„Kleine Fluchten“Wiesengrün und Getreidegold an der Sieg

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Rhein-Sieg-Kreis – Über der Mündung der Sieg in den Rhein muss der Brieftaube die Puste ausgegangen sein. Sie landete vor zwei Wochen just auf der Fähre von Matthias Mertens, der sie seitdem füttert und Uschi taufte. Der Empfänger der Botschaft, die sich in der Kapsel an ihrem rechten Bein befindet, wird sich wohl gedulden müssen. „Abends fliegt sie in den Wald“, so Mertens, „aber am Morgen kommt sie wieder auf die Fähre.“
So wie der gefiederten Postbotin geht es vielen Sommerfrischlern, die sich rund um die Anlegestellen am Bonn-Geislarer und dem Troisdorf-Bergheimer Ufer Erholung gönnen. Sie kommen – und bleiben länger als erwartet. Sonnenanbeter machen sich auf Wiesen und Kiesstränden breit, Kinder planschen im flachen Wasser und fläzen sich in Gummibooten. Familien und Freundescliquen haben es sich mit Decken und Picknickkorb gemütlich gemacht. Alte Bäume spenden Schatten, am Bergheimer Ufer liegt das Ausflugslokal „Zur Siegfähre“, mit Biergarten und gutbürgerlicher Küche.
Fährmann Mertens arbeitet und arbeitet, an einem warmen Sommertag setzt der 79-Jährige mit der sonnengegerbten Haut und der Prinz-Heinrich-Mütze unablässig über, nur eine kurze Mittagspause gönnt er sich. Seit 37 Jahren steuert er eine „Einmann-Gierfähre“, die sich dank eines einfachen Prinzips motorlos fortbewegt. Sie ist über ein Tau und eine Rolle mit einem Drahtseil verbunden, das von Ufer zu Ufer gespannt ist, so dass sie fahren, aber nicht abtreiben kann. Je nachdem, wie Mertens das lange Steuerruder in die Strömung drückt, bewegt sich die Fähre gen Ufer.
Kraft und Geschick braucht Mertens für seine Arbeit, zum Glück machen auch seine Beine noch mit. Unablässig läuft er vom Bug zum Heck und zurück, um Leinen zu lösen, Fahrgeld zu kassieren und zu steuern.
Operationen an Knien und Hüfte konnten ihn nicht davon abhalten, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Seit 1777 gibt es eine Berchemer Fahr (Bergheimer Fähre). An Regentagen sitzt der Fährmann in seinem Häuschen am Troisdorfer Ufer – und hat Zeit für ein Schwätzchen.
Dann erzählt er davon, wie er Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm das Steuern der Fähre beibrachte, dass er schon Bundeskanzler Gerhard Schröder beförderte und die Staatsoper Shanghai. Und von 30 Freunden des Radfahrens wie der Freikörperkultur, die erst an Bord durften, nachdem sie ihre Blöße bedeckt hatten.
Mertens ist Mitglied der Bergheimer Fischereibruderschaft, einer zunftähnlichen Gemeinschaft, die gerade ihr 1025-jähriges Bestehen feiert, auch wenn der Fischfang keine Existenz mehr bietet. Der Bergheimer konnte bis in die 60er Jahre davon leben: Die Aale, die ihm nachts auf dem Aalschokker ins Netz gingen, verkaufte er an Kölner Hotels. Die Wasserverschmutzung hat seiner Ansicht nach der Fischerei die Grundlage entzogen.
Genaues Hinsehen lohnt sich
Für viele Radfahrer wäre es ein Leichtes, die Fähre durch die Brücke der L 269 über die Sieg zu umgehen. Doch das ungewöhnliche Gefährt hat seine Freunde und liegt in einem gut ausgebauten Netz von Radwegen. 50 Cent zahlen Erwachsene, Kinder 25, ein Rad kostet 50 Cent. Als Ziel einer Tour von Siegburg aus durch die Siegauen (circe zehn Kilometer) ist die Fähre ideal.
Genaues Hinsehen lohnt sich: An den Abbruchkanten der Sieg lassen sich mit etwas Glück Eisvögel beobachten. Hier und dort sitzen grüne Heupferde auf der Straße, Graureiher stelzen über Wiesen und blau-metallisch glitzernde Libellen schwirren durch die Luft. Nur wenige kurze Steigungen sind zu bewältigen, ansonsten ist die Strecke sogar für Kinder mit wenig Rad-Erfahrung geeignet. Für sie gibt es am Sportplatz in Sankt Augustin-Meindorf eine große Spielanlage.
Ihren Reiz können der Landschaft auch viele Strommasten von Hochspannungsleitungen und der örtliche Dauerlärm der Autobahn nicht nehmen. Dominierende Farbe am Wege ist neben Wiesengrün und Getreidegold leider das Pink des schwer ausrottbaren Drüsigen Springkrauts.