Was passiert, wenn Kinder- und Jugendmediziner einen Verdacht auf Kindesmissbrauch haben? Ein Praxis-Bericht von Ärztinnen im Untersuchungsausschuss des Landtags rüttelt auf.
Verbrechen an MinderjährigenZu wenig Hilfe bei Kindesmissbrauch: „Lässt mich nicht los“

Die systematische Aufdeckung von Kindesmissbrauch nach aktuellem wissenschaftlichen Standard und die professionelle Unterstützung für die Opfer sind in Deutschland aus Expertinnensicht längst nicht ausreichend. (Symbolbild)
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In eindringlichen Schilderungen haben Medizinerinnen und Kinderschützerinnen im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags gravierende Lücken beim Schutz vor Kindermissbrauch offengelegt. Zwei Ärztinnen berichteten, wie sie in der Praxis an Elternrecht, Datenschutz, fehlendem Austausch mit Jugendämtern und mangelnder Fachkompetenz im Umgang mit Kindermissbrauch und Trauma-Therapie immer wieder scheitern.
Die quälende Ungewissheit
„Diese Fälle sind immer noch alle in meinem Kopf, wo ich das Gefühl habe, ich kann - wenn ich mich im rechtlichen Rahmen bewege - nichts tun für dieses Kind“, schilderte die stellvertretende Klinikdirektorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Berliner Charité, Sybille Winter. Der Austausch mit Jugendämtern und Justiz sei häufig „eine Einbahnstraße: Wir liefern Informationen, wir kriegen nichts zurück“.
Aus Sicht der drei als Sachverständige geladenen Medizinerinnen und Kinderschützerinnen gibt es in Deutschland noch immer keine tragfähige Struktur, um Opfer von Kindesmissbrauch aufzufangen und die Taten aufzudecken - speziell, wenn der Missbrauch nicht anhand einschlägiger Untersuchungsbefunde sichtbar wird. Es fehle ein auskömmlich finanziertes, reguläres Netzwerk mit interdisziplinärer Fachkompetenz - auch in der Trauma-Therapie, sagte Winter. Immerhin sei davon auszugehen, dass etwa jedes zehnte Kind von Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung betroffen sei.
Das Mädchen im Pullover: versteckte Botschaften?
Wie rat- und hilflos sie das oft zurücklasse, berichtete auch die Düsseldorfer Kinder- und Jugendärztin Monica Naujoks anhand eines Beispiels: Vor drei Jahren sei eine aufgeregte Mutter mit ihrer damals siebeneinhalbjährigen Tochter in ihre Praxis gekommenen. Sie glaube, das Mädchen habe schon ihre Periode, weil sie mehrfach Blut in der Wäsche des Kindes entdeckt habe, habe die Frau vorgetragen.

