Christiane Woopen im Interview„Wir rutschen in eine Gesundheitsdiktatur!“
- Christiane Woopen ist Medizinerin und Philosophin und sitzt heute dem Europäischen Ethikrat vor.
- Im Interview mit Weinexpertin Romana Echensperger spricht sie darüber, warum sie Algorithmen für einen tiefen Eingriff in die persönliche Integrität hält und wo sie die Gefahr einer Gesundheitsdiktatur in unserer Gesellschaft sieht.
- Es geht aber natürlich auch um guten, süffigen Wein.
Köln – Frau Woopen, ein Gespräch über Wein dürfte in Ihrem Terminkalender Seltenheitswert haben. Was reizt Sie daran?
Woopen Ich bin sicher keine Kennerin, trinke aber sehr gerne Wein. Mit Familie und Freunden zusammensitzen, die Gedanken fliegen lassen, diskutieren, Pläne schmieden, Argumente schärfen, sich begegnen – das verbinde ich mit einem Glas Wein.
Mit einem Kreis von Kollegen gehen wir zweimal im Jahr nach getaner Arbeit in ein Sternerestaurant. Da fängt dann die Fachsimpelei an: Passt der Wein zum Essen oder nicht? Es amüsiert mich, wie stark die Meinungen manchmal auseinandergehen. Deshalb bin ich froh, dass ich Sie als Expertin nach ein paar Tipps fragen kann, Frau Echensperger.
Echensperger Erster und wichtigster Grundsatz: Was schmeckt, das stimmt. Und dann gibt es ein paar Kriterien, welcher Wein zum Essen passt. Zum Beispiel die Orientierung am Klima: leichtes Essen, kühler Wein; schwerer Braten, Rotwein aus warmen Regionen.
Je kleinteiliger die Regeln ausfallen, desto anstrengender kommen sie mir vor. Da wird schon auch viel Bohei gemacht. Aber es gibt doch ein paar Kombinationen, die einen so richtig packen können: Ein Roquefort zu einem guten Portwein, Munster-Käse mit einem Gewürztraminer – das sind Offenbarungen.
Woopen Wenn ich nach dem Geschmack eines Weins gefragt werde, fällt mir als erstes eine musikalische Tonart oder auch ein einzelner Ton ein: C-Dur oder h-moll, ein Dis oder ein Ges. Das ist schwer vermittelbar, ich weiß – aber so geht es mir.
Echensperger So allein sind Sie damit gar nicht. Zwei Forscher an der Universität Oxford haben herausgefunden, dass unterschiedliche Musik das Geschmackserlebnis beim Verkosten verändern kann. Das legendäre Champagner-Haus Krug hat mit verschiedenen Musikern zusammengearbeitet, die zu den Cuvées Musik zusammengestellt haben.
Woopen Aus der Neurologie ist das Phänomen der Synästhesie bekannt, der Kopplung zweier unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen im Gehirn – weshalb manche Menschen zum Beispiel eine bestimmte Farbe sehen, wenn sie einen Ton hören, oder ein bestimmtes Wort mit einem spezifischen Geschmack verbinden.
Ich glaube, in meinem Leben war Musik von Anfang an etwas so Zentrales, dass sich andere Sinneseindrücke auch körperlich mit Musik verbinden. Generell finde ich: Wir dürfen das Bewusstsein über die Vielfältigkeit der Sinnlichkeit nicht verlieren, gerade angesichts der alles erfassenden Digitalisierung und der glatten Bildschirme.
Menschliches Leben lässt sich eben nicht in eine binäre Logik – null, eins – oder in eine zweidimensionale, kalte Oberfläche zwängen. Manchmal denke ich, in Maßen ist Wein da – wie alle sinnlichen Genüsse – ein probates Gegenmittel.
Mit diesen Logiken und ihren Folgen haben Sie als Co-Vorsitzende der Datenethik-Kommission ständig zu tun. Was ist aus Sicht der Ethikerin die größte Herausforderung im Zuge der Digitalisierung?
Woopen Dass wir vor lauter Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten, die die Digitalisierung zweifellos mit sich bringt, nicht die Gefahren für den Einzelnen und die Gesellschaft übersehen.
