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GesellschaftQueer in NRW: Studie fördert Gewalterfahrungen zutage

Lesezeit 4 Minuten
In einer großen Studie schildern queere Menschen in Nordrhein-Westfalen ihre Ängste, Diskriminierung, aber auch Positives über aus ihrem Leben. NRW-Gleichstellungsministerin Josefine Paul (Grüne) stellte zentrale Ergebnisse vor. (Archivbild)

In einer großen Studie schildern queere Menschen in Nordrhein-Westfalen ihre Ängste, Diskriminierung, aber auch Positives über aus ihrem Leben. NRW-Gleichstellungsministerin Josefine Paul (Grüne) stellte zentrale Ergebnisse vor. (Archivbild)

Wer anders ist als die Mehrheit, hat oft mit Diskriminierung oder sogar Attacken zu kämpfen. So ist das auch bei Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht in das übliche Mann-Frau-Schema passt.

In einer Studie zu Lebenslagen queerer Menschen in Nordrhein-Westfalen enthüllt eine Mehrheit der Befragten Gewalt-Erfahrungen. In einer Untersuchung für das Gleichstellungsministerium gaben über 2.800 Personen und damit eine Mehrheit der Befragten an, dass sie in den vergangenen fünf Jahren in NRW entweder selbst Übergriffe erfahren haben (37,9 Prozent) oder Personen im nahen persönlichen Umfeld kennen, die Opfer eines Übergriffs geworden sind (23,6 Prozent).

In der in Düsseldorf präsentierten Studie „Queer durch NRW“ geht es um die sogenannte LSBTIQ*-Community. Die Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, intergeschlechtliche und queere Menschen sowie weitere Geschlechtsidentitäten. Schätzungen zufolge treffe das auf etwa jeden zehnten der gut 18 Millionen Einwohner in NRW zu, heißt es in der rund 270 Seiten starken Forschungsarbeit. 

Nach Angaben der Politikwissenschaftlerin und Autorin der Studie, Christina Rauh, handelt es sich dabei um die „bislang reichweitenstärkste und in der Tiefe umfassendste Studie dieser Art in Deutschland“. Gemeinsam mit NRW-Gleichstellungsministerin Josefine Paul (Grüne) stellte sie zentrale Ergebnisse vor:

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Von denen, die Gewalt-Erfahrungen angaben, hatte sich demnach nicht einmal jeder Zehnte bei der Polizei gemeldet. „Unter den größten Hinderungsgründen, Kontakt zur Polizei aufzunehmen, befinden sich neben dem Aufwand auch Befürchtungen, dass die Polizei geringe Kompetenz zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt aufweist oder auch Diskriminierung durch die Polizei selbst erfolgen könnte“, heißt es in der Studie.

Pessimistischer Ausblick

Transgender (Menschen, denen bei Geburt ein Geschlecht zugewiesen wurde, das nicht ihrer Identität entspricht), intergeschlechtliche (Menschen, deren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig als weiblich oder männlich einzuordnen sind) sowie nicht binäre Personen (Menschen, die sich nicht ausschließlich als männlich oder weiblich identifizieren) hätten besonders häufig von Ungleichbehandlung sowie Diskriminierung und Gewalt-Erfahrungen berichtet. 

Mit Blick auf die Zukunft befürchten laut Studie mehr als 80 Prozent aller Befragten der LSBTIQ*-Community, dass sich ihre Situation verschlechtern wird. Sie sorgen sich vor einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung.

Negative Ausreißer

Aus einigen Lebensbereichen werden besonders häufig negative Erfahrungen geschildert, allen voran in der Schule: 41,5 Prozent derjenigen, die in den vergangenen fünf Jahren in Nordrhein-Westfalen zur Schule gegangen sind, berichten den Ergebnissen zufolge von überwiegend negativen Schulerfahrungen. Etwas mehr als ein Viertel gibt jeweils überwiegend negative Erfahrungen in Ämtern und Behörden (26,8 Prozent) und im Sport (25,5 Prozent) an.

Queere Menschen stoßen häufig noch auf Vorurteile und Ablehnung.

Queere Menschen stoßen häufig noch auf Vorurteile und Ablehnung.

Angst ist ein häufiger Begleiter

Mehr als ein Drittel der Befragten fühlt sich den Ergebnissen zufolge im öffentlichen Raum eher unsicher, weitere 6,6 Prozent sehr unsicher. Mehr als drei Viertel aller Befragten meiden bestimmte Straßen, Plätze oder Parks.

