Die bekanntesten russischen Regimekritiker sitzen im Gefängnis oder sind zum Schweigen verdammt. „Die russische Opposition ist tot“, sagt ein Russland-Kenner. Stimmt das?
Wo ist die Opposition?Der Krieg und die unerträgliche Stille in der russischen Gesellschaft
Jewgeni Roisman ist heute der bekannteste russische Oppositionspolitiker, der nicht hinter Gittern sitzt. Was den 60-jährigen Hünen, der Ende August 2022 kurzzeitig inhaftiert und dann unter Auflagen freigesetzt wurde, vor den Häschern schützt, sind vor allem zwei Dinge: Einerseits trennen den ehemaligen Bürgermeister von Jekaterinburg 1800 Kilometer Luftlinie vom Moskauer Epi-Zentrum der Macht. Noch wichtiger aber dürfte sein, dass Roisman in der Millionenstadt am Ural wie ein Popstar gefeiert wird – und das unterscheidet ihn von den viel bekannteren Oppositionellen wie Alexej Nawalny oder Wladimir Kara-Murza.
Als ein vermummtes Einsatzkommando der russischen Sonderpolizei SOBR am 24. August 2022, ein halbes Jahr nach Beginn des Angriffskrieges, Roismans Wohnung stürmte, war der kremlnahe Telegramkanal „Mash“ live dabei. Roisman sei der 16.437. Russe, der wegen seines Auftretens gegen Kremlchef Wladimir Putins „Spezialoperation“ festgenommen wurde, gab das Bürgerrechtsportal OVD-Info bekannt. Zudem war er der 224. Russe, gegen den ein Strafverfahren eröffnet wurde.
Roisman überraschend entlassen, aber mundtot gemacht
Tags darauf rumorte es in der Millionenmetropole am Ural, Menschen hielten Schilder in den Händen, auf denen stand „Freiheit für Jewgeni“ – doch lässt sich Putins Regime durch so etwas beeindrucken?
Man weiß nicht warum – jedenfalls entließ man Roisman nach einigen Tagen in Moskau unter Auflagen wieder Richtung Ural. Er durfte nicht mehr telefonieren, kein Internet mehr nutzen, keine Post mehr empfangen, musste öffentliche Plätze meiden. Letztes wiegt wohl am schwersten, denn Roisman war Jekaterinburgs bekanntester Jogger, oft liefen Hunderte mit ihm.
Als „ausländischer Agent“ eingestuft tauchte der Mann, der einst als Jugendlicher aus trüben Halbweltsphären zu einem engagierten Kämpfer gegen Drogenkriminalität aufgestiegen war, heute in die innere Immigration ab. „Wenn das System dich zerquetscht, zerbricht, verbiegt, wird das Du-Selbst-Bleiben zum Ziel des Lebens“, beschreibt er – und wartet auf die Zeit nach Putin.
Nawalnys fehlende Hausmacht
Eine solche regionale Hausmacht, gebildet aus Tausenden, die sein tägliches soziales Wirken schätzen, die ihn kennen und erkennen – Roismans Gesinnungsfreud Alexej Nawalny hatte sie nie. Den 46-Jährigen trifft die ganze Härte des Regimes, weil er zwar in informierten Intellektuellenkreise der russischen Großstädte, nicht aber in der breiten Bevölkerung breite Zustimmung fand.
Besonders legt man ihm zur Last, dass er die Korruption und Verkommenheit des von mafiösen Strukturen durchzogenen Oligarchenreiches auf seinen Enthüllungsplattformen gnadenlos bloßstellte. Für all das plus seine internationale Prominenz, die ihm bis heute vielleicht das Leben gerettet hat, wird jetzt Nawalny bis hin zur physischen Versehrtheit bestraft und gegängelt.
Kreml-Kritiker Nawalny ins Straflager geschickt
Vor zwei Jahren wurde Nawalny zu zwei Jahren und acht Monaten Straflager verurteilt, wegen angeblich nicht eingehaltener Bewährungsauflagen. Man bestrafte ihn, nachdem der Putin-Kritiker mit knapper Not eine Nowitschok-Vergiftung überlebt hatte, die er in Deutschland auskurierte. Nach seiner Genesung kehrte er freiwillig nach Moskau zurück, trotz drohender Haft.
Ende Januar 2023 tauchten Bilder des völlig abgemagerten Gefangenen auf, der seit Juni 2022 im Zuchthaus IK-6 nahe der östlich von Moskau gelegenen Stadt Wladimir einsitzt. Nawalnys Anwalt Wadim Kobsew twitterte, sein Klient habe sieben Kilo verloren und schneidende Magenschmerzen, nachdem man erst einen grippekranken Häftling in seine Zelle verlegt und Nawalny dann mit riesigen Dosen medizinisch nutzloser Antibiotika kuriert habe.