Wir haben es mit Technologien zu tun, die sich oft kaum bemerkt in alle Bereiche unseres individuellen und gesellschaftlichen Lebens hineinfräsen und sie von innen heraus umdeuten. Die Schriftstellerin Juli Zeh hat mal treffend gesagt: Totalitäre Systeme kommen heute im Gewand von Service-Angeboten.
Müssen Ethiker eigentlich von Natur aus Spielverderber sein? Oder sind sie gar getarnte Innovationsverweigerer, die immerzu vor Gefahren und Risiken warnen, weil am besten alles so bleiben soll, wie es ist?
Woopen Ethiker sind keine Gesinnungspolizisten, sondern Gestalter der Wirklichkeit. Mein Verständnis von Ethik ist nicht, etwas zu erlauben oder zu verbieten. Vielmehr geht es mir um die Frage, wie wir zum Beispiel neue Technologien sinnvoll und zum Wohl des Menschen einsetzen.
Das kann dann auch zu Grenzsetzungen oder Verboten führen, aber Potenziale zu nutzen, Risiken zu begrenzen – das verlangt zuweilen eine anstrengende Kleinteiligkeit, ohne das große Ganze aus dem Blick zu verlieren. Es gibt auf „die“ großen Fragen eben nicht „die“ großen Antworten für den Alltag. Das macht es so mühsam, aber auch spannend: Man darf und muss sogar eine Frage von allen Seiten beleuchten.
Echensperger Ich mache es mal kleinteilig: Was kann der Einzelne überhaupt erreichen?
Was ändert es, ob ich meinen Facebook-Account abschalte oder nicht?
Woopen Sie sollten sich nicht einbilden, als Einzelne Ihre Privatsphäre vollständig schützen zu können. Das erfordert tatsächlich staatliche Regulierung. Wir reden hier schließlich von grundrechtsrelevanten technologischen Anwendungen.
Ich halte es zum Beispiel für einen tiefen Eingriff in die persönliche Integrität, wenn Algorithmen meine Persönlichkeitseigenschaften errechnen und daraus Schlüsse ziehen. Wird mir danach ein bestimmtes Produkt zum Kauf angeboten, mag das ja vielleicht noch angehen, wenn ich vorher bewusst eingewilligt habe.
Aber auf der Grundlage von Facebook-Likes die sexuellen Präferenzen zu ermitteln, die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft oder das Risiko, in zwei Jahren eine Schizophrenie zu entwickeln, damit das Unternehmen unter Ausnutzung dieses Profils Geld verdient – das geht eindeutig zu weit.
Konsequenz?
Woopen: So etwas sollte man per Gesetz verbieten, weil es einen Eingriff in die persönliche Integrität des Einzelnen darstellt. Letztlich geht es auch um Fragen der Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Gesetze, die von den digitalen Großkonzernen ignoriert oder unterlaufen werden…
Woopen Nicht unbedingt. Die neue Datenschutz-Grundverordnung zum Beispiel zeigt, dass die Unternehmen sich sehr wohl danach richten müssen, auch wenn es noch Vollzugsdefizite gibt. In jedem Fall ist das ein Kampf, den wir führen müssen.
Wenn etwa in Zukunft Krankenversicherungen kontinuierlich Daten über das Verhalten ihrer Kunden abgreifen und daraus Risiko-Kalkulationen erstellen würden, könnte das dazu führen, dass sie den Versicherten bestimmte Leistungen verweigern – etwa mit dem Hinweis, es bestehe das hohe Risiko einer Parkinson-Erkrankung in den nächsten drei Jahren.
Oder Sie bekommen Prämiennachlässe angeboten für ein bestimmtes Verhalten – das gibt es bereits im Ausland, bei der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland bisher nicht.
Die Leute zum Beispiel mit den Risiken des Rauchens zu konfrontieren, ist doch kein Fehler.
Woopen Eine der Gesundheit zuträgliche Lebensführung mag sicher wünschenswert sein. Aber über all die kleinen, scheinbar harmlosen Schritte rutschen wir nach und nach hinein in eine Gesundheitsdiktatur. Das ist die Gefahr.
Ich will nicht, dass Menschen zum Verzicht auf bestimmte Verhaltensweisen gedrängt oder verpflichtet werden, nur weil sie ungesund ist. Was ist denn dann mit der alleinerziehenden Mutter, die nicht jede Woche ins Fitness-Studio rennen kann? Was ist mit dem Rollstuhlfahrer, der natürlich nicht seine 10 000 Schritte am Tag gehen kann? Oder was ist mit dem Lungenkrebs-Patienten, der nur selten geraucht hat? Sollen sie alle nicht mehr auf die Solidargemeinschaft zählen dürfen?
