AboAbonnieren

ESA-Astronautin wohnt bei KölnEuropas Frau im All - völlig losgelöst von der Erde

Lesezeit 10 Minuten
tier1_2019_10_19_BEZ_MDS-BEZ-2019-10-19-71-153413031

Europas Frau im All: ESA-Astronautin Samantha Cristoforetti

  1. Samantha Cristoforetti hat 200 Tage auf der ISS verbracht.
  2. Die ESA-Astronautin erzählt, warum sie schon als Kind ins All wollte und wie der ISS-Einsatz ihren Blick auf die Menschheit verändert hat.
  3. Völlig losgelöst von der Erde...

Im All schlief sie am liebsten schwerelos schwebend. „In so einem Schlafsack wie diesem hier, habe ich auch gesteckt“, sagt Samantha Cristoforetti. Die Italienerin, 42 Jahre alt, streichholzkurze Haare, steht vor einer Vitrine im Foyer des Europäischen Raumfahrtzentrums in Köln. Hinter Glas hängt die typische Bettwäsche, in der die Astronauten auf der Internationalen Raumstation (ISS) aufrecht in einer hohen, schmalen Kabine nächtigen, so als würden sie in einer Telefonzelle stehen. Mit dem Schlafsack können sie sich auch an der Wand festschnallen, doch Samantha Cristoforetti gefiel es, im Raum schwebend zu schlummern. In ihrem neuen Buch „Die lange Reise“ erzählt die einzige Frau im Astronautenkorps der Europäischen Weltraumorganisation ESA, die mit ihrer Familie in der Nähe von Köln wohnt, davon, wie ihr großer Traum ins All zu fliegenwahr wurde.

Frau Cristoforetti, am 23. November 2014 saßen Sie zusammengekauert in einer kleinen Sojus-Kapsel und warteten mit Ihren zwei Astronautenkollegen darauf, dass eine Rakete Sie ins Weltall schießt. Was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?

Tatsächlich war ich ziemlich gelassen und völlig angstfrei. Ich glaube, meine Freude war einfach so riesengroß, dass gar kein Platz für Sorgen war. Das war der Ort, an dem ich in diesem Moment sein sollte.

Wie viel Einfluss hatten Sie in der Rakete darauf, heil oben auf der ISS anzukommen ?

Die Reise zur ISS dauert sechs Stunden und verläuft vollautomatisch. In den ersten neun Minuten, in denen die Rakete von den Triebwerken so stark beschleunigt wird, dass sie in die Erdumlaufbahn gelangt, haben wir absolut null Einfluss. Wir hören nur über Funk, ob die verschiedenen Stufen gezündet haben. Später gibt es aber einige Phasen, in denen wir schnell eingreifen würden, um uns zu retten, wenn etwas nicht nach Plan läuft.

15634495439_b193e28d39_o

Sie wollte schon als Kind Astronautin werden.

Sie müssen sehr konzentriert sein, um prompt reagieren zu können. Ist es nicht schwierig, sachlich zu bleiben, wenn man gerade etwas so Großes erlebt wie ins All zu fliegen?

Ja, man darf schon nicht zu romantisch werden. Mir ist das allerdings doch passiert. Beim Anflug auf die ISS gibt es nur einen kurzen Moment, in dem man die Raumstation ein paar Sekunden durch das Fenster des Raumschiffes sehen kann – auch nur teilweise, weil sie so riesig ist. Ich habe rausgeguckt, mich ein bisschen umgedreht und auf einmal war da dieses gigantische Sonnensegel, das gerade von der Sonne angestrahlt wurde. Es leuchtete in einem warmen orangenen Licht als ob es in Flammen stehen würde. Das fand ich so schön, dass ich gesagt habe: „Oh, mein Gott!“ Mein Kollege neben mir hat mich sofort auf Russisch ermahnt: „Sei still! Sei still!“

Das darf man nicht?

Nein, das war eigentlich komplett unprofessionell. Die Bodenstation hat schließlich alles mitgehört und sich in diesem Moment tatsächlich gefragt: Warum sagt sie das? Ist da oben etwas Schlimmes passiert?

