Kriminologe Frank Neubacher hält dem – wie er sagt – falschen Eindruck eines „Staatsnotstands“ bei der Migration überraschende Fakten entgegen.
Kölner Kriminologe„Der Eindruck, Kriminalität hänge von der Nationalität ab, ist falsch“
![Demonstranten in Cottbus laufen mit einem Plakat «Abschieben» durch die Innenstadt.](https://static.ksta.de/__images/2025/02/09/57a4c0ec-b5b4-4683-9f20-c7f4b3c89656.jpeg?q=75&q=70&rect=537,748,3306,1860&w=2000&h=1334&fm=jpeg&s=3d6a4cc34098004ca74fab3df72e4a74)
Nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt im Dezember 2024 laufen Demonstranten in Cottbus mit einem Transparent durch die Innenstadt.
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Herr Professor Neubacher, zusammen mit fast 70 Kolleginnen und Kollegen aus der Kriminalwissenschaft haben Sie die aktuellen Wahlkampfdebatten über Kriminalität kritisiert. Nach dem „Es reicht!“ aus der Politik klingt Ihr Aufruf wie ein entgegengesetztes „Es reicht!“ Was treibt Sie als Mitunterzeichner um?
Seit langem hören wir von der Politik das Bekenntnis zu einer evidenzbasierten Politik der Verbrechensbekämpfung und -prävention. Was aber tatsächlich geschieht und was wir gerade im Bundestagswahlkampf erleben, ist das Gegenteil. Für die angebliche Notwendigkeit gesetzlicher Verschärfungen und eines harten Durchgreifens wird mit Zahlen und Statistiken jongliert, die in ihrer Aussagekraft sehr begrenzt sind.
Wie belegen Sie das?
Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) gilt in der öffentlichen Debatte als Maß aller Dinge. Dabei weisen Polizei und Bundeskriminalamt selbst auf die Grenzen der PKS hin. Zum Beispiel erfasst sie zu gut 90 Prozent die von Privatleuten angezeigten und nur zu etwa zehn Prozent die durch die Polizei beobachteten Straftaten. Ob diese dann jemals angeklagt werden oder zu einer Verurteilung führen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Oder nehmen Sie die Tatverdächtigen: Diese gibt es nur, wenn ein Tatverdächtiger überhaupt bekannt ist, das heißt, wenn die Tat aufgeklärt wurde. Das geschieht in weniger als 60 Prozent der registrierten Fälle. Von all dem, was an Kriminalität passiert, sehen wir also öffentlich nur jene Fälle, die in die Statistik gelangt sind – und von diesen wiederum wissen wir nur in etwas mehr als der Hälfte der Fälle, wer dahintersteckt und ob es ein „Ausländer“ war.
Und noch etwas: Die Kategorie „Kriminalität von Nicht-Deutschen“ in der PKS orientiert sich allein an der Staatsangehörigkeit. Lebensverhältnisse, soziales Umfeld, Einkommen, Bildung von Tatverdächtigen – das spielt alles keine Rolle. Dadurch entsteht der Eindruck, Kriminalität hänge von der Nationalität ab. Das ist aber genauso falsch, wie anzunehmen, Kriminalität hänge von der Konfession, vom Familienstand, von der Haarfarbe oder von der Eigenschaft als Linkshänder ab. Es ist die Polizei selbst, die sagt: Ein Vergleich zwischen Deutschen und Nichtdeutschen sei „aufgrund der unterschiedlichen strukturellen Zusammensetzung (Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur)“ kaum möglich. Für die Wahrscheinlichkeit, straffällig zu werden, gibt es jedenfalls viel gewichtigere Kriterien.
Kriminalität ist jung und männlich.
Welche?
Ganz einfach und zugespitzt: Kriminalität ist jung und männlich.
Die aktuelle Diskussion zielt aber doch auf genau diese Merkmale – in Verbindung mit der Herkunft. Tatsache ist, dass im großen Migrationsschub der vergangenen Jahre überproportional viele junge, männliche Ausländer ins Land kamen. Oftmals illegal.