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Echensperger Oder man wird zum Risiko-Versicherten, wenn man zu oft Wein im Internet bestellt.
Woopen Das spricht schon mal sehr für den analogen Einkauf beim Händler, mit Bargeld (lacht). Wenn man Verhalten individualisiert prämieren oder bestrafen will, braucht man dafür ein totalitäres System der Überwachung – und den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Verhalten und einer Erkrankung. Faktisch kennen wir aber nur statistische Zusammenhänge und Wahrscheinlichkeiten.
Wie wichtig ist Gesundheit überhaupt?
Woopen Sie ist natürlich ein fundamentales Gut, das uns bei der Verwirklichung unserer Lebensziele hilft und uns unangenehme Empfindungen wie Schmerzen erspart. Deshalb wird in Umfragen die Gesundheit in der Güter-Skala abstrakt auch immer weit oben stehen.
Wer aber sagt, „Hauptsache, gesund“, der hat mutmaßlich nicht die Alternativen durchgespielt – in einer Abwägung mit anderen Gütern: Ganz gesund sein, aber dafür im Gefängnis? Keine ersprießliche Vorstellung. Dann vielleicht doch lieber frei leben, wenn auch mit einer chronischen Krankheit.
Hauptsache was also?
Woopen Hauptsache sinnvoll und selbstbestimmt. Das kann für jeden etwas anderes bedeuten. Gefährlich ist jedoch, wenn sich relative Ziele innerhalb eines Lebensbereichs verabsolutieren. Wenn zum Beispiel wirtschaftlicher Gewinn oder optimale Fitness zu „dem“ Ziel schlechthin werden.
Darüber verliert man das große Ganze und auch die Gesellschaft, die gesellschaftliche Verantwortung aus den Augen. Es ist doch so: Keiner von uns wird auf dem Sterbebett sagen: „Mein Leben war sinnvoll, weil ich so gesund oder weil ich so reich war.“ Für ein erfülltes Leben gelten andere Maßstäbe.
Echensperger Sie haben vor unserem Gespräch gesagt, Sie trinken gern Grauburgunder und Wein aus Südafrika. Mit diesen Informationen habe ich auch mal Algorithmus gespielt, und heraus kam: ein Weißwein mit weniger Säure und Frucht, dafür mit etwas mehr Gewicht und Schmelz. Kurz: ein Chardonnay vom Weingut „Crystallum Coastal Vineyards“.
Woopen Das leuchtet ein. (lacht)
Echensperger Wir haben uns auf die Suche nach einem besonderen Chardonnay gemacht. Für Importweine aus Übersee gilt, dass es sich leider zu oft um Massenware handelt. Deutschland hat einfach einen zu starken eigenen Markt an heimischen und europäischen Weinen.
Auf südafrikanische Weine sind Sie durch eine Safari in Namibia aufmerksam geworden, die Sie im Sommer unternommen haben. Das wird nicht die einzige Frucht gewesen sein?
Woopen Es war eine ganz wunderbare Reise. Ich war mit meinem Mann und unseren vier Töchtern dort, und wir hätten uns alle sechs nicht träumen lassen, wie unbeschreiblich schön dieses Land ist. Natürlich wissen wir auch um die politischen und sozialen Probleme, aber das Naturerlebnis war einfach überwältigend.
Auf einer 400 Meter hohen Sanddüne stehen und rundherum bis zum Horizont nichts als unberührte Wüste sehen; zwei Stunden an einem Wasserloch sitzen und Gnus, Elefanten, Springböcke beobachten; oder inmitten einer Zebraherde stehen – großartig!
Mir war vorher nicht klar, wie wunderschön Zebras sind. Und dann das Licht! Jeden Morgen ein spektakulärer Sonnenaufgang, jeden Abend ein umwerfender Sonnenuntergang. Überdies war mit der Reise ein digitaler Detox verbunden: kaum Wlan, kein Mobilfunk. Das entspannt sehr.
Was haben Sie aus diesem Naturerlebnis für sich selbst gezogen?