Missbrauchsopfer werden von den Tätern gedrillt, zu schweigen. (Symbolbild)
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„Und während ich mit der Mutter sprach, versteckte sich das Mädchen in ihrem Pullover“, schilderte Naujoks, die auch dem Landesvorstand der Kinder- und Jugendärzte angehört und sich ehrenamtlich im Kinderschutz engagiert. Sie habe das Mädchen, trotz Drängens der Mutter, nicht gegen den ausdrücklichen Willen des Kindes im Genitalbereich untersucht, berichtete die Ärztin. Dies sei erst Monate später bei einer Gynäkologin erfolgt.
Vater macht Druck - Anzeige bei der Ärztekammer
Nachdem die Mutter nicht der Empfehlung gefolgt sei, ihre verhaltensauffällige Tochter der Kinderschutzambulanz vorzustellen und sich bei ihr „ein Bauchgefühl“ eingestellt habe, dass es eventuell um Kindesmissbrauch gehen könnte, habe sie sich ans Jugendamt gewandt, sagte Naujoks. Als der Vater davon erfahren habe, habe er Druck auf das Jugendamt und auf sie aufgebaut, berichtete die Ärztin. „Ich habe eine Anzeige bei der Ärztekammer bekommen.“
Das Kind sei letztlich als „unversehrt“ eingestuft worden, das Jugendamt habe den Fall geschlossen und die Eltern seien weggezogen. „Ich habe nie wieder von dem Mädchen gehört“, sagte Naujoks. Das sei nun drei Jahre her. „Das lässt mich einfach nicht los.“
Systematischer Austausch zwischen Medizin und Jugendhilfe nötig
Der angebliche Umzug sei „die Ausrede per se“, um sich weiteren Nachforschungen zu entziehen, sagte Kinderpsychiaterin Winter. „Da muss man immer ganz vorsichtig sein.“
Für einen wirksameren Kinderschutz wäre ein systematischer Austausch zwischen Medizin, Jugendhilfe, Polizei und Justiz nötig, stellte die Fachärztin fest, die seit 13 Jahren in der Trauma-Ambulanz der Charité arbeitet. „Allerdings sind wir hier in Deutschland durch den Datenschutz eingeschränkt.“ Hier müsse es dringend eine Gesetzesänderung geben.
Datenschutz vor Kinderschutz?
Sie beschäftige sich seit 30 Jahren mit dem Thema, berichtete die Universitätsprofessorin für Traumafolgen und Kinderschutz. „Früher war die Regel: Kinderschutz vor Datenschutz. Und ich habe das Gefühl, das hat sich genau umgedreht: Datenschutz vor Kinderschutz.“
Winter schlug unter anderem vor, in der Notaufnahme „Kinder-Lotsen“ einzuführen - Sozialarbeiter, die speziell ausgebildet seien, um mit Kinderschutz und Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt umzugehen - weil hier sehr viel ankomme. Ein großes Problem sei, dass betroffene Kinder und Jugendliche nicht sprechen wollten - teils aus Loyalität mit Tätern in der Familie, teils aus Scham oder Schuldgefühlen. Vor allem Jungen hätten Schwierigkeiten, zu reden. Jugendliche, die sich ans Jugendamt wendeten, fühlten sich häufig nicht ernst genommen.
Psychiaterin: Nur jedes zweite Opfer therapeutisch erreichbar
Von den Opfern, die nach einer Vergewaltigung in der Charité ankämen, seien letztlich nur 50 Prozent zu erreichen, sagte die Trauma-Expertin. Dieses Vermeidungsverhalten folge dem Motto: „Wenn ich nicht spreche, dann ist das nicht passiert.“ Eine Meldepflicht gegenüber der Polizei gebe es nicht, erklärte Winter. Ohne justiziables Beweismaterial würde eine Anzeige ohnehin eingestellt und dem Kind sei nicht geholfen.
Strafverfolgung vor Therapie?
Mit der Sachverständigen-Anhörung hat der Untersuchungsausschuss sich einem neuen Themenkomplex zugewandt: „Opferschutz und Gesundheitsfürsorge“. Dabei ging es auch um die umstrittene Empfehlung an Opfer, mit einer Therapie abzuwarten bis die Strafverfolgung abgeschlossen sei, damit die Aussage der Kinder und Jugendlichen nicht beeinflusst werde.

Kinder, die Opfer von Missbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung werden, haben nach Ansicht von Expertinnen viel zu wenig Schutz. (Symbolbild)
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Eine entsprechende rechtliche Vorschrift gebe es nicht, stellte Petra Viebig-Ehlert vom Bundesjustizministerium klar. „Therapie ist in aller Regel nicht so problematisch wie Ermittlungsbehörden das denken“, sagte die Referentin für die Hilfe für Opfer von Straftaten. Das sei nur in ganz wenigen Fällen so - etwa, wenn jemand zu den Ermittlungsbehörden komme und berichte, dass in einer Therapie Straftaten aufgedeckt worden seien, die schon sehr lange zurückliegen.
Auslöser: Die monströsen Verbrechen von Lügde
Anlass zur Einsetzung des U-Ausschusses war der jahrelange sexuelle Missbrauch auf dem Campingplatz Eichwald im lippischen Lügde an der Landesgrenze zu Niedersachsen, der nach Bekanntwerden der monströsen Verbrechen im November 2018 bundesweit für Entsetzen gesorgt hatte. Über viele Jahre waren bis Ende 2018 zahlreiche Kinder von mehreren Männern sexuell missbraucht und vergewaltigt worden.

Was ist Stand der Wissenschaft, um möglichst alle Arten von Missbrauch in der Kinder- und Jugendmedizin aufspüren zu können? Dieser Frage wendet sich nun der Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags zu. (Archivbild)
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Die beiden Haupttäter waren 2019 vom Landgericht Detmold zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Der NRW-Landtag hatte 2019 einen Untersuchungsausschuss eingesetzt und in dieser Wahlperiode neu aufgelegt. Bislang war es unter anderem um die Rolle der Jugendämter und die Arbeit der Polizei gegangen. (dpa)