Das gehöre, ebenso wie die seit Jahren steigenden Zahlen queerfeindlicher Straftaten, zu den alarmierenden Befunden, sagte Paul. „Diskriminierung und Ausgrenzungserfahrung machen etwas mit Menschen und sie beeinflussen die psychosoziale Gesundheit in negativer Art und Weise.“ Nach sorgfältiger Auswertung der Studie seien daraus Konsequenzen zu ziehen.

Community alarmiert: „Keine Ausreden mehr!“

Das Queere Netzwerk NRW forderte: „Die Landesregierung hat Hausaufgaben zu machen – und zwar dringend!“ Die Ergebnisse der Studie seien bestürzend. „Die Diskriminierung von LSBTIQ* in NRW ist weit verbreitet und für viele queere Menschen schlicht Alltag“, stellte Vorstand Laura Becker fest. Nötig sei nun eine entschlossene, ressortübergreifende und ausfinanzierte Gegen-Strategie. „Aus der queeren Community wird schon seit Jahren Alarm geschlagen - spätestens jetzt gibt es keine Ausreden mehr!“

Trotz negativer Erfahrungen hohe Zufriedenheit

Im Kontrast zu den vielen geschilderten Nachteilen äußerten sich dennoch fast drei Viertel aller Befragten (73 Prozent) mit ihrem Leben zufrieden. Darüber hinaus schätzten zwei Drittel ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut ein. „Das zeigt, Nordrhein-Westfalen ist ein Land der Vielfalt und wird auch so erlebt“, betonte Paul.

Die queere Community blickt mit Sorge in die Zukunft, macht auf dem langen Weg gesellschaftlicher Anerkennung aber auch positive Erfahrungen. (Symbolbild)

Die queere Community blickt mit Sorge in die Zukunft, macht auf dem langen Weg gesellschaftlicher Anerkennung aber auch positive Erfahrungen. (Symbolbild)

Die Highlights

In etlichen Lebensbereichen werden der Studie zufolge mehrheitlich positive Erfahrungen gemacht: am häufigsten in der Freizeit sowie im Umfeld von Kultur und Ehrenämtern (91,1 Prozent), bei der sozialen Arbeit (90,2 Prozent), in Hochschulen oder Berufsakademien (89,5 Prozent), in Kitas (82,8 Prozent), in der Arbeitswelt (82,7 Prozent) und in der Familie (82,1 Prozent).

Die Wahrnehmung der Angehörigen

Mehr als drei Viertel der 775 befragten Angehörigen (78,2 Prozent) finden, dass ihr LSBTIQ*-Familienmitglied überwiegend oder vollkommen gesellschaftlich akzeptiert ist. Dennoch hat mehr als jeder zweite Angehörige schon erlebt, dass sie oder ihre Familie lächerlich gemacht und herabsetzende Sprüche oder Witze gerissen wurden.

Keine Chancengleichheit

In zentralen Lebensbereichen sieht die Community den Ergebnissen zufolge nicht die gleichen Zugangschancen wie für andere Personen. Das bejahen die meisten für den Bereich Familiengründung (55 Prozent), gefolgt von mangelnder Berücksichtigung ihrer Lebenssituation in Ämtern und Behörden (47 Prozent).

Außerdem sehen sich viele Befragte mit ihrem Lebensmodell mehrheitlich nicht repräsentiert: In der Politik fühlen sich nur 30,5 Prozent, in den Medien 44,3 Prozent und in Schulbüchern gar nur 5,7 Prozent repräsentiert.

Die Studie

Nach Angaben der beauftragten Forschungseinrichtung hatten im vergangenen Jahr rund 6.200 Teilnehmende aus der LSBTIQ*-Szene sowie Angehörige einen Online-Fragebogen zu ihren Erfahrungen beantwortet. Zudem wurden demnach rund 5.200 Fachkräfte aus unterschiedlichen Berufen befragt - darunter etwa Schulen, Polizei, Pflege, Sozialarbeit. 

Die Erhebung liefert nach Angaben der Autoren keine statistisch repräsentativen Zahlen. Auf Basis der umfangreichen Daten aus über 10.000 Erfahrungsberichten sei es aber möglich, maßgebliche Problemlagen zu identifizieren. (dpa)