AboAbonnieren

Gefährder in NRWWas passiert nach der Freilassung von Islamisten?

Lesezeit 9 Minuten
Ein Polizist mit Maschinengewehr steht vor vermummten Dschihadisten mit Fahne.

Auch nach der Freilassung sind verurteilte Islamisten häufig weiter auf dem Radar des Staatsschutzes.

Mohammed D. saß als Dschihadist im Gefängnis. Auch nach seiner Freilassung ist er ein Sicherheitsrisiko. Gefährder, die erneut auf dem Radar der Terror-Abwehr landen, gibt es in NRW etliche.

Das abgehörte Telefonat ließ die Kölner Staatsschützer aufhorchen. Im Gespräch mit seiner marokkanischen Partnerin träumte Mohammed D. (Name geändert) von der gemeinsamen Ausreise nach Afghanistan. Vergangenen März erst aus der Haft entlassen, schien der Leverkusener Islamist immer noch der Dschihad-Ideologie der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) verbunden. Der 22-Jährige wollte sich offenbar dem IS-Ableger in der Provinz Khorasan anschließen.

Bereits im Februar 2019 hatte er für Schlagzeilen gesorgt. Seinerzeit stand Mohammed D. auf der Gefährderliste. Der Verdächtige versuchte Unterstützer für den IS zu rekrutieren. Da die Beweislage zunächst nicht für einen Haftbefehl ausreichte, verdonnerten Justiz und Polizei in Köln zum ersten Mal einen islamistischen Gefährder, die elektronische Fußfessel zu tragen.

Zudem durfte er sich nur noch in seinem Viertel bewegen. Bald darauf wanderte D. dann doch in Untersuchungshaft. Noch im selben Jahr wurde er wegen seiner terroristischen Anwerbeversuche zu vier Jahren Jugendstrafe verurteilt. Den Schuldspruch musste der Islamist voll verbüßen. Inzwischen kam D. wieder frei und stellt aus Sicht der Staatsschützer ein großes Sicherheitsrisiko dar.

Seine Geschichte ist eines der Fallbeispiele, die der „Kölner Stadt-Anzeiger“ recherchiert hat. Dieses Dossier schildert die Biografien etlicher Dschihadisten, die nach ihrer Freilassung erneut auf dem Radar der Terror-Abwehr landen.

Derzeit verbüßen 35 Gefährder ihre Haft in NRW-Gefängnissen

Stand Ende Juni sitzen 35 islamistische Gefährder oder Relevante Personen, darunter fünf Frauen, in NRW-Gefängnissen ein, teilte des Justizministerium auf Anfrage dieser Zeitung mit. Seit Jahresbeginn kamen zudem acht Dschihadisten aus der Haft frei. Darunter drei Personen, die in den Bereich der Kölner Polizei fallen.

„Eine valide, auf die Zukunft gerichtete Bestimmung von Entlassungsterminen über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg“ sei „aufgrund des Vollzuges von Untersuchungshaft und möglichen vorzeitigen Entlassungen nicht möglich“ ergänzte das Ministerium. Tendenziell jedoch sei davon auszugehen, „dass rund ein Drittel der aktuell Inhaftierten innerhalb der nächsten vier Jahre zu entlassen sein wird“.

Mit Sorge beobachtet Kölns Leitender Kriminaldirektor Michael Esser, dass „die Zahl der Haftentlassungen verurteilter islamistischer Terroristen zunimmt“. Bis zum Frühjahr 2024 kommen allein im Kölner Sprengel insgesamt sechs Gefangene wieder raus. Diese Personen fallen zunächst ins Blickfeld der zuständigen Staatsschutzstellen. Bereits vor der Freilassung besprechen die Beamten in Fallkonferenzen, wie sich der Delinquent im Gefängnis aufgeführt hat.