Das ist richtig. Gegen Steuerung und Kontrolle von Zuwanderung ist im Grundsatz nichts einzuwenden. Aber man muss in der Debatte schon beachten, was nach nationalem und internationalem Recht möglich und faktisch zu leisten ist. Das geschieht aber nicht. Ich erinnere beispielsweise an die Aussagen von Polizeigewerkschaften, die flächendeckende Kontrollen und Zurückweisungen an den Grenzen für „nicht umsetzbar“ halten. Um Stimmungen in der Bevölkerung zu bedienen, will die Politik manchmal um jeden Preis Zeichen setzen. Dabei setzt sie sich leichtfertig über Warnungen von Fachleuten hinweg.
![Professor Frank Neubacher, Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität zu Köln](https://static.ksta.de/__images/2023/11/15/b0aeffd5-29bf-45c1-ae76-ff909a07838e.jpeg?q=75&q=70&rect=0,55,1920,1080&w=2000&h=1334&fm=jpeg&s=efb531a540a0b7aac3802f2dfd1f1dfb)
Professor Frank Neubacher, Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität zu Köln
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Mich erinnern die aktuellen Forderungen an die Verschärfung des Sexualstrafrechts von 2021, als Verbreitung, Erwerb und Besitz von Kinderpornografie unterschiedslos und ungeachtet des Motivs zum Verbrechen hochgestuft und mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht wurden. Wie von Expertinnen und Experten vorhergesagt, führte das dazu, dass selbst in minderschweren Fällen (denken Sie an besorgte Eltern, die auf dem Handy ihres Kindes solches Material finden und es zu Beweiszwecken behalten oder weiterleiten) Verfahrenseinstellungen nicht mehr möglich waren und die Justiz völlig überlastet wurde. Am Ende musste die Gesetzesverschärfung drei Jahre später wieder zurückgenommen werden. Was mich an der aktuellen Debatte noch stört, sind zwei Dinge.
Man klagt über die jungen, männlichen Täter ausländischer Herkunft, kümmert sich aber nicht um deren Lage.
Welche?
Erstens: Stimmungen wie „Es reicht“ und „Zustrom begrenzen“ haben ja etwas Unbedingtes, Kompromissloses. Sie sind nur schwer wieder einzufangen und bleiben gefährlich. Sie können Ressentiments erzeugen und Radikalisierung fördern. Ich fürchte, einige Menschen werden in ihrem Denken und Tun eben nicht nach dem Aufenthaltsstatus, nach vorangegangener Straffälligkeit oder nach den Lebensumständen von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit differenzieren.
Zweitens: Man klagt über die jungen, männlichen Täter ausländischer Herkunft, kümmert sich aber nicht um deren Lage: Getrennt von der Familie, oft traumatisiert von der Flucht, entwurzelt, halt- und bindungslos. Das sind alles Risikofaktoren – ebenso wie die Umstände der Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen, wo Konflikte an der Tagesordnung sind. Übrigens reden wir immer über Nichtdeutsche als Tatverdächtige – aber auch 25 Prozent aller in der PKS erfassten Opfer sind Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Wer ohne Bindungen ist, wird eher Straftaten begehen, weil niemand ihn zurückhält und weil er weniger Rücksicht auf andere nimmt. Der Familiennachzug könnte hier vielen von denen helfen, die einen festen Aufenthaltsstatus haben und eben nicht „mal eben“ abgeschoben werden können. Aber der Familiennachzug soll – wenn es nach Union und FDP geht - eingeschränkt, wenn nicht ganz ausgeschlossen werden. Das würde Vereinsamung und soziale Instabilität noch verstärken. Aus kriminologischer Sicht ergibt das keinen Sinn.
Der Eindruck eines ‚Staatsnotstands‘ ist nicht zutreffend.
Laut der PKS 2023 – für 2024 liegt sie noch nicht vor – stieg die Gewaltkriminalität binnen eines Jahres um 8,4 Prozent. Da geht es um die besonders schweren Verbrechen, die die Öffentlichkeit aufrütteln. Solche Zahlen dann eben auch.
