Meditation im AlltagWortlose Form des Betens

Der kleine Altar gilt den Meditierenden als Ausrichtungspunkt.
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Köln – „Wir brauchen einen heiligen Raum“, sagt Winfried Semmler-Koddenbrock. Mit ein paar geübten Handgriffen und wenigen Utensilien gelingt es ihm, aus dem nüchternen Seminarraum einen Ort zu machen, der eine spirituelle Atmosphäre hat: Vor der mit einem schwarzen Stoff verhangenen Wand hat der Pastoralreferent und Meditationslehrer einen kleinen improvisiertem Altar aufgebaut. Darauf eine Dreifaltigkeitsikone von Hildegard von Bingen, eine weiße Orchidee, eine brennende Kerze und schließlich ein herb duftendes Räucherstäbchen. In U-Form werden zwölf Meditationsmatten um den kleinen Altar gruppiert. „Wir brauchen eine geschlossene Form und einen Ausrichtungspunkt“, erklärt Semmler-Koddenbrock.
Hochzeit zwischen Ost und West
Seit vielen Jahren leitet der 58-Jährige in Bonn Kurse in kontemplativer Meditation. „Die Form, die wir hier praktizieren, nennt sich Via Integralis und ist sozusagen eine Hochzeit zwischen Ost und West“, erklärt der Theologe. „Sie verbindet die christliche Mystik mit der Übung des Zazens, der gegenstandslosen Schweigemeditation des Zen-Buddhismus.“ Christlich gesprochen gehe es um das Erwachen zur Einheit mit Gott und um ein Leben in Liebe zu allen Geschöpfen. „Es ist ein passives Gebet in den tiefsten Schichten in uns, ohne Gedanken, Bilder und Gefühle. Alles, was in unser Bewusstsein aufsteigt, können wir wahrnehmen und dann versuchen loszulassen, um in tiefergelegene Schichten zu gelangen.“
Christliche Meditation
Semmler-Koddenbrock selbst hat vor knapp 30 Jahren diese Form des Meditierens kurioserweise bei einer Skifreizeit kennengelernt. Bevor es auf die Piste ging, gab es das Angebot zur Schweigemeditation. „Ich habe gemerkt, wie gut mir das getan hat“, erinnert er sich. Schon vorher habe er viel meditiert, allerdings habe er lange im christlichen Umfeld keine Methode gefunden, die ihm diese wortlose Form des Betens in absoluter Stille, das „Leerwerden“, ermöglichte. Die habe er dann in der kontemplativen (aus dem Lateinischen: contemplatio = Betrachtung ) Meditation der Via Integralis gefunden.
An diesem Abend sind es fünf Männer und sieben Frauen, die sich auf die Suche nach der Tiefe in sich begeben. Jeder, der kommt, verneigt sich schweigend in Richtung Altar und nimmt Platz auf einem Meditationskissen – jeder so wie er oder sie es mag: auf Sitzkissen, Meditationsbänkchen oder auch Hockern oder Stühlen. Mit einer Geschichte und einem kleinen Vortrag, der zur Mediation hinführt, begrüßt Winfried Semmler-Koddenbrock die Gruppe. Dann wenden sich alle zwölf von der Gemeinschaft ab, hin zur weißen Wand. Die Gruppe spricht gemeinsam ein kurzes Gebet. Meditations-Assistentin Heidrun Damm schlägt dreimal gegen die Klangschale. Noch während der letzte Ton langsam nachhallt, versinkt jeder der zwölf in seine eigene Meditationswelt. Sie schweigen und schauen mit offenen Augen vor sich ins Leere.
Die Suche nach der Leere
Ungeübte überkommt unwillkürlich der Reflex, die Augen abzuwenden oder einfach zu schließen. „Wenn man die Augen schließt, dann aktiviert man die Gedanken. Bei der Kontemplation aber sucht man ja gerade die Leere, um sich letztlich von Gott füllen und inspirieren zu lassen“, erklärt Semmler-Koddenbrock.
Nach fünf Minuten nimmt sich Heidrun Damm einen Holzstab. Vorsichtig lehnt sie den Stab jedem Meditierenden an den Rücken. „Das dient der Ausrichtung, damit man gerade sitzt“, erklärt der Kursleiter. Eine gerade Sitzhaltung sei wichtig, um sich besser auf den eigenen Atem konzentrieren zu können. 25 Minuten verharren die Männer und Frauen in ihren Positionen, bis ein zweimaliger Gongschlag die Stille unterbricht. Ohne die Meditation zu unterbrechen, gehen sie dann fünf Minuten schweigend durch „heiligen Raum“ – um danach wieder für 25 Minuten in die Welt der Stille und des eigenen Atems zu versinken. Anfängern gelingt das oft nicht gleich und ausdauernd. „Da braucht man ein Hilfsmittel, das einen immer wieder zurückholt, wenn die Gedanken abschweifen“, sagt Semmler-Koddenbrock. Der eine fange für sich an, die Atemzüge zu zählen, andere wiederholten immer wieder das Meditationswort Nada („nichts“).
Ein kurzes Gebet holt die Teilnehmer nach 90 Minuten zurück in diese Welt. Am Ende berichten sie, wie gut ihnen das Zusichkommen getan hat. Nachweislich fördere die gegenstandslose Meditation die körperliche und seelische Gesundheit, so Semmler-Koddenbrock. Das Körpergefühl insgesamt werde besser. „Ich merke eher, wenn was nicht stimmt.“
Alltag und Stress ausschalten
So ist es auch nicht für alle seiner Kursteilnehmer nur eine religiöse Motivation, die sie meditieren lässt. Viele benutzen die kontemplative Meditation auch als Vehikel, um vom Alltag abzuschalten, Stress abzubauen, achtsamer zu werden oder einfach die Gedanken im Kopf zu sortieren. Andere suchen bewusst eine neue Erfahrungsdimension in ihrem Glauben an Gott. Doch egal, aus welcher Motivation heraus – einig sind sie sich, dass die Zeit im Schweigen nicht nur Glücksquelle für den Moment, sondern auch Kraftquelle für den Alltag sei.