„Neben den Rückkehrern aus Kriegsgebieten geht gerade von Extremisten, die sich in der Haft weiter radikalisieren und mit Gleichgesinnten vernetzten, eine enorme Gefahr aus“, heißt es in einem Behördenpapier. Diese Kontakte würden oft über die Haft hinaus weiter bestehen. Dieser Umstand stellt die Sicherheitsorgane vor „große Herausforderungen“. Darüber hinaus verursache die Anwerbung „von nicht-politischen Kriminellen durch islamistisch-terroristische Häftlinge ein weiteres Problem“.

Mohammed D. aus Leverkusen soll auch in Haft Propaganda für den Dschihad gemacht haben

Ein weiterer Gradmesser für eine Risikobewertung betrifft die Frage, ob sich hinter den Gefängnismauern gewaltsame oder anderweitige Zwischenfälle ereignet haben. „Wenn diese Personen dann rauskommen, müssen wir überprüfen, ob es sich um Menschen handelt, von denen weiterhin eine Gefahr ausgeht oder nicht“, erläutert Esser.

Mohammed D. aus Leverkusen fällt in diese Kategorie. Im Knast fiel er durch Dschihad-Propaganda auf, auch soll er versucht haben, manche Mithäftlinge für den IS zu begeistern.

Knapp 500 Gefährder zählt das Bundeskriminalamt

Das Bundeskriminalamt (BKA) zählt nach eigenen Angaben 491 islamistische Gefährder, 305 halten sich demnach hierzulande auf (Stand 1. August). 94 Terroristen verbüßen derzeit eine Haftstrafe, teilte ein Behördensprecher auf Anfrage mit. Mehr als jede dritte Person stammt aus NRW. Laut Innenminister Herbert Reul (CDU) agitieren 188 islamistische Gefährder an Rhein und Ruhr. Die NRW-Sicherheitsbehörden bewerten das „islamistische Personenpotential“ und die daraus resultierenden Gefahren „fortlaufend“.

Das Bild zeigt die Angeklagte (l, sitzend) mit ihren Verteidigern Martin Heising (2.v.r) und Serkan Alkan (r). Die mutmaßliche IS-Terroristin aus Leverkusen muss sich in Düsseldorf vor Gericht verantworten. Der 35-Jährigen werden Kriegsverbrechen, Menschenhandel und Freiheitsberaubung vorgeworfen.

Die verurteilte IS-Terroristin aus Leverkusen während der Verhandlung 2020. Der 35-Jährigen wurden Kriegsverbrechen, Menschenhandel und Freiheitsberaubung vorgeworfen. Nun ist sie wieder frei.

So etwa auch das Verhalten von Marta J. (Name geändert). Die Leverkusenerin hatte bereits 2012 über die Facebook-Gruppe „Iman, Hijrah und Dschihad“ (Glaube, Auswandern und Heiliger Krieg) in die militante Islamistenszene gefunden. Drei Jahre später reisten die Deutsche mit mazedonischen Wurzeln und ihre dreijährige Tochter nach Syrien aus, um sich in den Dienst der IS- Terror-Garden zu stellen.

In der Hochphase der selbst ernannten Kalifats-Brigaden heiratete sie einen deutschstämmigen Kämpfer. Marta J. hortete in der gemeinsamen Wohnung zwei Sturmgewehre AK 47. Ohne ihre halbautomatische Pistole verließ sie nicht das Haus. Später zwang sie eine kurdische Jesidin, die Hausarbeiten zu erledigen. Die Gefangene wird später im Prozess gegen die Leverkusener Islamistin berichten, dass sie gemäß der IS-Doktrin wie eine Sklavin gehalten wurde.

Gleich 14-Mal sei sie verkauft, verschenkt oder getauscht worden, zwölf IS-Schergen hätten sie vergewaltigt. Als sie für Marta J. arbeitete, sei ihr aufgefallen, wie die Tochter bei den zunehmenden Luftangriffen durch US-Streitkräfte in Schreikrämpfe verfiel und anfing, ängstlich zu weinen. Daraufhin habe die Mutter das Mädchen geschlagen, so die Zeugenaussage.

