Köln – Es ist kalt an diesem Morgen, dazu fällt feiner Niesel. Die Spaziergänger am Aachener Weiher tragen Funktionskleidung. Der Gruppe auf dem Hügel gleich hinter dem Weiher macht das nichts. Sie legt die Jacken über den bunten Sportklamotten ab, während Trainerin Lena Günter schon mal das Seil spannt.
Seit einigen Jahren stehen hier dicke Holzpfosten für Slacklines – um im Sommer die Bäume zu schonen, zwischen denen grillende Studenten gern die Balanciergurte spannen. Die Menschen, die sich jetzt um Lena Günter versammeln, haben das Studentenalter lange hinter sich: Der jüngste ist 61, der älteste 74 Jahre alt. Und was den Jungen im Sommer Zeitvertreib beim Warten auf die Grillwurst ist, ist den Senioren auch im Winter ein echtes Anliegen: Sie trainieren auf der Slackline, um die Begleiterscheinungen des Alters in Schach zu halten.
Neben dem Verlust an Muskelkraft zählen dazu zunehmende Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten – und kognitive Einbußen, sprich: nachlassende Konzentration und geistige Fähigkeiten. Das Training auf dem Gurt müsste all dem entgegenwirken können – dachte sich Lena Günter vor gut anderthalb Jahren. Sie war damals Studentin an der Sporthochschule Köln und hat das Trainingsprogramm für ihre Abschlussarbeit entwickelt.
Es zählt: die Körperspannung
Nun lässt sie die Gruppe erst einmal aufwärmen: Die drei Männer und drei Frauen tänzeln auf der Stelle, schwingen die Arme, dehnen die Schultern. Sie bleiben auf einem Bein stehen, lassen das andere pendeln, heben ein Knie an, malen mit dem Fuß kleine Kreise in die Luft. Es gilt, das Gleichgewicht zu finden – und die vielen kleinen Muskeln, die in den Füßen und Gelenken dafür sorgen, es zu halten, wach zu machen.
Nach einigen Minuten teilt sich die Gruppe auf: Ein Teil nimmt sich Federball- oder Indiaka-Sets, während Stans Kamps, 69, und Günter Czerwinski, 70, zu den beiden Slacklines gehen. So sind die Mittwochvormittage, wenn sich die Gruppe trifft, immer aufgeteilt: Man wärmt sich gemeinsam auf, dann trainiert jeder für eine Zeit an einer Slackline, während die anderen spielen, zum Schluss gibt es eine gemeinsame Runde Kraft- und Koordinationstraining.
Alles zieht an einem Strang
Constance Kamps, genannt Stans, eine zierliche Dunkelhaarige, lässt sich von Lena Günter an der Hand und am Ellenbogen stützen, als sie auf die Slackline steigt, nah am Pfosten, an dem der Gurt in etwa einem halben Meter Höhe befestigt ist – dort gibt er am wenigsten nach, das macht es leichter. Vorsichtig setzt Kamps einen Fuß vor den anderen, immer mit den Zehen zuerst. Einmal verliert sie kurz die Balance, geht in die Knie, beugt sich vor, fängt sich wieder.
Der Gang über eine Slackline ist am Anfang auch eine Kopfsache. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass man wie ein Seiltänzer über den schwankenden Gurt spazieren könnte. Es geht tatsächlich – aber es ist anstrengend: Um das Gleichgewicht zu halten, muss der ganze Körper mitarbeiten, von den kleinen Muskeln in den Füßen und Fußgelenken über den Rumpf bis hoch in Schultern, Nacken und Arme. Der instabile Untergrund fordert Körperspannung und Körperbeherrschung. Das macht sich bemerkbar – umso mehr, je länger und lockerer der Gurt ist.
Fester Blick, lockere Arme
Die Slackline, vor der Günter Czerwinski steht, ist gut drei Meter lang, und wenn der 70-Jährige sie belastet, hängt sie deutlich durch. Czerwinski setzt zunächst einen Fuß auf den Gurt, lässt das zweite Bein hängen. Er federt ein wenig, schwingt die Arme wie eine Windmühle. Erst nach einer ganzen Weile nimmt er den zweiten Fuß dazu. Er macht ein paar Schritte, muss absetzen, fängt neu an. Nach einigen Minuten balanciert er bis zum Ende des Gurtes. Ohne sich festzuhalten, dreht er um und balanciert zurück.
