Interview

Radikaler Umbau bei Bayer
„Der Chef steht nicht mehr vorne auf der Bühne“

Lesezeit 7 Minuten
230172_BAG-Portrait Heike Prinz

Heike Prinz ist seit September 2023 im Vorstand der Leverkusener Bayer AG für Personal verantwortlich.

Personalvorständin Heike Prinz über das Ende klassischer Führungsrollen, den geplanten Stellenabbau und Karrieremöglichkeiten bei Bayer.

Frau Prinz, Bayer steht vor dem größten Umbau der Konzerngeschichte. Sie haben sich dafür das Organisationsmodell „Dynamic Shared Ownership“ (DSO) verordnet, mit dem Führung nicht von oben herab gedacht werden soll, sondern die Stimme der Kunden und einzelner Teams stärker in Entscheidungen mit einfließt. Warum ist das der richtige Ansatz?

Heike Prinz: Wir haben viele Stärken, aber auch einige echte Herausforderungen. Der Konzern ist über viele Jahre zu bürokratisch und komplex geworden. Mit DSO wollen wir Hierarchien abbauen, Bürokratie beseitigen, Strukturen verschlanken und Entscheidungsprozesse deutlich beschleunigen. Ziel ist es, das Unternehmen agiler zu machen, die Performance deutlich zu steigern und die Innovationskraft wieder zu stärken. Im Kern heißt das, deutlich mehr Entscheidungsbefugnisse an die Kolleginnen und Kollegen zu übertragen, die die Arbeit letztendlich auch machen, eine klare Orientierung an unserer Mission „Health for all, Hunger for none“ und an den Bedürfnissen unserer Kunden.

Aber birgt so ein harter Einschnitt, der einer Kulturrevolution gleichkommt, nicht auch erhebliche Risiken? Zumal der Zeitplan mit einer Umsetzung bis Ende 2025 sehr ambitioniert ist?

Ein Unternehmen ist ein Organismus, in dem die einzelnen Teile zueinander in Verbindung stehen. Baut man nur an einzelnen Stellen um, dann passt das nicht mehr zusammen. Das ist ebenfalls ein Risiko. Ebenso, im Status quo zu verharren. Da ist es doch besser, den Mut aufzubringen, die Dinge komplett anders zu machen, und das in hohem Tempo.

Bei welchen Unternehmen hat DSO gut funktioniert und sich vor allem wirtschaftlich in nachhaltig guten Zahlen bewiesen?

Beim US-Konzern General Electric/ Haier kann man sehen, wie gut es auch wirtschaftlich funktioniert. Und das nicht nur in einem Jahr, sondern über mehrere Jahre. Und wenn ich meinen ehemaligen Bereich betrachte, die Pharmadivision in der Region EMEA, wo wir schon vor drei Jahren DSO-ähnliche Elemente eingeführt haben, läuft das Geschäft dort trotz eines sehr schwierigen Marktumfelds weiterhin sehr ordentlich.

Würden Sie das bei Roche auch sagen? Dort sieht es gerade nicht so rosig aus.

Ich kann zur Situation bei Roche nichts sagen, weil mir da die konkreten Einblicke fehlen, aber auch dort habe ich von vielen sehr guten Fortschritten in einigen Bereichen gehört, die mit einem neuen Organisationsmodell erzielt wurden.

Am Ende dieses Prozesses werden weniger Menschen bei uns arbeiten. Aber wir werden den Prozess eben nicht von oben nach unten vollziehen, sondern vom Kunden rückwärts aufsetzen.
Heike Prinz, Vorständin für Personal bei der Bayer AG

Was entgegnen Sie Kritikern, die sagen, DSO sei vor allem eine etwas schickere Fassade für Stellenabbau und Kostensenkung?

Der Ansatz von DSO ist ein völlig anderer. Bei einer klassischen Restrukturierung gibt es eine kleine Anzahl von Leuten, die sich, salopp gesagt, in ein Kämmerlein einschließen und sich überlegen, wie sie Dinge anders machen wollen. Irgendwann gibt es ein Ergebnis mit Einsparzielen. Jede Führungskraft wird dann informiert, wie viel sie einsparen und abbauen soll. Bei DSO geht es vor allem darum, das Unternehmen wieder ganz auf seine Mission und damit auf seine Kunden und Produkte auszurichten. Was das im Einzelnen heißt, entscheidet jeder Bereich für sich selbst. Am Ende stehen in jedem Fall weniger Bürokratie, schnellere Prozesse, größere Kundenzufriedenheit und stärkeres Wachstum. Einsparungen sind dabei nur ein Nebeneffekt.

Wie viel Menschen müssen denn gehen?

Am Ende dieses Prozesses werden weniger Menschen bei uns arbeiten. Aber wir werden den Prozess eben nicht von oben nach unten vollziehen, sondern vom Kunden rückwärts aufsetzen.

Viele Mitarbeitende sind seit Jahrzehnten bei Bayer und schätzen die Sicherheit, Hierarchien und Regeln. Wie wollen Sie die von heute auf morgen entfesseln?

Gegen eine geringe Anzahl von Regeln ist ja auch gar nichts einzuwenden. Aber die allermeisten Kolleginnen und Kollegen sind mal zu Bayer gekommen, weil sie dafür brennen, neue Dinge zu erfinden, die Welt zu verändern, das Leben von Patienten zu verbessern und zu einer sicheren Nahrungsversorgung beizutragen. Diese Antriebskräfte wollen wir wieder zum Leben erwecken und zur Richtschnur für alle Beschäftigten machen.

