Selbsterfahrungsbericht PilgernJakobsweg vor der eigenen Haustür
Bis auf die Bläser des Tambourzugs, die sich aufs Feuerwehrfest am Nachmittag einstimmen, schläft Simmerath noch. „Wir schweigen“, sagt der Mann in der roten Outdoor-Jacke an der Spitze, und wie auf ein unsichtbares Kommando setzt sich die kleine Gruppe lautlos in Bewegung. 6.30 Uhr Abmarsch heißt 6.30 Uhr Abmarsch. Eigentlich. Es ist aber schon kurz nach sieben, weil durch ein Missverständnis die Brötchen im Pilgerquartier nicht rechtzeitig auf dem Frühstückstisch standen. Also: Keine Zeit mehr für Debatten.
Weil wir eine halbe Stunde dem Zeitplan hinterherhinken, drückt Norbert Krons aufs Tempo. Abgesehen von dem spirituellen Nutzwert, der im Verzicht aufs Reden und dem Erlebnis der Stille liegt, empfinden es die meisten als wohltuend, am frühen Sonntagmorgen auf nichts achten zu müssen als auf den zunächst sacht ansteigenden und später ziemlich steil hinunter ins Tal führenden Weg.
Von Simmerath nach Kronenburg
Wir befinden uns auf der zweiten Pilger-Etappe von Simmerath bei Monschau nach Kronenburg. Am Morgen zuvor war man in Aachen-Kornelimünster gestartet. Nach viereinhalb Tagen will die Gruppe Trier erreichen. Auf dem Heimweg, erzählt Felicitas Klein, für alles Organisatorische zuständig, „machen wir es wie die Heiligen Drei Könige: Wir kehren auf einem anderen Weg in die Heimat zurück“. Gut 240 Kilometer werden dann zu Fuß geschafft sein.
Nach vielleicht einer guten halben Stunde stimmt Pilgerführer Krons, Sozialarbeiter im Ruhestand, ein fröhliches Halleluja an. Das Zeichen, dass ab sofort wieder geredet werden darf. Manche setzen die Strecke trotzdem schweigend fort.
„Ich bin eigentlich sehr kommunikativ“, wird später bei einer kurzen Rast Zahnarzthelferin Ulrike Korkin sagen. „Aber ich genieße es, einfach abschalten und wegtauchen zu können. Dieses in mich Reinhören, begleitetet bloß vom Vogelgezwitscher, tut unheimlich gut.“ Da könne man durchaus existenzielle Erfahrungen machen, weiß sie aus ungefähr zehnjähriger Pilger-Erfahrung,
Nicht immer sind die Erwartungen so hoch. „Ich habe die ganze Sache anfangs mehr von der sportlichen Seite gesehen“, sagt Werner Alz, Verwaltungsmann in einem Krankenhaus im Sauerland. „Es ist ja eine echte körperliche Herausforderung.“ Sich selbst beschreibt er als „katholisch geprägt, aber nicht besonders kirchennah“.
Spirituelle Wanderer
Nach der Statistik des Pilgerbüros in Santiago (Zahlen für Deutschland liegen noch nicht vor) besteht die zweitgrößte Gruppe nach den Katholiken (etwa zwei Drittel) aus spirituellen Wanderern ohne Konfessionszugehörigkeit.
Dreimal ist Alz inzwischen auf dem Camino Frances unterwegs gewesen. Diese Route gilt als Mutter aller Pilgerwege ins nordspanische Santiago de Compostela. Irgendwann konnte Alz sich dem „Spirit“ dieses speziellen Wanderns „mit so einem Überbau, der schwer zu beschreiben und nicht rational zu erklären ist“, nicht mehr entziehen. „Da passiert etwas, aber ich kann es nicht richtig greifen.“ Er habe immer gedacht, „keine Antenne zum Übersinnlichen“ zu haben. Inzwischen sei da „etwas gewachsen“. Schon am zweiten Tag ist er sich sicher, dass er Erfahrungen, die irgendwo zwischen Himmel und Erde lägen, auch in der Eifel machen kann.
Auf der nächsten Seite lesen Sie warum Pilgern auch etwas für Atheisten ist
Pilgern vor der Haustür
Der Trend heißt Pilgern vor der Haustür und steht nicht in Konkurrenz zu Spanien, denn das Grab des Heiligen Jakobus lockt nach wie vor Jahr für Jahr um die 300000 Besucher aus aller Welt. Aber es ist Alternative für Sinnsucher, die die weite Anreise oder den Rummel in den Sommermonaten entlang der Hauptrouten scheuen. Oder für Menschen, denen die Pfade durch Galizien schon zu ausgelatscht sind.
Der Chemiker und Wissenschaftsjournalist Michael Albus kommt in seinem Selbsterfahrungsbericht „Santiago liegt gleich um die Ecke“ zu dem Schluss, dass man sich im Zeichen der Muschel, dem Signet der Jakobspilger, auch in deutschen Landen aufmachen kann. Und dass Pilgern „auch etwas für Atheisten und Langschläfer ist“.