Umgang mit Oppositionellen: Schikane in der Haft
Er soll die Zeit seit über 100 Tagen in einer Arrestzelle zubringen. Weil er seine Jacke nicht völlig zugeknöpft hatte, sich zur Unzeit wusch oder einen Vollzugsbeamten mit Dienstgrad und Nachnamen statt mit Vor- und Vatersnamen anredete. Die Zelle: zweieinhalb mal drei Meter, ein winziges Gitterfenster, ein Klo zum Hinhocken, ein Waschbecken und eine Pritsche, die von fünf bis 21 Uhr hochgeklappt wird.
Zwei Beobachter einer regimetreuen Haftprüfungskommission hätten ihn im Karzer besucht, schreibt Nawalny. Sie hätten alles für gut erklärt, nur die Beleuchtung nicht. Jetzt hätte man ihm eine riesige Lampe mit drei Hochleistungsbirnen in die Zelle gehängt, die heller strahle als jede OP-Leuchte. „Ich werde in drei Monaten blind sein“, schreibt er.
Nach europäischen Normen Folter
In der sogenannten Kammerhaft nach dem Arrest erwarten ihn kaum bessere Bedingungen. „Das Innere solcher Zellen deprimiert“, heißt es selbst auf der Website der russischen Strafvollzugsbehörde FSIN. „Im Sommer ist es sehr heiß, im Winter kalt und immer stickig.“
Kammerhaft soll Gefangene mit Rechtsansprüchen brechen. „Was in russischer Kammerhaft Standard ist, gilt nach europäischen Normen als Folter“, sagt Sergei Dawidis von der Menschenrechtsorganisation Memorial.
Trotz seiner schlechten Gesundheit attackiert Nawalny Putin weiter – wofür der Kreml die Lagerleitung verantwortlich macht, die ihrerseits den psychischen und physischen Druck auf den Dissidenten erhöht. Sobald das Ende seiner derzeitigen Strafe naht, wird eine neue verhängt. Bereits im März 2022 wurde Nawalny als mutmaßlicher Betrüger zu weiteren neun Jahren Haft verurteilt, dazu läuft ein Extremismusverfahren.
„Die russische Opposition ist tot“, ist Christian Neef überzeugt, Russland-Kenner und langjähriger Moskau-Korrespondent des Spiegel. „Ich sehe da keine relevanten Personen, die eine herausragende Rolle spielen. Ich glaube, Alexej Nawalny wird im Westen überschätzt. Bei allem Respekt vor seinem Mut, so ist er doch mutmaßlich eher eine Projektion westlicher Wünsche als ein Oppositionsführer, der das Regime ernsthaft gefährdet“, so Neef zum Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
Journalist Wladimir Kara-Mursa verhaftet
Einer, der es vorzog, in Russland zu bleiben, während Tausende Oppositionelle nach er Ukraine-Invasion das Land verließen, ist der Historiker und Journalist Wladimir Kara-Mursa. Er wurde im April verhaftet, nachdem er kurz zuvor dem US-Sender CNN ein Interview gegeben hatte. Darin hatte er Putins Herrschaft als ein „Regime von Mördern“ bezeichnet.
„Wir alle kennen das Risiko oppositioneller Aktivitäten in Russland. Aber ich konnte angesichts der Geschehnisse nicht schweigen, denn Schweigen ist eine Form der Mittäterschaft“, schrieb er im November in einem Brief aus dem Gefängnis an einen BBC-Journalisten.
Kara-Mursa wurde beschuldigt, den Einmarsch der russischen Streitkräfte in der Ukraine verurteilt zu haben, was die russischen Behörden als Verbreitung von Falschmeldungen über den Konflikt ansahen. Deshalb drohen ihm bis zu 15 Jahre Gefängnis.
Zusätzlich bis zu 24 Jahre Haft
Ein weiteres Strafverfahren wegen Aktivitäten in einer „unerwünschten Organisation“ wurde eröffnet, zudem eines wegen Hochverrats. Das könnte ihm zusätzlich bis zu 24 Jahre Haft einbringen. 2015 und dann noch einmal zwei Jahre später brach er nach einem angeblichen Giftanschlag zusammen und fiel ins Koma. Obwohl die Ärzte seine Überlebenschancen als gering bezifferten, entging er beide Male knapp dem Tod. Sein Mitstreiter, der liberale Duma-Abgeordnete Boris Nemzow, wurde 2015 an der Kremlmauer erschossen. Die liberale Oppositionspartei Jabloko verschwand unter Grigori Jawlinski in der Bedeutungslosigkeit und näherte sich in einigen Fragen der Kremlposition an. „Jabloko hat sich selbst ausgeschaltet“, so Neef.