Nach einem – durch Corona mitbedingten – Rückgang in den Jahren 2017 bis 2021 gibt es in der PKS für 2022 und 2023 wieder einen Anstieg der Gewaltdelikte. Die meisten davon betreffen Körperverletzungs- und Raubdelikte. Ob sich das zu einem anhaltenden Trend verfestigt, müssen wir sorgsam beobachten. Für eine seriöse Einordnung sind jedoch längere Zeiträume in den Blick zu nehmen. Die Zahlen zur Gewaltkriminalität lagen in den Jahren 2004 bis 2009 schon einmal so hoch wie derzeit. Und wenn wir in die Strafverfolgungsstatistik schauen – sie enthält die Zahl der strafgerichtlichen Verurteilungen bundesweit –, dann sehen wir, dass in den Jahren 2017 bis 2020 mehr Nichtdeutsche wegen gefährlicher beziehungsweise schwerer Körperverletzung verurteilt wurden als 2023 und dass es 2010 bis 2014 sowie 2016 mehr entsprechende Verurteilungen wegen Raubdelikten gab. Der Eindruck einer extremen Ausnahmesituation (im Kontext von Migration ist politisch manchmal sogar vom „Staatsnotstand“ die Rede) ist also nicht zutreffend. Wir können sogar feststellen, dass trotz der jüngsten Anstiege 2022 und 2023 die Kriminalität langfristig, d.h. seit 1993 deutlich zurückgegangen ist.
Und noch einmal: die PKS erfasst – bei Abschluss der polizeilichen Ermittlungen – Straftaten, die von der Polizei festgestellt oder von Bürgerinnen und Bürgern angezeigt wurden. In beiden Punkten sind Nichtdeutsche benachteiligt. Ihnen gegenüber ist die Anzeigebereitschaft und auch die Intensität polizeilicher Kontrollen größer. Das ist Konsens in der Kriminologie.
Wir fordern seit langem eine Dunkelfeld-Studie.
Wie ließe sich diese Schieflage ausgleichen?
Wir fordern seit langem eine regelmäßige, staatlich finanzierte Dunkelfeld-Studie, wie es sie in den USA und in England seit Jahrzehnten gibt. Sie könnte zuverlässiger Auskunft geben über den tatsächlichen Stand der Kriminalität sowie das Anzeigeverhalten – und nicht nur über angezeigte Straftaten.
Hieße das nicht, dass die Zahlen nur noch größer würden?
Tatsächlich ist davon auszugehen, dass das Dunkelfeld deutlich größer ist als das Hellfeld der registrierten Kriminalität, und zwar keineswegs nur im Bereich von Bagatelldelikten. Aber solche Daten würden viel zuverlässigere Schlüsse erlauben, als das jetzt der Fall ist, wo wir gewissermaßen auf einem Auge (Dunkelfeld) blind sind. Dort, wo kleinere, regionale Dunkelfeld-Studien zur Jugendkriminalität durchgeführt wurden - ich spreche vom „Niedersachsensurvey“ des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen -, hat sich etwa das Bild einer massiv gestiegenen Jugendkriminalität – mit Ausnahme des Ladendiebstahls – nicht bestätigt.
Was Sie sagen, könnte an die alte Devise erinnern: Jeder fabriziert sich seine Statistik so, wie er sie braucht. Sie zum Beispiel zur Relativierung? Wäre jedenfalls ein möglicher Gedanke.
Ist das nicht der klassische Versuch der Populisten, Wissenschaft abzuwerten und sich der Forderung nach überprüfbaren Argumenten zu entziehen? Wissenschaft ist keine Frage des Gefühls. Sie widerspricht den Propagandisten von „Fake News“ und „alternativen Fakten“ und erweist der Gesellschaft damit einen wichtigen Dienst. Wer Ursachen von Kriminalität verstehen und ihr vorbeugen will, der muss in die Tiefe gehen und die Voraussetzungen beziehungsweise Möglichkeiten von Wissen abklären. Wenn wir in der Kriminologie uns auch noch den politischen und medialen Reflexen anschließen würden, hätten wir unseren Job verfehlt.