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Mikrobiologe Beat Frey im InterviewWas passiert, wenn alte Organismen im Gletschereis auftauen?

Lesezeit 4 Minuten
Ein Biologe auf einem Feldausflug in einer Tundra-Landschaft.

Ein Biologe auf einem Feldausflug in einer Tundra-Landschaft.

Der Klimawandel setzt alte Organismen frei. Mikrobiologe Beat Frey erklärt, wie gefährlich, aber auch nützlich sie für Mensch und Umwelt sind.

Beat Frey ist Mikrobiologe an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL in der Schweiz. Dort leitet er die Forschungsgruppe „Rhizosphären-Prozesse“, die die Wechselwirkungen zwischen Boden, Mikroorganismen und Wurzeln untersucht. Ein Gespräch.

Herr Frey, kommt die nächste Pandemie aus dem Eis?

Wenn ich das wüsste. (lacht) Im Gletschereis und in den Permafrostböden finden wir viele Organismen, die seit Tausenden Jahren dort leben. Jetzt schmelzen die Gletscher, der Permafrost taut auf, die Organismen können sich verbreiten. Was wir nicht wissen, ist, was das alles für Organismen sind. Dennoch: Die Wahrscheinlichkeit, eine neue Pandemie auszulösen, ist meiner Meinung nach gering. Die Organismen haben sich an ihren speziellen Lebensraum angepasst. Wenn sie jetzt auftauen, können sie kaum in der neuen Umwelt überleben – zum einen wegen der Temperaturen, zum anderen, weil sie, im Fall der Viren, neue Wirte, also tierische, menschliche oder pflanzliche Zellen, erobern müssten.

Sie sagen, „viele Organismen“ sind noch unbekannt. Wie viele?

Wir schätzen, dass wir rund 60 Prozent der Mikroorganismen im Permafrost oder Eis kennen, also deren nächsten Verwandte. Bedeutet im Umkehrschluss: 40 Prozent kennen wir nicht. Bei Erbgutanalysen und Datenbankabgleichen sehen wir, dass viele der Organismen unbekannt sind, also keine nächsten Verwandten haben. Wir finden aber auch Gensequenzen von Arten, die sehr ähnlich zu denen von Legionellen (im Wasser lebende Bakterien, Anm. d. Red.) sind, die die Legionärskrankheit auslösen. Andere Forscher haben das Bakterium Bacillus anthracis im Permafrost entdeckt, also den Erreger, der für Milzbrand ursächlich ist. Gensequenzen dieser Organismen sind zwar im Permafrost vorhanden, aber meistens unterscheiden sich diese Isolate aus der Umwelt von den klinischen Isolaten. Wir gehen davon aus, dass sie nicht pathogen sind.

Woran liegt es, dass noch nicht alle Organismen bekannt sind?

Das liegt zum einen daran, dass die Ökosysteme, in denen die Organismen leben, wenig erforscht sind. Zum anderen ist es wichtig, die Organismen zu charakterisieren. Dafür müssen wir sie kultivieren, also im Labor anzüchten. Das ist bei den meisten Arten aus diesen Ökosystemen nicht möglich. Wir kennen die Lebensansprüche der Organismen nicht.

Wie konnten die Organismen Tausende Jahre im Eis überleben?

Man könnte denken, sie sind in einem Dornröschenschlaf – aber das stimmt nicht. Wir glauben, dass ein Großteil der Organismen aktiv im Eis und Permafrost ist, weil sie dort eigentlich alles haben, was sie brauchen. Sie haben Feuchtigkeit – zwar kein flüssiges Wasser, aber aus dem Eis können sie Wasserdampf generieren –, sie haben Nährstoffe und tiefe Temperaturen. Die machen den meisten Arten wenig aus. Das haben wir mit verschiedenen Techniken an feldfrischen Proben nachweisen können, dass eine große Menge dieser Organismen wirklich aktiv ist. Das ist ein Wunder. Allerdings konnten wir eines noch nicht klären: Woher bekommen die Organismen Energie und Kohlenstoff, den sie brauchen, um Biomasse aufzubauen und sich zu vermehren?

Sie forschen seit mehreren Jahren zu den Mikroorganismen. Was war bisher Ihre spannendste Entdeckung?

Da gibt es mehrere. Eine Entdeckung war: In einem Permafrostboden haben wir eine erhöhte Anzahl an Antibiotikaresistenzgenen gefunden.

Heißt das, schon in der Urzeit wurden Antibiotika eingesetzt?

Nein, aber es gibt uralte Organismen im Eis, die antibiotische Stoffe ausscheiden. Unsere Vermutung ist, dass es Organismen gibt, die antibiotische Stoffe ausscheiden, um andere zu bekämpfen. So schaffen sie es, in einem nährstoffarmen Lebensraum zu überleben. Eine andere spannende Entdeckung war, dass wir in alpinen und arktischen Böden Plastik vergraben haben und nach fünf Monaten eine Anreicherung von Genen, die beim Abbau von Plastik beteiligt sind, auf der Oberfläche gefunden haben.

Wir schätzen, dass wir rund 60 Prozent der Mikroorganismen im Permafrost oder Eis kennen, also deren nächsten Verwandte.
Beat Frey

Plastikzersetzende Mikroben im Eis?

Das mag absurd klingen, aber weil die Ökosysteme noch wenig erforscht sind, finden wir dort immer wieder Organismen mit besonderen Eigenschaften. Die, die wir bereits entdeckt haben, sind Bakterien und Pilze, die Kunststoffe wie Polyurethane, Polybutylenadipat-coterephthalat und Polymilchsäure zersetzen können. Schwieriger wird es bei Polyethylen. Das liegt vermutlich daran, dass dieser Kunststoff erst seit 50, vielleicht 70 Jahren produziert wird, und die Organismen sich noch nicht daran anpassen konnten.

Glauben Sie, die Mikroorganismen könnten unser Plastikproblem lösen?

Das wird schwierig, aber Wissenschaft und Industrie sind dran.

Was hat es für Folgen für die Umwelt, wenn diese Mikroben auftauen?

Es wird deutlich mehr Klimagase geben. Diese Organismen atmen, das heißt, sie setzen CO2 frei. Permafrostböden haben eine starke Anreicherung von Kohlenstoff, der als CO2 frei wird, sobald die Böden tauen. In arktischen Gebieten ist zudem ein großer Teil des Kohlenstoffs als Methan gespeichert. Wenn das freigesetzt wird, könnte das den Klimawandel weiter beschleunigen. Es gibt aber auch gute Nachrichten: Nach dem Abtauen nimmt die Biodiversität zu. Pilze, Bakterien, Pflanzen breiten sich aus. Wir haben auch Mikroorganismen, die gute Eigenschaften haben. Die dürfen wir nicht vergessen.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.