AboAbonnieren

Kraft, Konzentration, AusdauerWie sich Schüler den Traum vom Ballett-Tanz erfüllen

Lesezeit 11 Minuten
digas-167103235_MDS-KR-2019-11-23-mdb56707321_439adee899_irprodgera_xv1gi

  1. Die weltberühmte John Cranko Schule in Stuttgart bildet Profitänzer in klassischem Ballett aus.
  2. Von den Schülern fordert sie alles – sie sind bereit dazu. Ein Besuch

Stuttgart – Ob Runia Schmerzen hat oder gar blutige Zehen und sie sich an diesem Morgen wie an so vielen anderen schon gefragt hat, warum sie jemals mit Tanzen begonnen hat, ahnt man bei der ersten Begegnung wenige Minuten vor Unterrichtsbeginn natürlich nicht. Es erscheint ein äußerst aufgeräumtes Mädchen mit freundlichem Lächeln. Mit unhörbaren Schritten sucht sie im großen Ballettsaal ihren Platz an der Stange. In ihrer Klasse mit anderen elf Mädchen fällt Runia als besonders zierlich auf.

Sie ist zwar schon 17 Jahre alt, aber mit ihrer Statur wirkt sie viel jünger. Alle Tänzerinnen der Klasse „Akademie B“ haben ihre Haare zu einem strengen Dutt geknotet. So verlangt es die Schule. Und damit ganz sicher keine störende Haarsträhne fliegt, bei den vielen Pirouetten, die sie an diesem Vormittag üben werden, kleben die Frisuren mit glänzender Pomade am Kopf. In den Saal, weit oben, fast unterm Dach der weltberühmten John Cranko Schule, fällt durch die großen Fenster sonniges, weiches Herbstlicht. Die Mädchen gleichen schwebenden Elfen in Pastell.

Leistungsdruck und Heimweh

Es ist 8.57 Uhr, das Verkehrschaos, der Lärm rund um die nahe gelegene Baugrube des Stuttgarter Hauptbahnhofs ist hier oben im Tanzsaal wie ausgeblendet. Stattdessen herrscht konzentrierte Ruhe. Die Mädchen, fertig angezogen, zupfen ein letztes Mal an ihren eisblauen Trikots, ziehen die weißen Strumpfhosen zurecht, prüfen ihre Grazie im Spiegel wie vor einem Bühnenauftritt. Dabei wollen sie nur vor ihrer Lehrerin Anna Jojic glänzen, perfekt sein. „Wir üben an der Perfektion, jeden Tag ein bisschen mehr“, flüstert Runia. Sie positioniert sich an der Stange und stellt ihre Trinkflasche an die Fußleiste. Nichts wäre unpassender als ein lautes Scheppern während des Unterrichts, falls eine der Flaschen umfiele, oder gar Teenie-Gekicher vor Jojics Augen die Konzentration störte. Es ist so still, dass man den Zeiger der Wanduhr über der Tür hört. Bis Jojic einen Blick nach rechts wirft und die Pianistin am Flügel einsetzt. Melodische, leichte Noten fürs Aufwärmen an der Stange. Auf Jojics Kommando beginnen die Mädchen wie Puppen mit ihren einstudierten, synchronen Übungen. Es sind sanfte, runde Bewegungen.

digas-167103288_MDS-KR-2019-11-23-71-154636266

Andrea Podda ist 16 Jahre alt und kommt aus Sardinien. Er macht  die Berufsausbildung an der Ballettakademie.

Der Unterricht an der Eliteschule beginnt also drei Minuten eher, als der Stundenplan es vorsieht – „mit der Disziplin kann man nicht früh genug beginnen“, sagt Sarah Abendroth draußen im Flur. Sie ist die Stellvertretende Leiterin der Schule und lehrt hier seit 30 Jahren. Durch die offene Tür beobachtet sie die Mädchenklasse aus dem Treppenhaus und abwechselnd die Klasse der Jungen im Tanzsaal darüber. Gleiches Alter, gleiches Ziel: Mädchen wie Jungen versuchen sich an der zweijährigen Ausbildung zum Staatlich geprüften klassischen Tänzer. Die Betonung liegt auf versuchen, denn keiner der derzeit 58 Akademie-Schüler weiß, ob er am Ende der Berufsausbildung– Akademie A – mit einem Diplom von der Schule geht. Aber für diesen Traum tun die Schüler alles, nehmen Leistungsdruck, Entbehrung und Heimweh durch die Trennung von der Familie schon als Kinder in Kauf. In der Hoffnung, mit einem Zeugnis dieser Schule in einer berühmten Compagnie unterzukommen, aber nach achtjähriger Ausbildung gerade mal 2800 Euro brutto zu verdienen – und als Solotänzer auf großer Bühne auch nicht viel mehr.

