„Größtes soziales Experiment“Smartphones mit dramatischen Folgen – Erstes Kölner Gymnasium will Handyverbot

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Ein Schild «Handyverbot» ist am Eingang zur Schule in der Köllnischen Heide in Neukölln angebracht. (ZU dpa: «Bildungsministerium: Vorerst kein gesetzliches Handyverbot an Schulen») +++ dpa-Bildfunk +++

Ein Kölner Gymnasium will zur Schule mit den strengsten Handy-Regeln werden.

Ein Buch eines US-Psychologen befeuert an Kölner Schulen Debatten über die Risiken von digitalen Medien für psychische Gesundheit.

Geht an Social Media und Gaming auf dem Smartphone gerade eine ganze Schülergeneration psychisch kaputt? Genau das legt der US-Psychologe Jonathan Haidt in seinem gerade auf Deutsch erschienen Bestseller „Generation Angst – wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren“ in einer Langzeit-Studien dar. Kein Wunder, dass das Buch in Schulen auf Resonanz stößt. Bestätigt es doch die Sorge vieler Lehrkräfte.

„Wir beobachten ein Suchtverhalten bei einer stetig wachsenden Zahl von Schülerinnen und Schülern“, bestätigt Barbara Wachten, Schulleiterin des Dreikönigsgymnasiums. Sie und viele andere Schulleitungen treibt um, was die extensive Smartphone-Nutzung mit Hirn und Psyche anrichtet.

Der Psychologe Haidt hat die Jugendlichen der Generation Z, die als erste ihre Pubertät mit den sozialen Medien in der Tasche durchlebt haben, als Testpersonen genutzt. Im Buch weist er unter anderem nach, dass die Zahl der Schülerinnen mit Depressionen oder Angststörungen seit 2010 – also exakt seit Einführung des Smartphones – konstant ansteigt. Inzwischen hat sie sich mehr als verdoppelt. Ebenso wie die Rate an Selbstverletzungen und Suiziden. Das Besondere daran ist, dass Haidt eine parallele Entwicklung für Kanada, Australien, Dänemark, Finnland und Schweden nachweist. Er konstatiert eine „internationale mentale Krankheitsepidemie“ durch Smartphones.

Viele Jugendliche können den Handy-Konsum nicht mehr selber steuern

Seine Diagnose: Es macht etwas mit den Gehirnen, wenn sie in dieser sensiblen Phase der Adoleszenz lernen, dass es nichts Wichtigeres gibt, als auf Social-Media-Plattformen die eigene Marke zu managen und jederzeit gut auszusehen. Bei vielen Mädchen führte dies dazu, dass sie sich unzulänglich fühlen und etwa eine Essstörung entwickeln. Verstärkt durch Algorithmen, die Jugendlichen yydann immer mehr Inhalte anzeigen, die Körpermaße, Ernährung und Diäten thematisieren.

Bei Jungen sind es vor allem die Spiele auf dem Smartphone, die in Abhängigkeiten führen. Gesteuert von einem darauf abzielenden Spielmodus, der sie mit Belohnungsmechanismen immer weiter am Handy hält.

Derzeit läuft das größte soziale Experiment der Menschheitsgeschichte
Rat für digitale Ökologie

Haidt konstatiert, dass Jugendliche selbst in der Schule weiter am Handy hingen. Genau das sei das Problem, dass viele das nicht mehr steuern könnten, berichtet Schulleiterin Wachten. Eigentlich gibt es an jeder Schule Handy-Regeln. Aber de facto halte sich das Gros der Schülerinnen und Schüler nicht mehr daran. Keine Lehrkraft an weiterführenden Schulen schafft mehr, diese ständig zu kontrollieren: Die Handys liegen sichtgeschützt vor den Mäppchen oder unterm Tisch auf den Oberschenkeln. Während des Unterrichts wird gezockt, gechattet oder TikTok-Videos geschaut. Und zwar unabhängig von der Schule und der Schulform.

Schulleiterin Barbara Wachten.

Barbara Wachten, Schulleiterin am Dreikönigsgymnasium in Bilderstöckchen, will die Schulgemeinschaft für ein Handyverbot gewinnen.

Jungs nutzen den Toilettengang mit Handy in den Socken versteckt, um dort das Computerspiel fortzusetzen und die begehrten Flammen, die für erfolgreiches Bewältigen von Spiellevels vergeben werden, nicht zu verlieren.

