigend, verlogen und geht gewissermaßen eine Komplizenschaft mit dem Aggressor ein.
Aber „rote Linien“ bei den Waffenlieferungen wurden doch tatsächlich überschritten, etwa durch die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine.
Auch das ist eine Verfälschung der Wirklichkeit mit sprachlichen Mitteln. „Rote Linien“ suggerieren die Überschreitung einer zuvor gezogenen Grenze. Wahr ist: Die Bundesregierung selbst hat nie von „roten Linien“ gesprochen, sondern die Lieferung bestimmter Waffensysteme ausgeschlossen.
Was ist denn da der Unterschied?
Vor einem Jahr war Berlin zunächst von einem Niederwerfungskrieg Russlands ausgegangen, der binnen kürzester Zeit beendet sein würde. Das erklärt die lächerlichen Unterstützungsangebote der damaligen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Die berühmten 5000 Helme waren sozusagen das Prinzip einer rein defensiven Unterstützung in surrealer Form. Dass Deutschland mit dieser Position allein auf weiter Flur stand, hat die Bundesregierung dann auch irgendwann gemerkt und ihre Haltung einer ignoranten Unsolidarität peu à peu aufgegeben. Man kann nicht dabeistehen und tatenlos zusehen, wenn ein Land überfallen und brutalst mit Gewalt überzogen wird.
Muss man der militärischen Logik nicht tatsächlich den Versuch einer Verhandlungslösung an die Seite stellen, so aussichtslos das auch mit Putin als Verhandlungspartner erscheint?
Hätte es in Deutschland etwas mehr vergleichende Kriegsforschung gegeben, käme man womöglich nicht zu der schlicht falschen Alternative „Krieg oder Diplomatie“, wie das Manifest sie aufmacht. In der gesamten Kriegsgeschichte der vergangenen 400 Jahre fanden parallel zum Geschehen auf dem Schlachtfeld immer Verhandlungen statt. Man kann – in Umkehrung der berühmten Kriegsformel von Carl von Clausewitz – so weit gehen zu sagen: Diplomatie ist in vielen Kriegen zunächst die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Im Übrigen wurde und wird auch im Ukraine-Krieg verhandelt. Denken Sie an das Abkommen über Getreidelieferungen.
Was wären die Voraussetzungen für Verhandlungen?
Die russische Seite muss realisieren, dass sie ihre Ziele nicht erreichen kann – es sei denn, um einen für sie unbezahlbaren Preis. Das wäre der Moment, wo man von bloßem Geplänkel zu ernsthaften Verhandlungen übergehen könnte. Wenn man die ukrainische Seite dann zu Verhandlungen unterhalb eines – eigentlich selbstverständlichen – vollständigen Rückzug des Aggressors von ihrem gesamten Territorium bewegen will, muss man ihr etwas anbieten.
Und das wird nichts anderes sein können als westliche Sicherheitsgarantien, die eine Art Äquivalent zur Mitgliedschaft in der EU oder in der Nato sein müssten. Wollten die Russen dann einen Waffenstillstand – mehr wird es ja zunächst nicht sein können – lediglich als Atempause nutzen, um anschließend erneut anzugreifen, wäre der Westen tatsächlich Kriegspartei. Das gilt es zu bedenken, und auch das zeigt die politische Substanzlosigkeit in der Friedensrhetorik des Manifests.
Bleibt die Warnung vor einer nuklearen Eskalation.
Wer politisch nachdenkt, erkennt, dass es zwei Barrieren gegen den Einsatz taktischer nuklearer Waffen durch Putin gibt: Erstens die Drohung der Nato, darauf mit einem – konventionellen – Vernichtungsschlag gegen die russischen Streitkräfte in der Ukraine zu antworten.
Eine Eskalation!
Stimmt. Aber unterhalb der nuklearen Schwelle. Die zweite und vielleicht entscheidende Barriere, die Putin über den Einsatz von Atomwaffen noch nicht einmal nachdenken lässt, ist die Macht Chinas. Die Führung in Peking hat hier tatsächlich eine rote Linie gezogen. Die Chinesen sind Putins letzter echter Verbündeter. Er liegt in Chinas Armen, und diese Arme halten ihn ziemlich fest umklammert. Darauf kann man sich derzeit ziemlich sicher verlassen. Also kommen die nuklearen Drohungen aus Moskau „Buh!“-Rufen gleich, mit denen Kinder einander erschrecken. Nur Schwarzer, Wagenknecht und die Unterzeichnenden ihres Manifests fallen prompt darauf herein und betreiben mit kenntnislosem Dahergerede Putins Geschäft.
Wo fehlt Ihnen die Kenntnis?
Zum Beispiel bei dem grotesken Argument, gegen eine Atommacht sei ein Krieg nicht zu gewinnen. Wenn das so wäre, hätte kaum eine Kolonie ihre Unabhängigkeit mit militärischen Mitteln erreicht. Die USA hätten sich nie aus Vietnam zurückziehen müssen, die Sowjetunion nicht aus Afghanistan. Ein bisschen Faktencheck – und von diesem gewissenlosen Manifest bleibt nichts übrig.
Zur Person
Herfried Münkler, geb. 1951, ist Politikwissenschaftler und emeritierter Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Unter seinen zahlreichen Publikationen sind große Monografien zur Geschichte des Ersten Weltkriegs und des Dreißigjährigen Krieg sowie zum Wandel des Kriegs im Lauf der Geschichte. Zuletzt erschien von ihm der Band „Die Zukunft der Demokratie“, Verlag Brandstätter. (jf)