Und wann haben Sie die Schwerelosigkeit das erste Mal gespürt?

Man spürt sie das erste Mal nach neun Minuten, wenn die dritte Stufe der Rakete erloschen ist. Dann ist man im Orbit. Ich war ja festgeschnallt, aber auf einmal schwebten meine Arme vor mir als würden sie nicht zu meinem Körper gehören. Auch Bleistifte und Handbücher flogen herum.

Wie groß sind die körperlichen Belastungen im All?

An die Schwerelosigkeit habe ich mich schnell gewöhnt. Mir ist es wichtig, nicht die Mythen und Legenden zu nähren, die es rund um die Raumfahrt gibt. Viele Menschen haben so ein Bild, dass Astronauten ständig in der Humanzentrifuge herumgeschleudert werden und dass sie nur aufgrund ihres harten Trainings und ihrer außergewöhnlichen körperlichen Konstitution den Härtetest im Weltall bestehen können.

Das stimmt nicht?

Nein. In der Zentrifuge war ich zum Beispiel gar nicht oft. Und das einzige wofür man wirklich Muskelkraft braucht, sind die Weltraumspaziergänge, weil der spezielle Raumanzug, den man dabei trägt, so schwer und steif ist. Für alles andere reicht es völlig aus, körperlich und psychisch gesund zu sein.

Auf dem Flug ins All wirken aber heftige Kräfte auf den Körper.

Beim Start ist der Aufbau der Beschleunigung eher gemütlich.

Gemütlich? So ein Raketenstart sieht von außen gewaltig aus.

Dieses Feuer um die Rakete ist für Zuschauer natürlich beeindruckend. Wenn man selbst in der Rakete sitzt, spürt man den Start aber kaum. Wenn man genau hinschaut, sieht man auch, dass die Rakete sehr langsam startet. Sie wiegt ja 300 Tonnen. Die Beschleunigung baut sich also erst langsam auf.

Wann in ihrem Leben haben Sie das erste Mal gedacht, dass Sie Astronautin werden wollen?

Schon als kleines Mädchen. Ich habe sehr viel gelesen, vor allem Science-Fiction- und Abenteuerbücher. Und ich war ein riesiger Star-Trek-Fan. Ich war als Kind auch schon sehr abenteuerlustig. Ich habe einfach gedacht: Was ist das allergrößte Abenteuer, das ein Mensch erleben kann? Ins All fliegen natürlich.

Wie sind Sie aufgewachsen?

In einem kleinen italienischen Dorf in den Bergen. Als Kind habe ich viel im Wald und am Fluss gespielt. Die Eltern waren damals unbesorgter als heute, so dass wir Kinder den ganzen Tag frei in der Natur unterwegs war. Wir haben viele Abenteuer erlebt, ohne dass Erwachsene dabei waren. Ich bin vielleicht dadurch ein Kind geworden, dass viel Vertrauen ins Leben hat.

Hatten Sie ein Vorbild?

Ich habe als Kind nie gedacht, dass ich etwas, dass männliche Helden machten, nicht auch tun könnte. Ich habe da gar keinen Unterschied gesehen.

Es gibt ein Ritual, das von Juri Gagarin begründet wurde. Auf dem Weg zur Rakete stoppt der Bus an einer bestimmten Stelle in der Steppe. Die Kosmonauten steigen aus und pinkeln gegen den Reifen. Haben Sie das auch gemacht?

Aufgrund der Schwierigkeit den Raumanzug vollständig auszuziehen, hat das wohl bisher keine Frau getan. Dieses Ritual einzuhalten, war mir aber auch nicht so wichtig. Ich weiß aber, dass manche Astronautinnen ein Fläschchen Urin mitnehmen und es am Reifen auskippen. Aber ich habe meine zwei männlichen Kollegen natürlich darum beneidet, dass sie sich vor dem Raketenstart nochmal erleichtern konnten.