Das Problem ist, dass Social-Media-Plattformen wie Instagram oder TikTok und auch die Designs der Computerspiele von den Anbietern so gestaltet sind, dass sie gezielt Abhängigkeiten erzeugen. Der deutsche Rat für Digitale Ökologie, dem die Neurowissenschaftlerin Frederike Petzschner und die Transformationsforscherin Maja Göpel vorstehen, hat in einem Positionspapier beschrieben, wie die Algorithmen und die Spielmechanismen gezielt auf das Belohnungssystem des Gehirns wirken. Dieses Dopamin-System wird genutzt, um Menschen am Gerät zu halten.

Dies sei besonders für junge Menschen gefährlich, weil Abhängigkeiten in einer Phase erzeugt werden, in der ihre Gehirnentwicklung noch lange nicht abgeschlossen sei. Die intensive Nutzung dieser Medien könne langfristige Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung Jugendlicher haben, mahnen die Wissenschaftler. Damit laufe derzeit „das größte soziale Experiment der Menschheitsgeschichte.“

Teenager verbringen durchschnittlich über acht Stunden am Tag mit Unterhaltungsmedien

Die jüngste Erhebung zeigt, dass Teenager zwischen 13 und 18 Jahren in Deutschland im Durchschnitt über acht Stunden täglich mit Unterhaltungsmedien verbringen. Bei den Acht- bis Zwölfjährigen sind es fünfeinhalb Stunden pro Tag.

Dabei haben viele von ihnen ein Problembewusstsein: In der Studie „Jugend in Deutschland 2024“ sagten 53 Prozent von sich, dass sie das Smartphone viel mehr nutzen als ihnen lieb ist, 26 Prozent stimmten der Aussage teilweise zu. Über ein Drittel der Jugendlichen stimmte der Aussage zu „Mein Nutzungsverhalten des Smartphones könnte man Sucht nennen“. 29 Prozent stimmten dem teilweise zu. Es gebe Umfragen, die zeigten, dass viele Jugendliche TikTok hassen, obwohl sie dort ständig Zeit verbringen, so Haidt. Sie können es aber nicht steuern.

Schülerinnen sitzen im Foyer eines Gymnasium auf einer Freitreppe und halten jeweils ein Smartphone. Das Handyverbot an bayerischen Schulen soll gelockert werden: Künftig sollen die Schulen selber entscheiden dürfen, ob sie Schülerinnen und Schülern die private Handynutzung in den Pausen oder über Mittag erlauben oder nicht. (zu dpa "Handyverbot an Schulen wird gelockert - Entscheidung künftig vor Ort") +++ dpa-Bildfunk +++

Bei vielen Mädchen führen Soziale Medien dazu, dass sie sich unzulänglich fühlen.

Wobei die psychischen Probleme nur die eine Seite sind. Die andere ist die gesunkene Aufmerksamkeitsspanne. Das sei sehr deutlich spürbar, bestätigt Antje Schmidt, Schulleiterin des Albertus-Magnus-Gymnasiums in Ehrenfeld. Selbstständig Texte tiefer inhaltlich zu durchdringen, falle immer schwerer und sei für die meisten Schülerinnen und Schüler nur noch gelenkt durch Rückfragen möglich.

Selbst Kitakinder haben schon ein eigenes Smartphone zum Spielen

Dabei fangen die Probleme inzwischen in der Kita an: War es noch vor fünf Jahren so, dass es das erste Smartphone nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule gab, hat inzwischen nicht nur der überwiegende Anteil der Grundschüler ein Smartphone. „Wir stellen beim Infoabend fest, dass sogar immer mehr Kitakinder ein eigenes Smartphone zum Spielen haben“, berichtet Karsten Stoltzenburg, Schulleiter der Grundschule Lohmarer Straße in Humboldt-Gremberg. Er fragt das systematisch ab und stellt fest, dass sehr vielen Eltern schlicht das Problembewusstsein fehle.

