Die Journalistin Christiane Florin zeichnet das erschütternde Schicksal eines ehemaligen Heimkinds nach – laut Autorin kein Einzelfall.
Autorin zu Missbrauch„Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn die Caritas von ‚Lebensschutz‘ spricht“
![ARCHIV - 17.02.2022, Hamburg: Ein Caritas-Logo hängt im Treppenhauszugang der Station der Krankenstube für Obdachlose. (zu dpa: «Caritas ruft in Migrationsdebatte zu Besonnenheit auf») Foto: Marcus Brandt/dpa +++ dpa-Bildfunk +++](https://static.ksta.de/__images/2025/02/06/fd285706-3676-4315-bea5-248a05b7464a.jpeg?q=75&q=70&rect=0,417,4000,2250&w=2000&h=1334&fm=jpeg&s=6085c4ca0bb26c87122f272cc08d51c9)
Nach Ansicht von Christiane Florin arbeitet die Caritas Missbrauch nicht ausreichend auf.
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Frau Florin, 15 Jahre nach der großen öffentlichen Aufmerksamkeit für Missbrauch in der katholischen Kirche richten Sie den Blick jetzt auf die Caritas. Ausweitung der Skandalzone?
Christiane Florin: Ich richte den Blick auf das Schicksal des ehemaligen Heimkinds „Heinz“ und erzähle die Geschichte seines Überlebens. Es geht darum, wie viel innere Kraft dieser Mann aufbringen musste. Ich nenne ihn „Aufarbeiter“ – auch im Sinne von Malochen. Er hat in seinem Leben hart körperlich geschuftet. Nun schuftet er dafür, dass die ihm zugefügten Menschenrechtsverletzungen anerkannt werden, und er erlebt als bildungsbenachteiligter Mensch heftigen „Klassismus“. Bei der Recherche fiel mir aber schon auf, wie schweigsam die großen kirchlichen Träger – Caritas, Diakonie und Ordensgemeinschaften – sind.
Es gab aber doch den „Runden Tisch Heimerziehung“ und ein kirchliches Programm zur Opferentschädigung.
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Der runde Tisch ist ein Möbelstück, unter das man gerne die unangenehmen Dinge fallen lässt. Sie haben recht, es gab den runden Tisch Heimerziehung, an dem auch einige wenige Heimkinder saßen. Gemessen an dem, was den Heimkindern an struktureller Gewalt, Willkür, Sadismus und eben auch sexualisierter Gewalt widerfahren ist, war das Ergebnis sehr bescheiden. Es ging nicht etwa darum, die Wohlfahrtsverbände mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Sie saßen nicht als Täterinstitutionen auf der Anklagebank, sondern als Verhandlungspartner mit am Tisch. Und das auch nur, weil es nach der Veröffentlichung des Buchs „Schläge im Namen des Herrn“ von dem Journalisten Peter Wensierski öffentlichen Druck gab. Eigenes Verantwortungsbewusstsein, Aufarbeitung aus eigenen Antrieb – Fehlanzeige.
Macht ist das, was man macht, wenn man es kann, und niemand schreitet ein.
Immerhin sprach eine Studie im Auftrag beider Kirchen 2011 vom „System Heimerziehung“ und einer „totalen Institution“ mit religiös grundierter Ideologie.
Das war ein Anfang. Aber zur damals versprochenen systematischen Untersuchung der Verhältnisse in den Heimen ist es nie gekommen. Zwölf Jahre später hielt die Missbrauchsstudie des Ruhrbistums Essen erneut fest, man müsste sich auch mal mit dem Missbrauch in den Heimen befassen. Ich habe nachgefragt, ob das inzwischen geschehe. Die Antwort ist: Nein.
![Buchautorin Christiane Florin](https://static.ksta.de/__images/2025/02/06/a91e4245-af43-4503-a75b-8bcc2995d9ff.jpeg?q=75&q=70&rect=0,25,1772,997&w=2000&h=1332&fm=jpeg&s=dcc9b592dee7741269744b0a5f96062b)
Buchautorin Christiane Florin
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Sie schildern in Ihrem Buch „Keinzelfall“ über Geschehnisse in den 60er Jahren. Schwarze Pädagogik oder die Prügelstrafe waren damals in der Erziehung noch allgemein verbreitet – nicht nur in der Heimerziehung. Stellen Sie das in Ihrer Bewertung in Rechnung?