Seit Jahren werden uralte Pilgerpfade wiederentdeckt oder freigelegt, und es ist ein Jakobs-Pilger-Wegenetz erschlossen worden. Wenn man sich darauf einlasse, funktioniere Pilgern auf dem Jakobsweg auch zwischen Paderborn und Köln, Rostock und Erfurt oder Marburg und Overath. Vor der Haustür eben. Die viele Zehntausend Interessierte, Aktive und Enthusiasten umfassende Pilger-Community ist quer durch alle Altersgruppen bestens vernetzt. Man chattet in Foren, fachsimpelt über die wirkungsvollsten Methoden gegen Blasen und andere Blessuren, schreibt klassisch Tagebuch oder ganz im Hier und Jetzt Blogs und teilt seine jüngsten spirituellen Erfahrungen auf Facebook mit. Neben den virtuellen Begegnungen gibt es aber auch landauf landab Pilgerstammtische, bei denen geübte Pilger die Fragen der Neuen beantworten.
Pilgerstammtisch
Am Pilgerstammtisch in der Bocholter Gaststätte „Zur Glocke“ sitzt Antje Wiegand, die das Pilgern in heimatlichen Gefilden im Aufwind sieht, aber feststellt: „Zur Zeit ist es in Deutschland noch nicht ganz so einfach, weil die Infrastruktur noch nicht überall entwickelt ist.
„Auf dem Camino Frances,“ schwärmt die 36-Jährige, die im Controlling einer Servicegesellschaft für Banken ihr Geld verdient, „gibt es alle paar Kilometer eine Herberge, das ist einfach toll.“ Seit kurzem führt der Jakobsweg Bielefeld-Köln praktisch an ihrer Haustür in Borken vorbei, „und ich überlege, ob ich nicht eine vorübergehende Übernachtungsmöglichkeit für müde Pilger bei mir anbieten soll“.
Siebenmal in Santiago de Compostela
Siebenmal ist Hermann Josef Jansen schon in Santiago de Compostela gewesen und rühmt die Gastfreundschaft entlang der Route. Jetzt testet der Bocholter Uhrmacher zum zweiten Mal die „Via Baltica“. Die erste Etappe vom polnischen Swinemünde bis Rostock hat er schon letztes Jahr erkundet. Jetzt liegen 700 Kilometer zurück ins Ruhrgebiet vor ihm. Ein paar Mal hat es mit dem Übernachten in einer Pilgerherberge geklappt, zum Beispiel im Rostocker St. Jacobi-Gemeindehaus. Drei Klappliegen, Nasszelle, Kochnische. „Schlicht aber okay“, findet Jansen.
Für fünf bis sechs Euro findet man als kontemplativer Wanderer ein Dach über dem Kopf. Voraussetzung ist der Pilgerpass, der jedes Mal abgestempelt wird. „Eine Art Trophäe“, freut sich Jansen.
Vier Tage später erreichen die Pilger ihn in der Nähe von Hamburg. Unterdessen hat er äußerst unterschiedliche Erfahrungen mit seinen Quartieren gemacht. Eine zum Hotel umgebaute frühere Kloster-Remise, „wo sie 35 Euro plus Buchungsgebühr plus Kurtaxe haben wollten“, eine Ferienwohnung und ein Obdach in einem für Pilger hergerichteten Raum in einem kommunalen Friedhofsamt.
So gern Jansen tagsüber allein auf Pilgertour ist und seinen Gedanken nachhängt, so sehr schätzt er es, wenn er sich abends im Nachtquartier mit Gleichgesinnten austauschen kann. „Diesmal leider an allen Stationen Fehlanzeige“, bedauert er.
„Ermüdungsbruch“
So kann er bloß berichten, wie er auf seinen einsamen 25-Kilometer-Etappen „Zwiesprache hält“. Auch mit Gott? „Ja“, sagt Jansen, „das würde ich schon so nennen“. Und er erzählt, dass seine „Pilgerei“ auf ein Gelübde in den 70er Jahren zurückgeht. Er lässt es bei dieser Andeutung. Am nächsten Tag muss er auf dringenden ärztlichen Rat seine Tour abbrechen und nach Hause fahren. Im Krankenhaus hat man einen „Ermüdungsbruch“ am rechten Fuß festgestellt.
Unterdessen befindet sich die Gruppe auf dem Pilger-Trail von Aachen nach Trier zwei Kilometer vor der Kapelle in Widdau mit herrlicher Panoramasicht. Hier wird eine Teilnehmerin gleich einen Wortgottesdienst mit Liedern aus dem Pilgerbuch und Fürbitten halten. „Früher hatten wir immer einen Priester dabei, das wäre heute Luxus“, bedauert der fast 80 Jahre alte Alfred Ordowski. Für ihn hat Pilgern immer auch etwas mit Vertiefung des Glaubens zu tun – und mit öffentlichem Bekenntnis.
Ein Kardiologe marschiert auch mit, aber ganz privat. Bisher hat der Mediziner nie unterwegs tätig werden müssen. Wie man sich am besten gegen unangenehme pilgertypische Begleiterscheinungen schützt, „das ist so individuell wie die Pilger selbst“, weiß Leiterin Klein. Diethild Timm, eine resolute pensionierte Sozialarbeiterin, schwört als Balsam für die Füße auf „ganz normale Baby-Creme“ (abends) und auf Puder (morgens vor dem Abmarsch).