Aber sowas verschleißt sich oftmals in komplexen Konzernstrukturen.

Korrekt. Aber die meisten bewahren sich dieses Feuer trotz Bürokratie und Hierarchie. Sie identifizieren sich sehr mit unserer Mission und arbeiten hier nicht nur, weil sie gutes Geld verdienen, Arbeitsplatzsicherheit haben oder einen 9-to-5-Job machen können. DSO soll das Feuer weiter entfachen.

Wie kann das gelingen?

Wir unterstützen mit vielen Maßnahmen die Kolleginnen und Kollegen dabei, mehr Verantwortung zu übernehmen und sich stärker selbst zu organisieren. Und das tun wir, indem wir sie fragen, was braucht ihr, um eure Kunden zu begeistern und eure Ziele zu erreichen, und dann dafür gemeinsam die besten Lösungen finden.

Führungskräfte sollen nun Visionäre, Architekten und Coaches sein. Was heißt das konkret?

Derzeit heißt Führung bei Bayer aufgrund der vielen Hierarchiestufen noch oft vor allem Vorgabe und Kontrolle. In einem DSO-System findet Führung viel stärker unterstützend aus dem Hintergrund statt. Der Chef steht nicht mehr vorne auf der Bühne, sondern begleitet und befähigt die Teams und sorgt dafür, dass sie alles haben, was sie brauchen, um ihre Arbeit gut zu machen.

Das liegt aber nicht jedem, der bislang ein klassischer Chef war. Wie ist da ein Umdenken möglich?

Jede Führungskraft muss sich bei dieser Veränderung quasi selbst reflektieren. Es gibt Menschen, denen macht es viel mehr Spaß, wenn sie sehen, dass ihre Teams erfolgreich sind. Andere werden auch erst in das neue Rollenprofil hineinfinden müssen. Aber es wird mit Sicherheit auch eine Gruppe geben, die sagt, das ist nicht meins, ich orientiere mich woanders neu. Das gilt für Führungskräfte, aber auch für Mitarbeitende. Und das ist auch völlig in Ordnung, wobei ich ganz klar sage, dass das neue System die Jobs bei Bayer insgesamt besser machen wird.

Wie verhindern Sie, dass in Zeiten des Fachkräftemangels nicht die falschen Leute gehen, die mit viel Expertise?

Um in einem hierarchischen System aufzusteigen, ist die Übernahme von Führungsverantwortung oft der einzige Weg, um sich – auch finanziell – weiterzuentwickeln. Und dass, obwohl manchen Menschen nicht alle Aspekte von Führung liegen, sondern sie etwa lieber forschen. Deswegen bieten wir diesen Kolleginnen und Kollegen eine Experten-Karriere in der neuen Organisation an. Dazu gehören dann auch Titel und ein entsprechendes Gehalt.

Wie wird künftig die persönliche Leistung gemessen, die sich zum Beispiel in variablen Gehaltsanteilen niederschlägt?

Natürlich gibt es auch im neuen System eine Perfomance-Bewertung. Bislang wurde auf die individuelle Leistung geschaut. In einem DSO-basierten Modell spielt das Team eine sehr viel größere Rolle und der Beitrag des Einzelnen zum Erfolg der Gruppe. Wie sich das praktisch umsetzen lässt, schauen wir uns gerade intensiv an.

Wie erklärt es sich, dass der Betriebsrat so ruhig reagiert? Bei einem zu erwartenden hohen Stellenabbau wäre doch mit Widerstand zu rechnen?

Wir haben die Arbeitnehmervertreter von Anfang an mitgenommen und sie nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, wobei dieser Prozess sehr intensive Diskussionen einschließt. Und sie haben sich sehr detailliert mit der Situation des Unternehmens sowie DSO beschäftigt. Wir haben bei Bayer ein kollaboratives Miteinander, wobei beide Seiten weiterhin ihre Rollen wahren.


Zur Person: Heike Prinz ist seit September 2023 im Vorstand der Leverkusener Bayer AG für Personal verantwortlich. Sie wurde 1964 in Kirchen (Sieg) geboren und studierte Betriebswirtschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin mit Abschluss als Diplom-Kauffrau (FH). 

Sie begann ihre berufliche Laufbahn 1986 bei der damaligen Schering AG, die 2006 von Bayer übernommen wurde, und war in verschiedenen Marketing- und Vertriebspositionen im Bereich Frauengesundheit tätig. 2009 übernahm sie die Leitung der Region Asien/Pazifik für den Bereich Frauengesundheit bei Bayer in Singapur und stieg 2011 zum Country Division Head für die Division Pharmaceuticals in Thailand und Kambodscha auf. 2013 wurde Prinz Chief of Staff für den Leiter Pharmaceuticals bei der Bayer Pharma in Berlin. 2015 wechselte Prinz zu Bayer in Japan, wo sie zunächst die Leitung des Bereichs Cardiovascular & Neurology übernahm und 2017 zum President & Representative Director ernannt wurde. Im Oktober 2021 kehrte Prinz nach Berlin zurück und leitete den Bereich Commercial Operations Europa, Naher Osten und Afrika der Pharma-Division von Bayer. (cos)

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