Gab es andere Situationen, in denen Sie wegen ihres Geschlechts Nachteile hatten?

Der einzige Nachteil, den ich wegen meines Geschlechts hatte, war, dass die Raumanzüge für die Weltraumspaziergänge nicht für die Maße von Frauen gemacht waren. Es werden aber gerade neue Raumanzüge für alle Größen entwickelt.

32494404656_942951fedc_o

Samantha Cristoforetti blickt ins All.

Wie haben Sie die ersten Tage auf der Raumstation erlebt?

Ich war nicht gleich eine Astro-Ballerina. Ich musste erst lernen, mich richtig zu bewegen. Am Anfang passiert es oft, dass man sich ungewollt überschlägt. Man muss sich erst daran gewöhnen, dass man für alles, was man tut, sehr viel weniger Kraft braucht. Wenn man sich ganz zart abstößt, reicht das schon, um an die Decke zu fliegen.

Angenommen die Menschheit müsste unseren Planeten eines Tages verlassen. Könnten Sie sich vorstellen, Ihr ganzes Leben in der Schwerelosigkeit zu verbringen?

Bislang haben Menschen nicht länger als ein Jahr im Weltraum gelebt. Wir wissen nicht, wie es sich auf unsere Gesundheit auswirken würde, wenn wir uns dauerhaft dort aufhalten. Es gibt vieles, von dem noch nicht klar ist, wie es in der Schwerelosigkeit funktionieren soll. Wie gelingen komplexe ärztliche Eingriffe? Was ist mit Schwangerschaft und Geburt? Experimente an Kleintieren haben gezeigt, dass sich Embryonen im All nicht normal entwickeln. Die Schwerkraft ist schon sehr wichtig für das Funktionieren des menschlichen Körpers. Man müsste sehr viel Zeit und Geld investieren, um das Leben technologisch neu zu erfinden.

Auf der ISS gibt es eine Art Panoramafenster durch das sie oft die Erde beobachtet haben. Verändert sich der Blick auf die Menschheit, wenn man von oben auf sie herunterschaut?

Mir ist nochmal klarer geworden, wie kurz die Geschichte der Menschheit ist. Wir alle lernen in der Schule, dass der Mensch in der Geschichte unseres Planeten quasi erst in der letzten Minute in Erscheinung getreten ist. Dort oben habe ich das viel intensiver gespürt.

Warum?

Wenn man aus dem All auf die Erde schaut, sieht man vor allem geologische Spuren, die sich in Millionen von Jahren entwickelt haben – Krater von Einschlägen, Erosionen, Vulkane, Gebirge. Daneben wirkt alles, was von Menschen geschaffen wurde extrem jung. Ich hatte früher immer das Gefühl, das Alte Ägypten oder das Römische Reich – das sei doch ewig her. Seit ich von dort oben auf die Erde geschaut habe, kommt mir das gar nicht mehr so vor. Ich fühle mich früheren Generationen jetzt sehr verbunden.

Welche Aufgaben hatten Sie auf der ISS?

Die ISS ist ein Weltraumlabor. Ich habe für Physiker und Lebenswissenschaftler Experimente in der Schwerelosigkeit durchgeführt. Außerdem kommen regelmäßig unbemannte Frachtraumschiffe an, die be- und entladen werden müssen und die ich mit dem Roboterarm einfangen musste.

Zurück zur Erde gelangten Sie in einer kleinen Kapsel. Sie fällt passiv wie ein Stein Richtung Erde und dreht sich dabei um sich selbst, bis der Fallschirm in zehn Kilometern Höhe über der Erde aufgeht. Wie fühlt man sich dabei?

Zeitweise wirken auf uns Astronauten Beschleunigungskräfte, die etwa vier Mal stärker sind als auf der Erde. Man spürt das wie einen Druck auf der Brust. Bei der Rückkehr zur Erde kommt noch hinzu, dass man ziemlich stark hin- und hergeschleudert wird und am Ende recht heftig auf der Erde aufprallt. Das war hart, aber nicht brutal. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt.