Ja, aber das Argument sticht im Fall von Heinz nicht. Er war Vollwaise und damit völlig schutzlos ausgesetzt. Das wussten diejenigen, die ihn gedemütigt, geschlagen, vergewaltigt haben, nur zu genau: Dieser Junge hatte niemanden mehr, an den er sich wenden konnte. Das nutzten der mutmaßliche Täter und die Täterin skrupellos aus. „Macht ist das, was man macht, weil man es kann, und niemand schreitet ein.“ Nach dieser simpelsten Definition haben die Täter gehandelt. Mit der Tatsache, dass auch in Familien geschlagen wurde, lässt sich ihr Verhalten weder erklären noch entschuldigen. Dass Heime für andere Kinder auch Schutzräume waren, steht überhaupt nicht im Widerspruch, sondern passt sogar perfekt in System.
Für die Institutionen mit der christlichen Nächstenliebe im Namen gibt es immer etwas Wichtigeres.
Sie formulieren den Anspruch, es müsse Gerechtigkeit für die Opfer geben. Wie sähe Gerechtigkeit aus?
Gerechtigkeit verlangen in erster Linie die Betroffenen selbst. Damit meinen sie zum einen eine finanzielle Entschädigung, die auch die teils lebenslangen Folgeschäden berücksichtigt. Noch wichtiger aber wären ihnen Antworten auf Fragen ihre Fragen: Warum war das überhaupt möglich? Wer hat davon gewusst? Warum wurde uns nicht geholfen? Warum hat uns später niemand von der verantwortlichen Institution von sich aus angesprochen? Sie wollen einen Teil ihrer Lebensgeschichte zurück, die für sie völlig im Dunkeln liegt. So etwas nennt man Aufarbeitung.
Ihrer Linie folgend, lautet die Antwort auf die Frage, warum sich die Institution – hier die Caritas – nicht gekümmert hat: Weil es ihr egal war.
Das sagt natürlich so offen niemand, wenn ich frage. Das ist aber das, was Heinz ganz stark empfindet. Er sagt: Als Heimkind war ich immer ein Mensch zweiter Klasse und bin es bis heute. Und ich glaube: Er hat recht. Ich mache die Erfahrung, dass es für die Institutionen mit der christlichen Nächstenliebe im Namen immer etwas Wichtigeres gibt, als sich diesem Kapitel ihrer Geschichte und den betroffenen Menschen zu widmen. Ein Sozialverband wie die Caritas hat noch immer das Image, der bessere Teil von Kirche zu sein. Auch das spielt eine Rolle. Aber es ist offenkundig alles wichtiger, als diesen Betroffenen, die ja das klar formulieren, was sie wollen, ihre Forderung zu erfüllen.
Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn die Caritas von ‚Lebensschutz‘ spricht.
Sie erwähnten Peter Wensierskis Buch „Schläge im Namen des Herrn“ und seine Wirkung. Was wollen Sie fast 20 Jahre danach mit Ihrem Buch erreichen?
Dass wir uns vergegenwärtigen, dass Menschen wie Heinz mitten unter uns leben. Und dass wir nicht so beschönigend, so abgesoftet in einem wissenschaftlichen oder – noch schlimmer – theologischen Jargon von dem sprechen, was Heinz und vielen anderen angetan wurde. Heinz hat das selbst aufgeschrieben, und ich gebe es sozusagen im O-Ton wieder. Das ist sehr drastisch, aber notwendig. Heinz hat mir oft gesagt, „ich schreibe das auf, das hilft meiner Seele“. Das ist ein wichtiger Impuls. Und ich hoffe, dass auch andere Betroffene sich zu dieser Art „biografischer“ Arbeit ermutigt sehen. Erwartungen an die Institution, falls Sie darauf hinauswollten, habe ich keine. Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn die Caritas von „Lebensschutz“ spricht.
Warum nicht?
Mir war schon durch meine Erfahrungen während der Recherche klar, dass die Caritas nicht reagieren wird. Und genau so ist es bislang auch. Zwischen Anspruch – wir treten ein für den Lebensschutz, das Leben jedes Menschen ist uns wichtig – und der Wirklichkeit, die ich am Beispiel eines einzelnen Lebens aufgezeigt habe, klafft ein Abgrund.