Der Weg zum Diplom ist hart, voller Kontrollen und Prüfungen, bei denen die Schule aussortiert. „Die nächste Prüfung, das Ende der Probezeit, ist im Dezember“, sagt die gebürtige Amerikanerin Abendroth, während sie die Schritte, Drehungen, Pirouetten der Jungen durchs Fenster beobachtet. „Ich kenne jeden Schüler und sehe die Fortschritte – oder eben nicht.“

„Es ist also Unsinn zu behaupten, die Deutschen könnten nicht tanzen“

In dieser Klasse tanzt eigentlich auch Andrea Podda. Er ist 16 Jahre alt, kommt aus Sardinien und ist wie Runia, deren Heimat in Rumänien liegt, im siebten Jahr an der John Cranko Schule. Beide kamen nach Bestehen der Aufnahmeprüfung als Kinder mit zehn und elf und wurden dann in das der Ballettschule angegliederte Internat aufgenommen. Das Haus bietet Platz für 44 Schüler, die nicht aus der Stuttgarter Region stammen, derzeit werden die Betten von Schülern aus 28 Nationen belegt. „Der eigentliche Schulunterricht findet in umliegenden Gymnasien oder Realschulen statt“, sagt Abendroth. Schüler wie Andrea und Runia, die anfangs der Sprache nicht mächtig sind, gehen zunächst in die Deutschförderklasse. Das ist Schulleiter Tadeusz Matacz wichtig.

Andreas Augen sind glasig, er fühlt sich schlecht heute. Sein Lehrer, Nicola Biasutti, befiehlt: „Du musst ins Bett.“ Aber der fiebrige Andrea bleibt. Auch wenn er nicht mittanzt, sieht er zu, wie die anderen zum Sprung ansetzen und in fliegenden Spagaten den großen Raum durchmessen. „Ich möchte nichts verpassen“, sagt er. Biasutti ist noch nicht zufrieden mit der Leistung der Tänzer in weißen Trikots und eng anliegenden schwarzen Hosen, die jede Sehne und jeden Muskelstrang sehen lassen. Biasutti ermahnt: „Wenn ihr Künstler sein wollt, dann nicht nur auf der Bühne, auch in der Klasse, Haltung bitte.“ Selbst wenn man als Laie kein Aufkommen wahrnimmt, ist Biasutti die Landung in den weißen Schläppchen zu laut. „Konzentration, Balance, Ausdauer, Muskelkraft“, kommentiert der kranke Andrea am Rand geschwächt, „das ist so anstrengend, deshalb müssen wir jeden Tag vier, oft auch sechs Stunden an sechs Tagen in der Woche trainieren.“ Das Programm halten physisch wie psychisch nur die Besten aus. Die, die es wirklich wollen.

digas-167104339_MDS-KSTA-2019-11-23-71-154636267

Andrea Podda ist 16 Jahre alt und kommt aus Sardinien. Er macht  die Berufsausbildung an der Ballettakademie.

Was ist das für eine Schule, die in einem Atemzug mit den Kaderschmieden in Paris, London oder Moskau genannt wird? Gegründet hat sie der Namensgeber und Choreograph John Cranko, der 1961 aus England nach Stuttgart kam, um die dortige Ballettcompagnie am Staatstheater mit Stars wie Marcia Haydée und Richard Cragun und seinen Choreographien zu Weltruhm zu führen. Er hat eines der wichtigsten Kapitel der deutschen Tanzgeschichte begonnen und konnte dank Erfolg und Beharrlichkeit die Stadt und das Land Baden-Württemberg für die Einrichtung der ersten staatlichen Ballettschule Westdeutschlands mit angegliedertem Internat überzeugen. Damals sagte er: „Wenn es hier kein mathematisches Institut gäbe, hätten wir auch keine deutschen Mathematiker. Es ist also Unsinn zu behaupten, die Deutschen könnten nicht tanzen. Es liegt vielmehr an der fehlenden Ausbildung. Es ist wie bei einer Pyramide: Man nimmt hundert achtjährige Kinder, von denen dann – nach einer langen und ziemlich aufwendigen Ausbildungszeit – vielleicht zehn so begabt sind, dass sie eventuell Berufstänzer werden können. Deshalb ist es so wichtig, diese zehn zu finden. Man kann natürlich auch Stars für viel Geld einkaufen – wie eine Orchidee, die am nächsten Tag welkt. Besser ist es, die Pflanze selbst zu züchten.“

Leidenschaft und Wahnsinn

Die Gärtnerarbeit hat Cranko mit Eröffnung der Schule am 1. Dezember 1971 in der Urbanstraße 94 selbst übernehmen können. Seither ermöglicht sie eine kontinuierliche Ausbildung für klassischen Tanz von der Grundausbildung bis zum Berufsabschluss. 1973 bekamen die beiden letzten Klassen, die sogenannten Theaterklassen, den Status einer Staatlichen Ballettakademie, Berufsfachschule. Cranko selbst konnte dies gerade noch erleben, denn er verstarb im selben Jahr mit nur 45 Jahren völlig überraschend auf einem Rückflug aus den USA. Er ist erstickt. Seit 1974 trägt die Schule seinen Namen und ist weiterhin ganz eng mit der Compagnie des Stuttgarter Balletts verknüpft.