Als der Krieg begann, gab es in russischen Städten noch große Proteste, die mit massiver Gewalt unterdrückt wurden. Unter Androhung schwerster Strafen konnte das Regime die Antikriegsproteste niederhalten, fast 20.000 Menschen wurden innerhalb eines Jahres inhaftiert. Wer noch rechtzeitig fliehen konnte, hat Putins Reich längst verlassen.
Wie die „Washington Post“ berichtet, sollen ersten Daten zufolge mindestens 500.000, vielleicht sogar fast eine Million Menschen das Land seit Beginn der Invasion in der Ukraine verlassen haben. Organisationen wie die in Berlin ansässige Transit, gegründet von drei Frauen aus St. Petersburg, wie die „New York Times“ schreibt, helfen dabei. Transit ist eine von mindestens fünf Organisationen, die Dissidenten helfen, aus Russland herauszukommen.
Keine Massenproteste gegen Putin
Anders als vom Westen erhofft gibt es heute keine Massenproteste gegen Putins Kriegskurs, offensichtlich nicht einmal eine substanzielle Opposition im Verborgenen. Alexander Gabuyev, Russland-Experte bei der US-Denkfabrik Carnegie Endowment for International Peace, schätzt, dass aktuell 20 Prozent der Russen für den Krieg sind, 20 Prozent dagegen, und 60 Prozent schlichtweg passiv.
Das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada sieht Putins Zustimmungswerte aktuell bei 82 Prozent, seine Regierung kam im Januar immerhin auf 67 Prozent Zustimmung, 66 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, Russland bewege sich „in die richtige Richtung“, berichtet das „Handelsblatt“. Auch wenn solche Zahlen unter Vorbehalt stehen, weil sich Menschen in totalitären System nicht frei äußern und dadurch oft verzerrte Bilder entstehen, so sind sie doch ernüchternd.
Wo kommt das große Einverständnis mit der russischen Politik her?
Doch warum ist das so? Wie hat es das Regime geschafft, für seine katastrophale Politik ein gewisses Maß an Verständnis zu erzeugen? Paul Katzenberger, RND-Korrespondent und seit fünf Jahren in Moskau lebend, macht dafür mehrere Gründe verantwortlich: „An erster Stelle die übermächtige, unheilvolle Propaganda, die vor allem bei der breiten ungebildeten Masse Wirkung zeigt, weil sie von Putin vertreten wird, dem viele Russen vertrauen, weil er als Stabilisator des Landes gilt, weil er den schmerzhaften Wandel der ‚wilden‘ 90er-Jahre beendet hat und heute als Kümmerer mit Detailwissen auftritt“.
Doch selbst besser informierte Menschen, die das Regime kritisch sehen, lehnen den Krieg nicht grundlegend ab, „weil sie seit Jahrzehnten ein Gefühl der Kränkung durch den Westen verspüren“, wie Katzenberger erklärt. „Sie verweisen auf eine gefühlte Ungleichbehandlung Russlands, beim Thema Doping im Sport zum Beispiel und jetzt wieder bei den drastischen Sanktionen des Westens oder auf Vorurteile, denen Russen im Ausland begegnen.“
Über Jahrzehnte gewachsene Entfremdung
Trotz einer grundlegenden Ablehnung der Staatsmacht glauben sie, dass es eine über Jahrzehnte gewachsene Entfremdung vom Westen gibt, die sie bei aller Erschrockenheit über diesen Krieg fragen lässt, ob er nicht doch vielleicht doch eine gewisse Berechtigung hat, so Katzenberger.
„Nicht zu unterschätzen ist auch die Abschreckung, die immer drakonischeren Strafen, mit dem das System gegen Proteste und Widerstand vorgeht, was es mit dem jetzigen Ausnahmezustand begründet. Sie zeitigen Wirkung“, so der Journalist. Schlussendlich gebe es auch in der russischen Gesellschaft „wie bisweilen auch im Westen eine weit verbreitete Teilnahmslosigkeit, Kriegseinsätze des eigenen Landes betreffend“, die sich bei vielen Menschen in Russland in Passivität äußert – solange die eigene Situation nicht tangiert werde.