Kommentar zu Gewalt an SchulenWir können es uns nicht leisten, die Schulen verwahrlosen zu lassen

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Die Polizei steht nach mehreren Notrufen im Juni 2023 vor einer Schule in Berlin Kreuzberg.

Die Polizei steht nach mehreren Notrufen im Juni 2023 vor einer Schule in Berlin Kreuzberg.

Der Ton wird rauer, Hemmschwellen sinken, die Zahl der Gewalttaten an Schulen steigt. Es gibt Ursachen dafür. Konkrete Maßnahmen gäbe es auch. 

In einem Wuppertaler Gymnasium attackiert ein 17-Jähriger vier Mitschüler mit einem Messer – er sitzt wegen versuchten Mordes in Untersuchungshaft. In Bremerhaven schlagen schulfremde Jugendliche Fenster ein, bedrohen und beleidigen Schüler, Schülerinnen und Lehrkräfte. In Uetersen verprügelt und demütigt ein 12-Jähriger einen Mitschüler und filmt sich dabei. In Delmenhorst sticht ein 14-Jähriger auf einen Jüngeren ein. In Cuxhaven greift eine 16-Jährige eine Mitschülerin mit einem Messer an. Ähnliche Fälle gab es in Pforzheim, Petershagen, Bischofswerda.

Es sind Meldungen aus den letzten Monaten, und sie zeigen nur einen winzigen Ausschnitt eines massiven Problems: Die ‚‚Gewalt an deutschen Schulen“ nimmt zu. Es wird flächendeckend geprügelt, getreten, erpresst, gedroht, gemobbt und zerstört. Die Fälle gehen in die Tausende. An jedem Schultag kommt es allein in Berlin im Schnitt mindestens zu fünf Polizeieinsätzen. Das Sicherheitsgefühl sinkt, die Schule als Schutzraum gerät unter Druck. Schulleitung und Lehrkräfte schlagen Alarm. Nicht überall, nicht immer. Aber der traurige Trend ist eindeutig.

Auch Eltern werden respektloser

Gewalt durch Worte und Taten ist jedoch kein Problem der Schulen. Es ist ein Problem der Gesellschaft. Schulen spiegeln, was im Land vorgeht. Sie sind das Schattenbild einer aggressiver werdenden Gegenwart. Kinder prahlen in sozialen Medien mit rassistischen und sexistischen Grenzverletzungen und brutalen Taten, weil sie es so gelernt haben. Der Ton wird rauer, nicht nur bei den Schülern untereinander. Lehrer und Lehrerinnen berichten, dass auch Eltern respektloser und unhöflicher im Umgangston werden – und gleichzeitig überhöhte Erwartungen an die Schule haben. Es gibt immer mehr Kinder und Jugendliche, die es zu Hause nie gelernt haben, selbst mit kleinsten Frustrationserlebnissen umzugehen oder Konflikte anders als mit Schlägen und Geschrei zu „lösen“.

Deutschland ist – Gott sei Dank – weit entfernt von amerikanischen Verhältnissen. Aber jedes Messer im Ranzen, jede Schreckschusspistole auf dem Schulklo und jedes Mobbingvideo im Netz leistet der Verrohung Vorschub.

Was sind die Gründe? Fachleute nennen den Corona-Schock, „Defizite in der Selbststeuerung“, ein geringes Selbstwertgefühl und familiäre und soziale Ursachen wie Gewalterfahrungen in der Familie oder das pervertierte Buhlen um Akzeptanz unter Gleichaltrigen.

Drei Achillesfersen des Bildungssystems

Ein gesundes, solidarisches, warmherziges Klima an Schulen wirkt auf emotionaler Ebene tief in eine Gesellschaft hinein und ist schon deshalb Gold wert. Lehrer tun gewiss ihr Möglichstes, aber nicht wenige fühlen sich selbst nicht mehr sicher. Es mangelt an Sozialarbeitern, Schulpsychologen, Präventionsweiterbildung – kurz: an Personal, Zeit und Geld, den drei Achillesfersen des deutschen Bildungssystems. Kein Land der Welt kann es aber sich leisten, der Verwilderung seiner Bildungseinrichtungen tatenlos zuzusehen.

Auf keinen Fall darf die Gesellschaft Lehrkräfte und Schüler mit diesem Problem alleinlassen. Schulen brauchen jede Hilfe. Gewiss ist es bitter, wenn Sicherheitsdienste in Schulen patrouillieren müssen. Security-Personal auf dem Pausenhof? Das kollidiert mit den idealistischen Bildern von der Schule als friedlichem Lernidyll. Aber es funktioniert. Es hilft ja nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Konkrete Fälle zeigen, dass Wachleute an Problemschulen eine deeskalierende Wirkung haben können.

Hilfe ist kein Hexenwerk

Das soziale Gefüge einer Schule ist mindestens ebenso wichtig wie die Lerninhalte. Denn ohne ein friedliches, ermutigendes Miteinander nützt der schönste Lehrplan ja nichts. Schulen sind schon lange keine reinen Bildungsstätten mehr. Sie sind multiethnische Lebensräume und soziale Reparaturwerkstätten, weit über die klassischen Problemkieze hinaus. Zur Wahrheit gehört auch: Es sind nicht selten die chancenlosen, sich tief gedemütigt fühlenden, lobbylosen Kinder aus bildungsfernen, oft migrantischen Schichten, deren eigene Ohnmacht in Gewalt mündet, weil das Land seit Jahrzehnten daran scheitert, sie nachhaltig zu integrieren.

Am härtesten schlagen diejenigen zu, die sich selbst am schwächsten fühlen. Um diesen Mechanismus zu durchbrechen, reicht es nicht, Pausenkonfliktlöser zu benennen oder „Zehn goldene Schulregeln“ ins Klassenzimmer zu hängen. Die sind auch wichtig, behandeln aber nur Symptome. Was wirklich helfen würde, ist kein Hexenwerk: Es sind mehr Jugendräume, mehr Zugehörigkeit, mehr Perspektive, mehr Ansprechpartner auf Augenhöhe, mehr positive Erlebnisse jenseits der Medienabgründe. Und das auch: mehr Konsequenz und klare Kante bei der Verfolgung von Straftaten.

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