Heute leitet Tadeusz Matacz die Schule, der den Gründer „leider nicht persönlich kennengelernt hat“, aber versucht, die Schule in seinem Sinn weiterzuführen. Matacz ist bekannt für Sätze wie: „Bekämpft den Loser in euch. Es muss niemand sehen, dass ihr einen schlechten Tag habt.“ Oder: „Die Ausbildung ist hochkarätig und fordernd. Zu uns kommen nur die Besten. Dazu gehört Feuer, Leidenschaft, ein Tick Wahnsinn.“

Im Ballettsaal der Mädchen hat Leidenschaft und Wahnsinn die Luft schwerer werden lassen. Ein feuchter Film lässt die freigelegten Schulterblätter glänzen, das Eisblau ist schweißgefärbt dunkel. Anna Jojic klatscht in die Hände, den Takt spricht sie mit: „Ra ta ta ta tam. Ihr müsst schon auf die Musik hören, Frau Lee hat sogar auf Euch gewartet“, ruft sie auf Englisch durch den Raum, damit alle sie verstehen. Einzelkritik übt sie an jedem Mädchen. Platziert Füße, Zehen, Finger da, wo sie sie haben will. Sie sieht jeden Zentimeter, der nicht wunschgemäß ausgeführt ist. „Deshalb ist Ballett so schwierig, weil es so viel Präzision verlangt“, sagt sie, während sie bei Runias Mitschülerin Alex den rechten Fuß am angewinkelten Bein um nur ein paar Millimeter an der linken Wade nach innen führt. Nur Runia bleibt verschont von ihrer Manöverkritik.

Viele blutige Zehen

Die äußerst zarte Runia ist als Internatsschülerin in ihrer Klasse schon am längsten dabei. Wenn die anderen Mädchen, die teilweise erst seit diesem Schuljahr hier sind, sich mit gestrecktem Arm an der Stange flexibel nach hinten beugen, nimmt Runias Wirbelsäule die Form eines elegant geschwungenen Kleiderbügels ein. Sie ist so beweglich und akkurat auf Frau Lees Takt und deren mittlerweile dynamisches Klavierspiel, dass dem Weg zur Primaballerina vermutlich nichts entgegensteht. Die Hände von Frau Lee fliegen über die Tasten nach den Kompositionen von Marian Surgan. Nach ein paar weiteren Pirouetten bei den Mädchen und Spagaten bei den Jungen ist die erste Einheit Ballett nach zweieinhalb Stunden für diesen Tag beendet.

Ihre nass geschwitzten Körper hüllen die Schüler in Sweatshirts, im Treppenhaus ziehen sie Spitzenschuhe und Schläppchen aus, munteres Gequassel raunt über die Stufen. Französisch, Spanisch, Japanisch, Englisch natürlich. Zum Vorschein kommen viele gepflasterte und blutige Zehen. Niemanden interessiert das. „Jeden Morgen, wenn um 6.30 Uhr der Wecker klingelt und der Körper vom Kopf bis zu den Fußspitzen weh tut, frage ich mich, warum ich nur Tänzer werden wollte“, sagt Andrea Podda. „Aber sobald ich tanze, ist alles vergessen.“ Und Runia, die sich genauso quält beim Aufstehen, zitiert, was Schulleiter Matacz den Kindern von Beginn an einschärft: „Wenn du keine Schmerzen hast, bist du tot.“ Blutige Zehen gehören also zum Profitanz wie Sahnetorten es nicht tun.

digas-167104387_MDS-KSTA-2019-11-23-71-154636268

Runia Hanza, 17, kommt aus Rumänien. Sie kam mit zehn zur John Cranko Schule und war lange Internatsschülerin.