Woopen Ich habe auf der Reise zwei Bücher gelesen, die unweigerlich auf die Frage führen: Wie sehe ich die Welt und das Leben? Was macht für mich den Menschen aus?
Zum einen war das „Homo Deus“ von Yuval Noah Harari über die Zukunft der Spezies Mensch in der Evolutionsgeschichte und zum anderen Eugen Drewermanns Übersetzung und Auslegung des Johannes-Evangeliums. Das sind zwei sehr unterschiedliche Ansätze, die Welt und den Menschen zu verstehen.
Gerade in Namibia habe ich noch tiefer erfahren dürfen, wie wertvoll eine mit der Natur, mit der Schöpfung verbundene Sicht auf den Menschen ist, dessen Leben in einer Beziehung der Liebe gründet und nur in Liebe gelingt.
Was hat Sie zu dieser Einsicht gebracht?
Woopen Wir machen unser Leben zu oft klein und eng, fragmentieren es in unterschiedliche Rollen, vielleicht aus Ängstlichkeit. Wir betonen das Individuelle und damit das Vereinzelnde, und wir bewegen uns dann in geschlossenen gesellschaftlichen Gruppen. Dort, in Namibia, habe ich mich als Teil eines großen Ganzen erlebt – präsent im Ablauf der Zeit und zugleich in etwas Unvergänglichem, Absolutem.
Reicht das an eine religiöse Erfahrung heran?
Woopen Zumindest macht die Unmittelbarkeit der Natur in ihrer Großartigkeit den Glauben an Gott direkter erfahrbar. Ich bin katholisch, und ich kenne keine andere Perspektive als die des Christentums, die in der Gestalt Jesu Christi das Aufgehobensein des Menschen und sein unbedingtes Angenommensein in der Liebe Gottes so sehr „verkörperlicht“ hat.
Das klingt jetzt – mit Verlaub – sehr unwissenschaftlich.
Woopen Aber Sie wissen ja, dass sich Wissenschaft und Glauben keineswegs ausschließen, sondern beide im Gegenteil – zusammengehören. Und Sie haben mich nach einer religiösen Erfahrung gefragt, da erhalten Sie natürlich keine Analyse zur Antwort (schmunzelt).
Aber tatsächlich kommt es ja darauf an, an welche Art von Wissenschaft Sie denken. Um etwa biochemische Abläufe in unseren Körperzellen zu verstehen, brauche ich den Begriff der Liebe nicht.
Aber auch der Biologe oder Chemiker stößt letztlich auf die Frage: Wo kommen die ganzen Moleküle her? Oder nehmen Sie die Onkologie. Auf die Frage nach den Ursachen einer Krebserkrankung kommen die Fachleute schnell überein, dass es sich zum Beispiel um diese oder jene Veränderung in diesem oder jenem Gen handelt.
Ich habe aber noch auf keinem medizinischen Kongress erlebt, dass ein Forscher gefragt hätte: Ja, aber was ist denn die Ursache der Gen-Veränderung – mal abgesehen von der Einwirkung von Giften? Wer aber immer weiter zurückfragt, wird letztlich keine ausschließlich biologische Antwort erhalten, sondern eine, die den ganzen Menschen in den Blick nimmt.
Die Naturwissenschaft ist eine große Errungenschaft der Menschheit und hat uns viel Fortschritt gebracht. Aber sie ist nicht die letzte und nicht die einzige Antwort. Auch als Wissenschaftler tut es gut, immer wieder mal einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Was ist der Sinn dessen, was wir tun, und in welchem größeren Kontext steht es? Leider wird diese wichtige humane und damit interdisziplinäre Perspektive von unserem Wissenschaftssystem nicht wirklich honoriert.
Die Frage nach dem „Warum?“ bekommt eine ganz andere Dringlichkeit, wenn ein Krebs-Patient sie stellt: Warum ich?
Woopen Die Frage blockiert aber dann, wenn sie als Frage nach einem Verschulden gestellt wird. Ich glaube, Schuld und Schuldgefühle sind die größten Hindernisse für Entfaltung. Es sei denn, man versteht Schuld nicht moralisch, sondern existenziell.
Was meinen Sie damit?