„Das sind Kinder, die statt draußen zu spielen und sich zu bewegen oder zu malen, vor dem Bildschirm Computerspiele spielen.“ Die Folgen seien dramatisch. Die Konzentrationsfähigkeit der Erstklässler habe massiv abgenommen, so Grundschulleiter Stoltzenburg. Sehr viele könnten nur noch einen ganz kurzen Zeitraum an etwas arbeiten oder hätten Probleme mit der Impulskontrolle. Viele könnten keinen Stift in der Hand führen, wenn sie in die Schule kommen.

Es ist die Umstellung von einer auf Spiel basierten Kindheit auf eine digital basierte Kindheit. Alles, was wichtig zur Entwicklung von mentaler Stärke ist, werde über Bildschirme vermittelt, die so designt sind, dass sie dich am Gerät halten, konstatiert Haidt. Problematisch sind dabei nicht nur die langen Nutzungszeiten, sondern das, was junge Menschen in dieser Zeit nicht tun: sich bewegen, sich begegnen, sich auseinandersetzen, sich langweilen. Kreativ werden und selbst Denken werde systematisch verlernt, so Wachten. „Bei Fragen suchen Schüler sofort mit einem Klick die Lösung.“

Experten empfehlen Smartphones erst ab 14 Jahren

Haidt empfiehlt, neue gesellschaftliche Normen zu setzen: Smartphones erst ab 14 Jahren, Social Media erst ab 16. Zumindest aber sollten Schlafenszeit, Mahlzeiten und Schulzeit smartphonefrei gehalten werden. Das einfachste, was Politiker tun könnten, sei, handyfreie Schulen zu schaffen. In den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien gibt es inzwischen ein Handyverbot auch an weiterführenden Schulen.

In Deutschland ist das nicht geplant und könnte ohnehin nur auf Landesebene festgelegt werden: Für NRW wird es ein solches Handy-Nutzungsverbot bis auf weiteres nicht geben. Das Schulministerium verweist darauf, dass die Schulen per Schulkonferenzbeschluss die Regeln für den Umgang bestimmen könnten. So könne also auch die Handynutzung im Unterricht untersagt werden.

Wir werden jetzt im Hinblick auf Handys die strengste Schule Kölns
Barbara Wachten, Schulleiterin des Dreikönigsgymnasiums in Bilderstöckchen

Schulleiterin Wachten will jetzt vorangehen und als erste weiterführende Schule in Köln per Beschluss der Schulkonferenz ab dem neuen Schuljahr ein Handyverbot für die Unter- und Mittelstufe einführen. Quasi als Pilotversuch – statt des ganzen Ärgers, der zahllosen Einzelgespräche und getriebener Lehrkräfte, die wie Sisyphos Handys einkassieren.

„Wir werden jetzt im Hinblick auf Handys die strengste Schule Kölns, habe ich den Eltern der neuen Fünftklässler angekündigt“, erzählt sie augenzwinkernd. Und die hätten applaudiert. Sie hofft, dass die ganze Schulgemeinde mitzieht. Weil aber ein Verbot allein nichts bringt, sollen Handyhotels angeschafft werden, die im Klassenraum stehen oder hängen. Das sind Vorrichtungen mit kleinen Fächern mit Namen für jedes Kind. Dort müssen die Handys morgens hineingelegt werden und können am Ende des Schultags wieder abgeholt werden.

Rat für digitale Ökologie nimmt auch die Politik in die Verantwortung

Dabei verweist Wachten auch an die Verantwortung der Eltern. Schule könne dieses Problem nicht allein lösen. Eltern müssten eben auch den Handykonsum regulieren. „Das ist anstrengend, das bedeutet Konflikte, aber das ist ihr Job“, so Wachten. Haidt sieht hier ein großes Defizit: So sehr es in der realen Welt eine Überbehütung der Kinder gebe, so sehr gebe es bezogen auf die Online-Welt eine Verwahrlosung.

Aber es sei auch die Politik gefragt, mahnt der Rat für digitale Ökologie. Es brauche ein fundamentales Umdenken in der Gestaltung von sozialen Plattformen. So müsse gesetzlich untersagt werden, mit Verhaltensvorhersagen Geld zu verdienen. Besonders besorgniserregend sei die Einschränkung der Urteilskraft von so vielen Menschen. „Die wirtschaftlichen Interessen von Technologiekonzernen stellen eine mögliche Gefahr für die Grundpfeiler einer freiheitlichen, demokratischen Staatlichkeit dar.“ Das dürfe nicht länger hingenommen werden.

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