Der Religionssoziologe Detlef Pollack erklärt, warum die katholische Kirche sich nicht so grundlegend reformieren kann, wie viele es sich wünschen - und das auch gar nicht sollte.
Interview zu Kirchenaustritten„Vielleicht bleibt nur noch Selbstpreisgabe“
Herr Professor Pollack, neuerdings treten mehr Katholiken aus der Kirche aus als Protestanten. Welche Erklärung haben Sie dafür?
Das erste Mal hat sich das traditionelle Verhältnis im Jahr 2010 umgekehrt – unter dem Eindruck des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche, der mit den Vorgängen am Berliner Canisiuskolleg der Jesuiten öffentlich wurde. Dann waren die evangelischen wieder höher als die katholischen Kirchenaustritte. In den beiden letzten Jahren liegt die katholische Kurve jedoch wieder deutlich über der evangelischen. Das zeigt: Die Kirchenbindung der Katholiken ist inzwischen auf protestantisches Niveau und noch darunter gesunken, aber nicht im Aggregatzustand einer schleichenden Verdunstung und Ablösung, sondern als ein Abriss infolge enttäuschter Erwartungen.
Ein disruptives Geschehen?
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Disruptiv trifft es. Auch früher schon haben sich die Katholiken an ihrer Kirche gerieben. Aber sie haben sie trotzdem geliebt. Deshalb wollten sie, dass sie sich ändert. Jetzt haben sie das Gefühl, das wird nichts mehr mit der Veränderung.
Könnte die katholische Kirche diese Entwicklung aufhalten – oder gar umkehren?
Die evangelische Kirche macht von jeher nichts anderes als Reformen. Bis in die Gegenwart dreht sie an allerhand Stellschrauben, um wieder mehr Menschen zu erreichen. Richtig viel hat das nicht geholfen. In der katholischen Kirche sind die Reformbemühungen selbst nicht sehr weit gediehen. Die Laien, speziell die Frauen, aber auch viele Priester und Bischöfe müssen erkennen: Wir kommen nicht entscheidend weiter – weder in der „Frauenfrage“ noch beim Priesterbild und den kirchlichen Strukturen. Und das hat liegt bestimmt nicht am guten Willen der Reformer.
Sondern?
Die katholische Kirche ist in einem Selbstwiderspruch gefangen. Nach katholischem Verständnis vermittelt die Kirche – und hier noch einmal speziell die Priesterschaft – schon auf Erden etwas von der Herrlichkeit des Himmels. Das Wirken der Kirche ist die Vorwegnahme des göttlichen Heils. Das wird geschützt und gestützt durch die Geistlichkeit, der ein eigener Zugang zum Heiligen zukommt. Wenn das als Ausdruck eines Machtgefälles zwischen Klerikern und Laien kritisiert und der Missbrauch auf dieses Machtgefälle zurückgeführt wird und daher die Differenz zwischen der Priesterschaft und den Laien außer Kraft werden soll, wird das Wesen von Kirche als heilige Institution angegriffen. Eine solche Operation überlebt die katholische Kirche nicht oder sie ist nicht mehr die katholische Kirche.
Muss der „Zugang zum Heiligen“ denn durch eine ständisch-hierarchische Ordnung nach den Herrschaftsvorstellungen des 19. Jahrhunderts gesichert werden?
Ich bin nicht sicher, ob das in früheren Jahrhunderten anders war. Aber das Konzept vom „Priestertum aller Getauften“ ist eine 180-Grad-Wende hin zu einer Autonomie der Gläubigen. Wenn man das macht, braucht es die katholische Kirche nicht mehr.
Nun hat sich die Überhöhung des geistlichen Amts – kurz: der Klerikalismus – als ein Einfallstor für Missbrauch erwiesen, Machtmissbrauch im Allgemeinen, sexuellen Missbrauch im Besonderen. Was bedeutet das dann für den „Selbstwiderspruch“ des Kirchen- und Priesterbilds, von dem Sie sprechen?
Der ist tödlich.
Das ist hart. Dann stimmt es, dass sich die katholische Kirche nur noch beim eigenen Untergang zusehen kann.
Wir wissen aus der Soziologie, dass auch nicht angepasste und paradoxal operierende Institutionen eine Überlebenschance haben.
Katholizismus als religiöses Paradox in der modernen Welt des 21. Jahrhunderts?
Man muss es nicht so formulieren. Aber man wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass es ein unauflösbares Spannungsverhältnis zwischen Moderne und katholischer Kirche gibt – mit einer nicht überschreitbaren Grenze der Reformierbarkeit.
