Köln – Es gibt eine Apfelsorte, die wächst nur an einem einzigen Baum auf der Welt. An meinem. Ich habe diesen Baum gepflanzt, vor 21 Jahren im Garten meiner Eltern. Der Garten hat sich verändert, aber der Baum ist noch da, wo ich einst den Kern in die Erde gesteckt habe. Die Sonne hat geschienen, ich war elf Jahre alt und habe im Garten einen Apfel gegessen, und nachdem ich ihn bis auf das Gehäuse abgeknabbert hatte, kam ich spontan auf die Idee, einfach einen seiner Kerne in die Erde zu stecken.
„Vielleicht wird ja tatsächlich mal ein Baum daraus“, sagte meine Mutter. Und ich dachte: Bis aus dem Kern mal ein richtiger Baum geworden ist, bin ich bestimmt schon groß. Die Zeit, bis ich erwachsen sein würde, kam mir vor wie eine Ewigkeit. Jetzt bin ich groß, das ging ganz schnell, und der Baum ist es auch. Jedes Jahr im Herbst gibt es dank ihm ganz viel selbst gemachten Apfelkuchen und Apfelmus und Apfelmarmelade, und weil es mein Baum ist, kriege ich jedes Jahr meinen Teil davon. Ich habe im Haus meiner Eltern kein Zimmer mehr, in dem die Zeit stehen geblieben ist, und in das ich gehen kann, um an früher zu denken. Das macht aber nichts, denn ich habe meinen Baum.
Ich habe mich oft gefragt, was das eigentlich für ein Apfel war, den ich damals gegessen habe, und von dem mein Apfelbaum abstammt. Damals war es ein Apfel wie jeder andere. Aus heutiger Sicht ist er das natürlich nicht. Dann habe ich eines Tages gelesen, dass beim Obstwiesenfest in der Nähe ein Pomologe, ein Obstkundler, sein würde, der Apfelsorten bestimmen kann. Ich nahm zwei Äpfel von meinem Baum und ging hin. Anscheinend wollen viele Leute wissen, was für Obstbäume sie in ihrem Garten haben, denn ich musste lange warten. Als ich endlich an der Reihe war, erklärte ich dem Pomologen, dass ich einst einen Apfelkern gepflanzt hätte, aus dem ein Baum gewachsen sei, und ich nun wissen wolle, um was für eine Sorte es sich handelt. Er kostete einen meiner Äpfel. Sie sind klein, grün-rot, haben eine raue Schale, ein festes Fleisch und schmecken süß-säuerlich. Lecker. Das fand auch der Pomologe.
Er fragte, wie ich heiße. Jasmin, sagte ich verblüfft. Er antwortete, dann hieße auch der Apfel Jasmin. Es sei nämlich so: Von mehreren Tausend Apfelkernen, die man in die Erde steckt, wird nur aus einem ein Baum, dessen Äpfel auch schmecken. Und der ist dann einzigartig. Deswegen werden alle Apfelstämmchen zu den entsprechenden Sorten veredelt, indem Äste bestehender Apfelbäume daran befestigt werden. Wenn man einen Elstar-Kern in die Erde steckt, kommt also kein Elstar-Baum heraus, sondern eine ganz neue Sorte – oder eine ganz alte.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – für Apfelbäume jedenfalls gilt das nicht. Ich weiß zwar immer noch nicht, aus welcher Apfelsorte mein Baum hervorgegangen ist. Aber ich weiß, dass ich mich in einem Atemzug nennen kann mit Napoleon (nach dem das Topffruchtgewächs Napoleonaea imperialis benannt ist), Arnold Schwarzenegger (der Laufkäfer Agra schwarzeneggeri), Boris Becker (die Meeresschnecke Bufonaria borisbeckeri), Neil Young (die Vogelspinne Myrmekiaphila neilyoungi) und George W. Bush (der Schwammkugelkäfer Agathidium bushi).