Im Laufe der Zeit gebar Marta J. zwei weitere Kinder. Mit dem Niedergang des IS fiel die Rheinländerin samt ihrer Nachkommen in die Hände kurdischer Freischärler. Über die Türkei kehrte sie nach Deutschland zurück. Im Juli 2020 wurde die Rückkehrerin auf dem Frankfurter Flughafen verhaftet. Die Kinder kamen in die Obhut des örtlichen Jugendamtes.

Das Düsseldorfer Oberlandesgericht verhängte wegen diverser Terrordelikte sowie der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit vier Jahre und drei Monate. Jetzt ist die Ex-Terroristin wieder frei. Derzeit kämpft sie um das Sorgerecht für ihre Kinder. Mit Sorge beobachten die Behörden, dass die Leverkusenerin wieder Kontakt zu ihrem Ehemann sucht, der als IS-Kämpfer mutmaßlich in der Türkei festsitzt.

Kripo arbeitet mit Überwachungsmodell

Wie soll man mit diesen Freigelassenen umgehen? Die Kripo arbeitet je nach Gefährderranking mit einem abgestuften Überwachungsmodell. In schwierigen Fällen ordern die zuständigen Stellen Observationskräfte der Fahndungsgruppe Staatsschutz beim Landeskriminalamt (LKA) oder Mobile Einsatzkommandos an.

Die Teams lassen die Zielpersonen 24 Stunden nicht aus den Augen. Nach einigen Tagen geht es weiter mit dem technischen Überwachungsbesteck. Telefone werden angezapft, Videokameras installiert, Bewegungsprofile erstellt, um festzustellen, ob die Ex-Gefangenen wieder in die alte Radikalen-Szene eintauchen.

Dieses Vorgehen erfordere „per se einen hohen Personaleinsatz der Polizei, sowohl im Bereich der Sachbearbeitung des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen als auch im Bereich der örtlich zuständigen Kriminalinspektionen“, erklärt Minister Reul. Bei jedem Einzelnen kommen die Staatsschützer turnusmäßig in Sicherheitskonferenzen mit Verfassungs-schützern, JVA-Beamten, Sozialarbeitern oder Bewährungshelfern zusammen, um ein Gefühl für die Zielperson zu bekommen.

Aufwand ist hoch und kostet viel Geld

Der Aufwand ist enorm und äußerst kostenintensiv. Nichts aber fürchten die Sicherheits-Behörden mehr, als eine weitere Terrorattacke wie jene des tunesischen Islamisten Anis Amri 2016 in Berlin mit elf Toten. Auch wenn etwa die Experten im Kölner Präsidium sich keiner Illusionen hingeben: „Wir können die Leute noch so gut überwachen, das heißt aber noch nicht, dass wir jeden Anschlag verhindern werden.“

Dennoch suchen die Kölner Staatsschützer den Anti-Terror-Schirm so breit wie möglich aufzuspannen. Dabei wenden sie eine in polizeilichen Fachkreisen durchaus umstrittene Methode an. Jeden Monat stehen die zuständigen Sachbearbeiter bei ihren Kandidaten vor der Tür, um ihnen klar zu machen, dass man sie nicht aus den Augen lässt.

Während andere Bundesländer einzig auf verdeckte Überwachungsmaßnahmen setzen, gehen die Kölner offensiv auf ihre Kandidaten zu. Die Resonanz falle unterschiedlich aus, heißt es. „Manche reagieren aggressiv abwehrend, manche laden die Beamten zu einem Plausch beim Tee ein.“ Wichtig sei der psychologische Effekt: Die Delinquenten wissen, dass die Polizei sie stets im Blick hält. Im Zuge der Risikoanalyse kann es Jahre dauern, ehe ehemalige Extremisten aus der Gefährderkartei ausscheiden.

Michele missbrauchte Mädchen und verschickte Gräuelvideos

Michele M. (Name geändert) darf im April 2024 auf seine Entlassung hoffen. Der 21-jährige Kölner war durch den 2. Düsseldorfer Staatsschutzsenat zu dreieinhalb Jahren verurteilt worden. So hatte er eine Chatgruppe gegründet, um junge Mädchen anzulocken. Auf sein Geheiß sollte etwa eine zwölfjährige Schülerin sexuelle Handlungen an sich selbst vornehmen. Die Filme sollte sie an Michele M. senden. Irgendwann ging er eine Liebesbeziehung zu ihr ein, um das Kind zu missbrauchen.