Woopen Mein „Warum?“ führt nicht zu Schuld, sondern zur Einsicht in eine Bedeutung: Welche Bedeutung hat etwas für mich? Welche Bedeutung hat es für mich, dass ich rauche? Wenn ich mir das klar mache, kann ich überlegen, ob ich diese Bedeutung nicht auch auf einem anderen Weg erreichen kann, der dann vielleicht weniger schädlich für die Gesundheit ist.
Alles, was wir tun, hat irgendeine Bedeutung. Auch wenn wir gar nicht darüber nachdenken, handeln wir immer aus einem bestimmten Grund. Wenn man dann Verhaltensweisen bei sich entdeckt, die problematisch sind, oder wenn man in Beziehungen steckt, die einem nicht gut tun, dann lohnt sich schon die Frage: Was bedeutet mir das? Warum ist das so? Und das schafft die Grundlage für mögliche Veränderungen. Aber auch nur, wenn man die Dinge erst einmal annimmt, wie sie sind.
Und wie stößt man dann auf das, was Sie „existenzielle Schuld“ genannt haben?
Woopen Mit „existenzieller Schuld“ verbindet sich die Frage: Was bin ich mir oder einem anderem Menschen schuldig geblieben? Ein Freund von mir, der Priester ist, sagt: „Wir sind es uns und den anderen schuldig, unsere Talente zu entfalten.“ Das ist keine Frage der Moral, sondern des Seins.
Sie meinen, es geht im Leben darum, was „unsere Pflicht und Schuldigkeit“ ist?
Woopen Wenn Sie das nicht als preußische Rechtsformel und moralisch verstehen, ja. Ich würde lieber von Entfaltung sprechen.
Echensperger Ihr Karriereweg sieht danach aus, als hätten Sie die Pflicht zur Talententfaltung sehr verinnerlicht. Eine Professur, eine Fülle von Ehrenämtern, dazu Familie mit vier Kindern… Was müssen Sie für eine Disziplin haben!
Woopen Es hat mich niemand zu etwas gezwungen, und ich musste mich nur selten zu etwas überreden.
War Ihr Antreiber denn tatsächlich die „Pflicht und Schuldigkeit“, Ihre Talente zu entfalten?
Woopen Was ich inzwischen von mir selbst verstanden zu haben glaube und was sich als roter Faden durch mein Leben zieht, ist die Begeisterung für das Interdisziplinäre – für das Brückenbauen, für das Kennenlernen, für den Blick über den Zaun.
Ich lerne buchstäblich jeden Tag hinzu, und das macht mir einen unglaublichen Spaß. Ich empfinde es jeden Morgen als Geschenk, ins Büro zu fahren, dort in meinem Team zu sein und Neues zu erfahren.
Echensperger Mir kommt das irgendwie vor wie drei Leben in einem…
Woopen Ich höre das hin und wieder, aber ich empfinde das nicht so. Ich führe – dankbar – ein erfüllendes Leben, so würde ich das formulieren.
Sie sind mit Ihren Funktionen in verschiedenen Ethikräten ständige Beraterin für die Politik. Ist die Vielzahl von Ethikräten eigentlich ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Man könnte ja sagen: Wer selbst weiß, was gut und böse ist, der braucht keinen Ethikrat.
Woopen Ich sehe ein Alarmsignal eher darin, dass zu viele Gremien die Ethik im Namen führen. Mit dem Begriff wird Unfug getrieben – nach dem Motto: „Wenn Ethik draufsteht, wird schon etwas Gutes dabei herauskommen.“ Das hat dann etwas von Feigenblatt und Beruhigungspille. In Wahrheit ist aber in manchen Gremien, wo Ethik draufsteht, im Grunde keine Ethik drin.
Woran denken Sie zum Beispiel?
Woopen Die Ethik-Kommissionen zur Präimplantationsdiagnostik, zur Stammzellforschung oder für Forschungsvorhaben zu klinischen Studien – sie alle urteilen auf der Basis bereits bestehender Gesetze. Diese haben zwar ethische Relevanz, aber eine eigene gehaltvolle ethische Bewertung vorzunehmen, liegt gar nicht in der Befugnis der Kommission.
Wenn man dann aber immerzu von Ethik spricht, entwertet man den Begriff auf die Dauer. Ich vergleiche das mal – etwas gewagt – mit dem Begriff der Menschenwürde: Wer bei jedem ethischen Problem sogleich die Menschenwürde in Stellung bringt, macht diesen Begriff auf die Dauer zur „kleinen Münze“. Das ist nicht gut.