Soviel Disziplin und Entbehrung lässt auf Kinder ehrgeiziger Ballerinen schließen. Dabei haben weder Runia noch Andrea Tänzerinnen als Mütter. Im Fernsehen sahen sie erstmals Ballett, die Eltern ermöglichten Unterricht, und weil die Lehrerinnen sowohl in Rumänien wie auf Sardinien schnell großes Talent entdeckt hatten, wurden aus einer Stunde Ballett pro Woche schnell zwei am Tag. „Am Anfang im Internat waren die Betreuer sehr wichtig für uns – und auch die anderen Kinder, ich habe drei Monate geweint“, erinnert sich Runia an ihren Anfang in Stuttgart. „Aber wir sind wie eine Familie, und von der Konkurrenz, die uns alle immer unterstellen, merke ich nichts.“

Die meisten Schüler winden sich durch den verwinkelten Bau zum Mittagessen ins Erdgeschoss. Zu essen hat Küchenchef Alexander Blaich heute Fisch, Salat und Gemüse. „Sahne habe ich noch kein einziges Mal eingekauft, seit ich hier angestellt bin“, sagt er aus seiner schmalen Küche heraus. „Schokolade, Pudding sind total verboten. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Croissant in meinem Leben gegessen habe“, sagt Runia. Wir essen sehr gesund.“ Gekocht wird nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, darauf legt die Schulleitung wert. Aber Gewichtskontrolle gehört genauso dazu wie schlimmes Heimweh am Anfang und Hausaufgaben am Sonntag – dem einzig freien Tag. „Wir finden das nicht schlimm, das gehört dazu“, sagen Runia und Andrea voller Überzeugung.

Keine Disko-Besuche, keine Shopping-Touren

Überhaupt scheinen sie das jahrelang antrainierte Cranko-Gen verinnerlicht zu haben. Fragt man sie, welche Musik sie gerne hören, müssen beide lange überlegen. Ruina meint Ariane Grande. Andrea sagt: „Zum Einschlafen lieber klassische Musik und am liebsten sehe ich Ballettfilme.“ In seinen Sommerferien verbringt er zwar Zeit bei seinen Eltern in Cagliari, schwimmt im Meer und isst auch mal Pasta, aber „den Tanzworkshop in Moskau vergangenen Sommer möchte ich wirklich nicht missen“. Denn ein Leben ohne Ballett sei nun mal kein Leben.

Runia geht Joggen, um den Kopf frei zu bekommen. Noch mehr körperlichen Exzess? „Ja, laufen durch den Schlosspark und durch die Hügel der Stuttgarter Stadtlandschaft. Danach kann ich mich wieder fokussieren auf das, was verlangt ist.“ Aber zu viele Muskeln dürfen auch nicht sein, die Proportionen der Ballerina müssen stimmen. „Es gibt schon ein Modell, wie eine Balletttänzerin aussehen soll.“ Das wird von Anbeginn der Ausbildung eingeimpft.

Ausgehen, Chillen, Disko und Shopping kommt, wie in so vielen anderen Teenager-Biografien, im Leben von Runia und Andrea einfach nicht vor. „Wenn der Tag mit allem Training und Unterricht zu Ende ist, habe ich gar keine Kraft mehr,“ sagen beide wie aus einem Mund. Sie vermissen derart Zerstreuung auch nicht. Ein paar blutige Zehen scheinen egal auf dem Weg nach ganz oben. Während sie sich im ziemlich nichtssagenden Klassenzimmer, in das kaum Tageslicht hereinfällt, in dem sie am Nachmittag Deutschunterricht und Anatomiekurs haben, auf die nächsten Lektionen vorbereiten, träumen sie von ihrem nächsten Pas de deux. Marcia Haydée und Richard Cragun erlangten als Romeo und Julia unter John Cranko Weltruhm. Runia und Andrea arbeiten daran.

Das ist die Schule

Die John Cranko Schule ist eine Ballettschule für klassische Profitänzer. Seit der Gründung ihres 1973 verstorbenen Namensgebers, dem Choreographen und Ballettdirektor John Cranko, bildet sie aus und genießt Weltruhm.

Die Ausbildung ist drei geteilt in Vorschule, Grundausbildung und Staatlicher Ballettakademie. Diese entspricht einer zweijährigen Berufsfachschule und entlässt die Schüler als Staatlich geprüfte klassische Tänzer mit Diplom. Für jede Stufe gibt es Aufnahmeprüfungen.

140 Schüler sind derzeit in Ausbildung, der Unterricht findet statt von Montag bis Samstag. 44 Schüler sind momentan im Internat. Das Schulgeld ist gestaffelt.

Der Umzug in den Neubau (Planung Architekturbüro Burger Rudacs, München) steht schon länger an, doch es kam zu Verzögerungen. Der prächtige Terrassenbau in Stuttgarter Hanglage kostet rund 52,5 Millionen Euro, die sich die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg teilen. Mit zehn Millionen Euro unterstützt die Porsche AG den Neubau im Rahmen ihres Kultursponsorings.