Michele M. kam aus einem kaputten Elternhaus. Die Mutter hatte Selbstmordversuche hinter sich, der Vater kümmerte sich kaum. Der Sohn hatte psychische Probleme, brach die Schule ab. Als Jugendlicher radikalisierte er sich über das Netz.

Ende Januar 2020 teilte er seiner Bekannten mit, dass er bald 18 werde und zum IS nach Syrien ausreisen wolle. Das Mädchen lud er ein, ihn zu begleiten. Ähnlich verfuhr Michele M. mit anderen jungen Schülerinnen. Ende 2019 feierte der Teenager mit einem Chatpartner den Mord an den Ungläubigen. Gräuelvideos der syrischen IS-Miliz verschickte er an die minderjährigen Mädchen, um sie zu radikalisieren.

Die Freilassungswelle betrifft auch den Kölner Cyber-Dschihadisten Mansour B. (Name geändert). Im Netz trommelte der radikal-islamische Salafist für den IS. In der Hochphase der Terror-Attacken in Europa arbeitete er für den IS-Statthalter der Kalifatsbrigaden in Deutschland namens Abu Walaa. Für den Hassprediger aus Hildesheim betrieb der Rheinländer jahrelang IS-Propaganda über eigene Kanäle in den sozialen Netzwerken. Im Juni 2019 wurde er verhaftet.

80.000 Euro ins Kriegsgebiet geschafft

Die Vorwürfe bezogen sich auf die Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Im Kern ging es um die Reise in das Trainingscamp einer islamistischen Einheit namens Al-Iman al-Muqatila in Syrien. Fünf Jahre zuvor übte sich der Beschuldigte dort im Waffenkampf. Später dann soll er mittels getarnter Hilfstransporte durch ausgemusterte Krankenwagen militärisches Gerät wie Nachsichtbrillen im Wert von 80.000 Euro ins Kriegsgebiet geschafft haben.

Den Ermittlungen zufolge unterhielt Mansour B. vielfältige Beziehungen in die Salafistenszene. Er galt als IT-versierter Helfer in den fundamentalistischen Milieus, bewegte sich in Kreisen um den rheinischen Web-Imam Pierre Vogel und seinen zeitweilig inhaftierten Mitstreiter Sven Lau.

Im Laufe der Zeit radikalisierte sich der Kölner zusehends. Als Abu Bakr al-Bhagdadi sich 2014 zum Kalifen des IS ausrief, gehörte Mansour B. zu den ersten aus der deutschen salafistischen Online-Gemeinde, der dem IS-Führer huldigte.

Einem Mitstreiter empfahl B. ein Schießtraining in Belgien oder den Niederlande. In Chats tönte der rheinische Islamist, dass er geeignete Übungsplätze kenne.

Über den Kanal „Dawa Pics“ warb Mansour B. für den Krieg gegen die Ungläubigen, giftete gegen das deutsche Grundgesetz. Seine Botschaft lautete: „Demokratie tötet.“ Sieg oder der Tod als Selbstmordattentäter sei Pflicht. „Bist Du bereit für Allah zu kämpfen ?“

Solche Fragen scheinen auf fruchtbaren Boden in der Szene gefallen zu sein. Es sei anzunehmen, folgerten LKA-Ermittler in einem Vermerk, „dass eine professionelle Aufmachung der Inszenierungen die erste Stufe etwaiger Anwerbungen immens vereinfacht und die Tatgelegenheiten für weitere Anwerbungen für den Islamischen Staat begünstigt“. Im Mai 2024 steht seine Entlassung an. Sicherheitsorgane verfügen über keine Hinweise, dass sich der Kölner Cyber-Dschihadist in Haft geläutert hat.