Am Niederrhein überwintern unzählige Blässgänse. Naturschützer bieten Touren zu ihnen und anderen Vögeln an.
Ausflugstipp Gänsesafari am Wochenende280.000 Tiere überwintern in diesem Naturschutzgebiet in NRW
Wer glaubt, die niederrheinische Tiefebene und die sibirische Tundra hätten nichts gemeinsam, der täuscht sich. Denn hier wie dort fühlen sich Blässgänse ausgesprochen wohl. Im Sommer lebt ein Großteil des weltweit existierenden Bestands in Nord-Sibirien in unendlichen, kaum bevölkerten Weiten auf den Halbinseln Taimyr, Jamal und Kanin. Dort feiern die Vögel Hochzeit, ziehen ihre Jungen groß und erneuern ihr Gefieder.
Im Winter fliegen die Gänse 6000 Kilometer
Aber im Winter, wenn es so weit im Nordosten nichts gibt als Eis und Schnee, fliegen Unmengen Blässgänse rund 6000 Kilometer gen Westen an den Niederrhein nahe Kleve und Kranenburg. Etwa ein Viertel der nordeuropäischen Vertreter ihrer Art (auch im arktischen Nordamerika und auf Grönland brüten Blässgänse) überwintert in Nordrhein-Westfalen und im angrenzenden holländischen Naturschutzgebiet Millingerwaard, bis zu 280.000 Tiere pro Winter wurden in den vergangenen Jahren gezählt.
Marta Nöhles liebt es, wenn die an ihrer Unterseite locker gebänderten Vögel mit der markanten weißen Stirnblesse von etwa Mitte November bis Mitte Februar zu Gast sind. Seit sieben Jahren, seit die heute 72-Jährige von ihrem Job als Wohngruppen-Betreuerin bei der Lebenshilfe in die Rente gewechselt ist, zeigt sie Besucher-Gruppen das winterliche Gänsespektakel am Niederrhein. Sie hat beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu) eine Fortbildung zur ehrenamtlichen Schutzgebietsbetreuerin gemacht und unterstützt die Naturschutzstation Niederrhein.
2023 fielen die Fußmärsche zu den Gänsen aus
Die Gänse-Touren per Bus oder zu Fuß in die Millingerwaard sind beliebt und meistens schnell ausgebucht. Ende des Jahres 2023 machte die Natur interessierten Spaziergängern allerdings einen Strich durch die Rechnung, wegen Hochwassers konnte kein Fußmarsch zu den Gänsen stattfinden. Die Abendspaziergänge im Januar und Februar 2024 sind bereits ausgebucht. Zwei Termine der beliebten „Gänsesafari“ finden noch statt.
Termine Gänsesafari 2024:
Sonntag, 28.1., 13 - 15 Uhr ab Kleve
Sonntag, 4.2., 13 - 15.30 Uhr ab Kleve
Am Tag heißt es für die Gänse: fressen, fressen und nochmal fressen. Morgens würden Spähtrupps ausgesandt, erzählt Nöhles. „Die halten nach den besten Weideplätzen Ausschau.“ Blässgänse sind Pflanzenfresser – und schlechte Futterverwerter. Nur 25 Prozent ihrer Nahrung wandeln sie in Energie um. Daher müssten sie ein Drittel ihres Körpergewichts pro Tag an Frischmasse zu sich nehmen, sagt Nöhles, das seien 800 bis 1500 Gramm. Süßgräser, Pflanzensamen und die Wintersaaten der Bauern stehen auf ihrem Speiseplan.
Wer so viel frisst, muss auch viel wieder loswerden. „Alle zehn Minuten lässt eine Gans ein Häufchen fallen“, sagt Nöhles. Bei aller Faszination für die Tiere kommt die „Nabu-Oma“, wie sich die 72-Jährige nennt, deshalb zu dem Schluss: „Ich bin froh, dass ich keine Gans bin.“
Die Gänse sind die Hauptattraktion
Hans-Martin Kochanek, Biologe und Vorsitzender des Nabu Leverkusen, sagt über die Region am Niederrhein: „Wer im Winter Vögel gucken will, muss dort hinfahren.“ Und wer genau hinsehe, könne nicht nur die Blässgänse entdecken, die zu Hunderttausenden kaum zu übersehen sind, sondern auch viele weitere spannende Vögel und andere Tiere. Die Gäste aus Sibirien seien aber sicherlich die Hauptattraktion: „Es ist absolut erhebend, einfach unglaublich, wenn da 10.000 Gänse über einem in der Luft sind“, sagt Kochanek.
Vor allem am Abend kann man das erleben, denn etwa 20 Minuten nach Sonnenuntergang machten sich die Gänse auf den Weg von ihren Futter- zu ihren Schlafplätzen, erklärt Martha Nöhles. Ihren Anflug auf die flachen Gewässer zu beobachten, sei ein beeindruckendes Schauspiel, sagt auch sie. Allerdings gebe es einige Verhaltensregeln, die unbedingt zu beachten seien, betont Kochanek. So gehörten Hunde an die Leine und bei Touren mit dem Auto oder dem Bus solle man nicht ständig aussteigen und Türen knallen. Dort, wo die Gänse nah an der Straße stehen, solle man sein Fahrzeug gar nicht verlassen.
Denn den Gänsen tut es nicht gut, wenn sie immer wieder aufgeschreckt werden. Fliegt eine hoch, starten alle – und das kostet unnötig Energie. Zudem verlieren die Vögel Zeit, die sie dringend zum Fressen benötigen. Schließlich müssen sie sich genug Reserven zulegen, um ab Mitte Februar wieder den weiten Weg zurück nach Sibirien zu schaffen.