Als äußerst zuverlässiges Mittel, erzählt Werner Alz, als die Kapelle schon in Sichtweite ist, habe sich Hirsch-Talg bewährt. Auch jetzt wieder. „Man muss vierzehn Tage vorher mit dem Einreiben beginnen.“
Am Abend vorher im „Hotel Post“ hatte Friedhelm Braun, der Wirt, der sich gern Herbergsvater nennt und selbst begeisterter Santiago-Pilger ist, seinen Geheimtipp preisgegeben: „Ich rate: Nicht so oft die Socken wechseln, auch wenn sie stinken.“ Es stimme, weiß er aus eigenem Erleben, dass in der Hochsaison der Camino Frances oft überlaufen ist. „Der Hape-Effekt, da bin ich sicher. Es ist genauso, wie es Kerkeling in seinem Buch beschreibt.“ Und für den Rummel werde man durch einmalige Erfahrungen entschädigt.
Auf der letzten Seite lesen Sie über Pilgern als Neustart
Dreimal von Mönchengladbach nach Trier
Wie zum Beispiel die Geschichte mit dem modernen barmherzigen Samariter, die Henriette Fulst, ursprünglich in Maastricht zu Hause. bei einem Glas Rotwein nach dem Abendessen berichtet. Ein niederländischer Pastor und seine Frau hätten sich darauf spezialisiert, Pilgern ihre Hilfe anzubieten. Auch ihr selbst, weil sie auf halber Strecke nach Santiago auf einmal das Gefühl hatte, sie müsste schlapp machen. Inzwischen findet sie, dass die Route durch die Eifel in puncto spirituellem Mehrwert dem spanischen Original kaum noch nachstehe. „Ich laufe dieses Jahr dreimal von Mönchengladbach nach Trier“. Pilgern könne im positiven Sinn süchtig machen, bestätigt Antje Weigand vom Bocholter Pilger-Stammtisch, die zusammen mit 26 Autoren eines Internetforums „Erlebtes und Erfühltes“ in einem Sammelband aufgeschrieben hat. „Es ist ein richtiger Virus.“ Beim nächsten Stopp Richtung Trier erzählt Henriette aus Holland von ihrer Nepal-Reise, die sie in der Erwartung angetreten war, dort in einem buddhistischen Kloster wenn schon nicht Erleuchtung zu erfahren, sich wenigstens zu sanftem Meditieren inspirieren zu lassen. Aus beidem wurde nichts. „Ich hatte Stille und inneren Frieden gebucht, bekam aber wilde halbwüchsige Mönche zu sehen, die sich wie Rabauken aufführten.“ Als sie sich zum ersten Mal auf einen Pilgerweg gemacht hat, lag der Tod ihres Mannes noch nicht lange zurück.
„Pilgern kann therapeutisch wirken“, sagt Antje Weigand, die aus Thüringen stammt und noch (evangelische) Kirchensteuer zahlt. Auch sie befand sich in einer persönlichen Krise, als sie sich zum ersten Mal zum Apostelgrab nach Santiago aufmachte.
Wenn Pilgern beflügelt
Der Soziologe Christian Kurrat hat in einer Untersuchung der Fernuniversität Hagen fünf typische „biografische Ausgangskonstellationen“ ausgemacht, die den Entschluss zum Pilgern beflügeln können: Menschen versuchen auf dem Jakobsweg ihr bisheriges Leben zu bilanzieren, eine Krise zu bewältigen, den Übergang zwischen zwei Lebensphasen zu gestalten, einen Neustart in ihrem Leben zu beginnen – oder schlicht eine Auszeit zu nehmen.
Zur letzteren Spezies rechnet sich Ulrich Gaulke, der „erst“ fünf oder sechsmal auf dem Aachen-Trier-Track dabei war. „Pilgern ist Wellness für die Seele.“ Das klingt wie ein Zitat aus dem Klappentext eines der zahllosen Ratgeber, die die Regale in großen Buchhandlungen füllen. „Ist aber Originalton von mir“, sagt der selbstständige IT-Berater lachend, nimmt einen großen Schluck Wasser aus der Plastikflasche und schließt vor der nächsten Steigung zum Mittelfeld auf.
Der größte Teil der 35 Kilometer muss bis zum frühen Abend bewältigt werden. Gaulke findet es nicht schlecht, dass das Gepäck diesmal zu den Quartieren gefahren wird. Mögen Pilger-Puristen auch die Nase rümpfen und spotten, das sei unzulässige Verwöhnung.
„Psst! Psst! Psst!“ Norbert Krons waltet seines Amtes. „Wir wollen wieder schweigen.“ Im selben Moment verstummen alle Unterhaltungen. Auch die Diskussion einer Dreiergruppe, worin sich Pilgern vom Wallfahren unterscheidet. „Wallfahren wäre nichts für mich“, hatte Arzthelferin Korkin beim Abendessen freimütig bekannt: „Da wird die ganze Zeit gebetet, wie im Akkord.“