Dann hat also jene Minderheit in der katholischen Kirche recht, die sich – etwa auf dem „Synodalen Weg“ – hartnäckig gegen Reformen stemmt?
Ich weiß nicht, ob dieser Minderheit so genau bewusst ist, warum sie sich gegen Reformen sperrt. Wahrscheinlich ist es mehr ein Gespür, dass ein Nachgeben etwa bei der sakramentalen Rolle des Priesters die Preisgabe des katholischen Wesenskerns wäre. Zugleich ist bei dieser Gruppe die Fähigkeit begrenzt, Fehlentwicklungen einzuräumen und strukturelle Ursachen von Missbrauch anzugehen.
Das ist aber doch dann nichts anderes als Realitätsverweigerung.
Diese Männer haben ihr ganzes Leben dieser Kirche verschrieben. Das würden sie nach eigener Vorstellung verraten, wenn sie zugäben, dass Missbrauch im Kern der Kirche angelegt ist. Ich glaube, nicht, dass sie das aushalten. Obschon: Die Bibel mahnt, „wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren.“ Vielleicht ist die Selbstpreisgabe der einzige Weg, der noch bleibt.
Aber die meisten Bischöfe sagen, sie wollten Reformen, auch grundlegende.
Die Mehrheit der Bischöfe täuscht sich meines Erachtens über die Reformierbarkeit ihrer Kirche, aber – anders als Sie – billige ich diesen Bischöfen zumindest den ehrlichen Willen zur Veränderung zu.
Anders als ich?
Sie haben den Kirchenaustrittsrekord mit den Worten kommentiert, es gebe einen katholischen „Is‘ halt so“-Reflex. Das ist angesichts der allenthalben geäußerten Bestürzung und Erschütterung über die Zahlen eine böswillige Falschdarstellung.
Ich bestreite sowohl falsch als auch böswillig. Von Erschütterung hören wir seit Jahren. Von Konsequenzen wenig – oder von Verantwortung. Wenn Sie schon die Bibel zitieren. Da steht auch der Satz: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“
Als Protestant bin ich auch an der Ehrlichkeit der inneren Haltung interessiert und nicht nur an Taten, mit denen man sich oft nur selbst rechtfertigen will. Ich ziehe die Ehrlichkeit der Erschütterung nicht in Zweifel. Es kann doch keinen Bischof kalt lassen, wenn mehr als eine halbe Million Menschen die Kirche verlässt. Was berechtigt mich als Wissenschaftler, was berechtigt Sie als Journalisten dazu, es besser wissen zu wollen als diejenigen, die von Erschütterung reden?
Weil zum Beispiel noch nach 2010 an der Spitze der Bischofskonferenz weiter vertuscht wurde. Das Versprechen von Aufklärung und Transparenz war eine Lüge.
Eine Lüge ist eine absichtliche Falschaussage. Woher wollen Sie das wissen, dass die Bischöfe nicht die besten Absichten hatten? Viel wahrscheinlicher ist doch, dass der Veränderungswille an eine Grenze stößt. Die Frage ist tatsächlich: Warum passiert so wenig? Und ich sage: Weil nichts passieren kann. Die Kirche würde sich selbst aufgeben, wenn sie die Reformen so weit treiben würde, wie es notwendig wäre. Inzwischen ist die katholische Kirche in der Situation, dass sie machen kann, was sie will – sie hat keine Chance. Und das liegt auch an den Medien, die ihr keine Chance geben.
Wenn Menschen in der Kirche eine Diskrepanz zwischen Reden und Handeln wahrnehmen und sich in der Kirche nicht mehr beheimatet fühlen, dann liegt das nicht daran, dass sie Zeitung lesen, Radio hören oder Fernsehen schauen. Machen Sie doch einmal einen Vorschlag, wie eine Kirche, die sich – wie Sie sagen – gar nicht in dem gewünschten oder erforderlichen Maße verändern kann, noch Heimat bieten soll.
Ich muss sagen: Ich als evangelischer Kirchenchrist leide darunter, dass so viele Menschen ihre geistliche Heimat verlieren. Das ist ein Verlust für die Gesellschaft, für unsere Kultur, die bis in die tiefsten Poren vom Christentum geprägt ist. Ich habe auch keine Lösung. Ich sehe aber ein Experimentieren – zum Beispiel mit Formen des Rückzugs in die Stille der Meditation, mit christlich motiviertem Engagement für Flüchtlinge oder auch mit volkskirchlichen Bräuchen und alten Ritualen wie der Fronleichnamsprozession. Darüber kann man sich jetzt auch wieder aufregen. Aber ich finde solche Formen legitim, auch wenn sie nur schwer mit den Autonomieansprüchen des modernen Menschen kompatibel sind.