Es gilt, still zu sein
Der Biologe Kochanek empfiehlt daher, lieber still zu sein und sich zu konzentrieren, denn die Gänse-Szenerie am Niederrhein gleiche einem großen Wimmelbild. Unter den vielen Blässgänsen fänden sich immer wieder auch Grau- und Saatgänse. Und einige Rothalsgänse. Diese seien kleiner als die Blässgänse mit tatsächlich rötlichem Gefieder. „Davon gibt es nicht viele, wenn man eine entdeckt, ist das ein Glücksmoment und ein großer Spaß für die ganze Familie“, sagt Kochanek. Ihm selbst sei das bisher erst zweimal gelungen.
Martha Nöhles hat einige Zahlen zu den Blässgänsen in petto. Die Tiere hätten zum Beispiel 20.000 Federn, erklärt sie. Das Federkleid der Vögel wiege doppelt so viel wie ihr Skelett. Sie würden 66 bis 76 Zentimeter groß und hätten eine Flügel-Spannweite von 1,35 bis 1,65 Meter. Ihre Reisegeschwindigkeit betrage 60 bis 80 Kilometer pro Stunde, die Flughöhe 1500 bis 2000 Meter. Wenn es sein muss, könnten die Gänse aber auch ein Hindernis wie den Mount Everest überwinden und kurzzeitig auf über 8000 Meter steigen.
Viel mehr als diese puren Fakten begeistert Marta Nöhles aber das Verhalten der Blässgänse. Anders als Storchenkinder müssten die Jungen der Gänse alles Wichtige von ihren Eltern lernen. Wo es die besten Futterplätze gibt, wann und wo man sich zum Flug ins Warme trifft, welche Route man wählt, wo man pausiert. Die Reise von Sibirien bis an den Niederrhein dauere für die Gänse drei Monate, sagt Nöhles. Sie könnten 800 bis 1000 Kilometer am Stück fliegen, bräuchten dann aber eine Pause von rund zwei Wochen, um sich wieder Kraft anzufuttern für den Weiterflug.
Gänse bleiben einander ein Leben lang verbunden
Es gebe eine klare Rangordnung innerhalb der einzelnen Trupps, sagt Nöhles, und die ist absolut familienfreundlich. Je mehr Kinder ein Gänsepaar hat, desto höher sein Status. Deshalb umtuddelten Gänseeltern auch gern mal die Kinder anderer Paare. Der Vorteil: Die Tiere mit dem höchsten Status dürfen in der Mitte der Gruppe fressen, am sichersten Platz. Junggesellen müssen in den Außenbereichen Wache schieben, dort, wo die Gefahr am größten ist, wo der Fuchs als erstes zuschlägt.
Verpartnern sich Gänse, hält ihre Verbindung ein Leben lang. Spannend ist allerdings: Stirbt einer der Partner, sucht sich der andere eine neue Gefährtin oder einen neuen Gefährten. Und bei diesem neuen Paar hat dann das Weibchen das sagen. Es bestimmt beispielsweise, mit welchem Trupp und auf welcher Route man ins Winterquartier reist. Blässgänse können bis zu 25 Jahre alt werden und bleiben als Jungvögel im ersten Winter bei ihren Eltern. Erst zurück in Sibirien, kurz vor der nächsten Brut, geht der Nachwuchs eigene Wege. Die Reiseroute an den Niederrhein kennen die jungen Gänse dann gut genug, um sie im folgenden Winter dem eigenen Nachwuchs zu zeigen.
Vogelbeobachtungen
Am Niederrhein bei Kleve und Kranenburg und in der niederländischen Millingerwaard bei Kekerdom lassen sich im Winter nicht nur Blässgänse beobachten. Der Nabu-Biologe Hans-Martin Kochanek rät, bei einem Besuch auch nach diesen Vögeln und anderen Tieren Ausschau zu halten:
Rotdrossel – der hübsche Vogel mit orange-roten Flanken und hellem Überaugenstreif pausiere auf seiner Reise aus dem Norden gern am Niederrhein, da ihm hier große Weißdornhecken als „Tankstelle auf dem Weg in den Süden“ dienten, erklärt Kochanek.
Storch – ihn kann man zunehmend auch im Winter in seinem Horst entdecken. Weil es immer wärmer wird, gibt es immer häufiger Tiere, die einfach mal testen, hierzubleiben und sich die weite Reise in den Süden zu sparen. „So funktioniert Evolution“, sagt Kochanek, „es gibt immer ein paar Wagemutige, die etwas ausprobieren.“
Silberreiher – auch diese langbeinigen, langhalsigen Tiere mit blendend weißem Gefieder sind Gäste, die am Niederrhein rasten. Anders als die Blässgans tritt der Silberreiher einzeln oder auch in kleinen Gruppen mit bis zu 20 Tieren auf.
Mäusebussard – er ist die häufigste Greifvogelart in NRW. „Er jagt üblicherweise von Bäumen oder Hügeln aus“, sagt Kochanek.
Star – er braucht geeignete Nisthöhlen und offene Wiesen zur Nahrungssuche, beides findet er am Niederrhein. Und so könnten dort kleine „Wolken“ aus Vögeln beobachtet werden, sagt Kochanek. Denn Stare bewegen sich gern zum Schutz gegen Greifvögel in größeren Trupps.
Enten – gibt es am Niederrhein reichlich zu entdecken. Etwa Schnatterente, Tafelente, Reiherente oder Löffelente.
Außerdem – in der Millingerwaard sind auch halbwilde Konik-Pferde und schottische Galloway-Rinder sowie Biber eine Attraktion. Auch sie können bei den Tour-Angeboten der Nabu-Naturschutzstation Niederrhein beobachtet werden.
www.nabu-naturschutzstation.de/exkursionen-und-veranstaltungen