„Wichtig ist, einen festen Punkt mit dem Blick zu fixieren“, sagt Czerwinski. Und sich erst einmal an das Schwingen des Gurtes zu gewöhnen. „Das kann aber jeder, davon bin ich fest überzeugt – man muss nur üben!“
Allerdings: Günter Czerwinski ist sehr sportlich. Er fährt Rad, läuft, schwimmt – und verbindet alles auch mal zu einem Triathlon. Auch die anderen Mitglieder des Mittwochs-Treffs sind ziemlich fit. Den Aufruf von Lena Günter, sich bei ihr für eine Studie zu melden, haben viele beim Laufen oder Walken im Stadtwald gesehen.
Für ihre Masterarbeit wollte die Sportwissenschaftlerin die Wirksamkeit von Slackline-Training aber nicht an gebrechlichen Menschen testen – das wäre wohl auch nicht möglich. Wer auf dem Seil gehen lernen möchte, muss gut zu Fuß sein. Aber das sind viele Senioren heute.
Mit dem Verein für Gesundheitssport will Lena Günter demnächst das Slackline-Training für Erwachsene auch in der Halle anbieten. Dabei werden zwei Trainer eine Kombination aus Slackline-, Koordinations- und Gleichgewichts-Übungen begleiten.
Informationen hat Cordula Camara: 0221/88825325 c.camara@vgs-koeln.dewww.vgs-koeln.de
„Ich hatte während meines Studiums mit vielen Älteren zu tun, die sehr sportlich waren und dachte: Bei klassischen Gleichgewichtsübungen für Senioren – wie an der Wand angelehnt auf einem Bein zu stehen – haben die gar keinen Trainingseffekt“, sagt Günter. Sie selbst stand in ihrer Freizeit gerne auf der Slackline, und fand: Wieso sollen die Älteren das nicht machen? „Dafür bin ich zuerst ausgelacht worden.“
Zum Problem wird im hohen Alter oft ein Sturz – wer sich etwa den Oberschenkelhals bricht, verliert schnell die letzte Mobilität. Stürze verhindern kann Studien zufolge ein Training aus Gleichgewichts-, Koordinations- und Kognitionsanteilen. Lena Günters Grundannahme: Das Üben auf der Slackline beeinflusst Gleichgewicht, Koordination und Kognition positiv – und durch den spielerischen Aspekt des Balancierens macht es auch schlicht: Spaß. Und das motiviert.
Sport mit Spaßfaktor
Für ihre Masterarbeit teilte sie 28 Frauen und Männer ab 60 Jahre – Durchschnittsalter: knapp 70 Jahre –, die mindestens zwei Stunden Sport pro Woche machten, nach dem Zufallsprinzip in eine Trainings- und Kontrollgruppe ein. Zwölf von ihnen trainierten sechs Wochen lang zweimal pro Woche mit der Slackline.
Das wissenschaftliche Ergebnis, ermittelt durch eine Gleichgewichtsmessung vor und nach den sechs Wochen, kognitive Tests und Fragebögen, war nicht umwerfend: Die Teilnehmer zeigten keine deutlichen Verbesserungen ihres Gleichgewichts und ihrer Konzentration. Nur in einigen Testpositionen waren sie standfester.
Insgesamt ist die Studienlage zum Nutzen des Slackline-Trainings bei Älteren durchwachsen: Während die erste Untersuchung dazu zum Schluss kommt, mit dem Balancieren lasse sich das Gleichgewicht in kürzester Zeit verbessern, kommen andere Autoren zu zurückhaltenderen Schlüssen – man dürfe die Effekte nicht überschätzen, heißt es da.
Gefühl der Verbesserung
Die subjektiven Ergebnisse allerdings „haben mich umgehauen“, sagt Lena Günter. Denn die Trainierenden am Aachener Weiher sind sicher: Das Training wirkt. Mit dem Alter habe sein Gleichgewicht schon nachgelassen, sagt etwa Günter Czerwinski. Dabei sei er immer gern balanciert, nicht nur als Kind. „Durch das Training auf der Slackline hat es sich aber verbessert, da bin ich ganz sicher.“
Andere Gruppenmitglieder erzählen Geschichten aus ihrem Alltag: Etwa, dass sie nun vor roten Ampeln nur noch selten vom Fahrrad absteigen, weil sie es auch im Stehen eine ganze Weile ausbalancieren können. Sie fühlen sich kräftiger, finden, dass sich ihre Koordination verbessert hat.
Aus der Testgruppe ist fast schon eine verschworene Gemeinschaft geworden – die sich immerhin bis heute jede Woche bei Wind und Wetter trifft, auch wenn die Studie seit anderthalb Jahren abgeschlossen ist. Und das spricht zumindest ziemlich stark für die Motivationskraft des Balance-Trainings.