Und was machen Sie als Astronautin, wenn Sie nicht im All sind?

Kürzlich habe ich an einer Mission in Florida teilgenommen. Dort gibt es ein Unterwasserhabitat in 15 Metern Tiefe. Mit einer Crew von sechs Leuten haben wir dort 14 Tage so gelebt als wären wir im Weltraum. Auf dem Meeresboden haben wir Außeneinsätze trainiert, die man auf dem Mond machen würde.

Könnte es denn sein, dass Sie eines Tages auf den Mond fliegen?

Unmöglich ist es nicht. Wahrscheinlicher ist aber, dass ich erst nochmal zur ISS fliege. Konkrete Pläne gibt es aber noch nicht.

Donald Trump hat verkündet, dass 2024 wieder zwei Astronauten auf dem Mond landen sollen. Ein Mann und eine Frau. Wie wird sich die ESA daran beteiligen?

Diese Entwicklung ist relativ neu, deswegen lässt sich das noch nicht im Detail sagen. Die Amerikaner leiten bereits seit längerer Zeit das Projekt „Lunar Gateway“, bei dem eine Raumstation in der Nähe des Mondes aufgebaut werden soll. Die ESA steuert Technologien und Module für die Raumstation bei. Außerdem war sie am Bau des Raumschiffs „Orion“ beteiligt, mit dem die Astronauten zur Mond-Raumstation fliegen werden. Wie sie sich an der Mission zur Mondoberfläche beteiligt, ist noch nicht klar.

Warum sollten Menschen überhaupt noch einmal zum Mond fliegen ?

Wir könnten über den Mond viel über die Geschichte unseres Sonnensystems erfahren, weil er eine Art Zeitkapsel ist, die vor Milliarden von Jahren eingefroren ist. Wenn wir außerdem eines Tages zum Mars fliegen, ist der Mond ein nützlicher Zwischenschritt. Es könnte dort Wasser und andere Ressourcen geben, die sich aus dem Boden gewinnen lassen. Bei einer Reise zum Mars müsste man dann nicht so viel Treibstoff von der Erde mitnehmen, sondern könnte das Raumschiff im Mondbereich betanken.

Sie haben eine kleine Tochter. Wenn sie fragt, ob es Außerirdische gibt, was antworten Sie?

Dass Mama nie Außerirdische gesehen hat, dass es aber durchaus möglich ist, dass es sie gibt. Es kann zum Beispiel sein, dass wir auf dem Mars Mikroorganismen finden. Ob es aber außer uns noch andere intelligente Lebewesen im All gibt, wissen wir nicht. Selbst wenn es sie gibt, sind die Distanzen im Universum so groß, dass es unwahrscheinlich ist, dass wir mit ihnen in Kontakt kommen. Ich glaube, es ist vernünftig, davon auszugehen, dass wir die einzige Intelligenz sind. Damit haben wir aber auch eine gewisse Verantwortung mit unserer Zivilisation so umzugehen, dass wir als Spezies überleben.

Das Gespräch führte Alice Ahlers

Zur Person Samantha Cristoforett:

tier1_2019_10_19_BEZ_MDS-BEZ-2019-10-19-71-153411239

Samantha Cristoforetti

  1. 1977 in Mailand geboren, studierte zunächst an der Technischen Universität München Luft- und Raumfahrttechnik. 
  2. Anschließend machte sie bei der italienischen Luftwaffe eine Ausbildung zur Kampfpilotin.
  3. 2009 wurde sie unter mehr als 8500 Bewerbern für den ESA-Astronautenkorps ausgewählt, zu dem auch der deutsche Astronaut Alexander Gerst gehört.
  4. Im November 2014 startete sie vom Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan zur Internationalen Raumstation (ISS), wo sie 200 Tagen blieb.
  5. Sie hat ein kleines Kind und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.
  6. Buchtipp: Samantha Cristoforetti : „Die lange Reise. Tagebuch einer Astronautin“, Penguin Verlag, 500 Seiten,   24 Euro