Echensperger Sehen Sie Ihre Rolle als Ethikerin darin, für die Gesellschaft Leitplanken zu errichten – eine Aufgabe, die früher die Kirchen hatten?
Woopen Ich sehe die Aufgabe der Ethik – und übrigens auch der Kirchen – vor allem in der positiven Gestaltung, nicht in der Grenzziehung – und das nicht für, sondern mit der Gesellschaft. Wenn es dann auch mal Leitplanken im Sinne von Grenzen geben muss, muss die Gesellschaft diese schon selber setzen.
Da geht es einerseits um eine Verständigung über kulturelle und soziale Entwicklungen, andererseits um rechtliche Regeln durch den Gesetzgeber. Zunächst einmal sind wir alle frei: Jeder hat die Freiheit, sich so zu verhalten, wie er es möchte, es sei denn, er schädigt damit andere Menschen oder es ist ausdrücklich verboten.
Dazu kommen gesellschaftliche Übereinkünfte. An der Schnittstelle zwischen gesellschaftlicher Übereinkunft und rechtlicher Norm haben Ethik-Kommissionen ihren Platz – und dort können sie tatsächlich gute, sinnvolle Arbeit leisten. Als Dialogpartner für die Gesellschaft und für die Politik.
Die muss sich aber nicht an Ihre Ratschläge halten. Hat es Sie nicht gejuckt, mal die Seite zu wechseln?
Woopen Doch, doch, gelegentlich. Allerdings ist ein Quereinstieg ausgesprochen schwierig. Zudem hat man als Mitglied einer beratenden Kommission zwar keine unmittelbare Möglichkeit, seine Ideen auch durchzusetzen.
Aber dafür genieße ich die Unabhängigkeit und bin nicht den verständlichen, aber mühsamen Logiken der Politik unterworfen: Mehrheitsbildung, Kompromisssuche, Parteidisziplin – das gehört in das Betriebssystem der Politik, ist aber kein wissenschaftliches Herangehen.
„Mühsame Logiken“ – das klingt aber schon ein wenig nach Frust.
Woopen Nein, die Feststellung gehört einfach zum realistischen Blick auf die Funktionsprinzipien unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche.
Hat sich die Haltung der Beratenen, also der Politiker, zu Ihnen als Beraterin mit der Zeit verändert?
Woopen Nach meiner persönlichen Erfahrung ist die Arbeit von Gremien wie dem Ethikrat selbstverständlicher geworden – und der Zugang zur Politik entsprechend einfacher. Die Bereitschaft und Fähigkeit zum Dialog hat zugenommen und auch das Interesse. Politiker suchen heute mit größerer Selbstverständlichkeit den Austausch zu ethischen Fragen, ohne es als narzisstische Kränkung zu empfinden.
Echensperger Woran liegt das?
Woopen Ich glaube, sie haben festgestellt, dass wir ihnen wirklich etwas zu bieten haben, wovon sie profitieren können. Wenn Sie bedenken, dass der Europäische Ethikrat seit nunmehr einem Jahr an einer Stellungnahme zur Gen-Editierung arbeitet, dann ist klar, dass auch ein noch so interessierter Politiker sich das nicht alles selbst aneignen kann.
Die solide und umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung, Diskussion und Zusammenfassung durch ein Beratergremium ist somit eine unschätzbare Hilfe für alle, die für eine politische Entscheidung auf der Höhe der Diskussion sein wollen. Eine eigene Meinung müssen sich die Politiker ja dennoch bilden – sie haben dafür nur eine gut aufbereitete Grundlage.
Echensperger Frau Woopen, wenn ich hier schon mit einer Ärztin sitze: Abschließend würde ich gerne von Ihnen ein Wort zum Thema „Wein und Gesundheit“ hören? Ist Wein gesund – oder nicht?
Woopen Das ist, wie bei allen Dingen im Leben, eine Frage des rechten Maßes. Und das rechte Maß ist individuell verschieden. Ich halte überhaupt nichts von all diesen Ratgebern mit fertigen Rezepten für ein gelingendes Leben. Die besten Antworten, was gut für uns ist, bekommen wir, wenn wir in uns hineinhören.
Echensperger Danke, damit kann ich gut leben!