K-PopWarum Südkoreas Popkultur plötzlich überall ist
Mit Exporten wie der Boyband BTS, Beauty-Trends und Streaming-Serien à la „The Squid Game“ bemüht sich Südkorea seit einiger Zeit, den USA den Rang als kulturelle Weltmacht abzulaufen. „Hallyu“ heißt das Phänomen, das seit Anfang der 2010er Jahre aus der ostasiatischen Republik in die westliche Welt rüberschwappt: die koreanische Welle. K-Pop, K-Mode, K-Kosmetik, K-Küche – Korea setzt Lifestyle-Trends. Mit enormem Erfolg. Aber auch lauter werdender Kritik.
Druck, Drill und Depression – in Sachen Popkultur ist in Südkorea nichts dem Zufall überlassen. Die strenge Ausbildung zum „Idol“, wie sich koreanische Popstars nennen, die Gleichförmigkeit ihres Auftretens und auch die Fans, die sich „Army“ nennen. Das schmeckt vor allem Kritikern aus dem Westen nicht, die meinen, Kultur müsse authentisch, progressiv und emanzipatorisch sein.
Einer, der das differenzierter sieht, ist Michael Fuhr. Der Musikethnologe und Direktor des Center of World Music der Uni Hildesheim hat über Südkoreas Popmusik, die stellvertretend für Hallyu steht, promoviert. Südkorea schon als (pop-)kulturelle Weltmacht zu bezeichnen, hält er für übertrieben. Auch wenn „dessen Einfluss in der westlichen Welt rasant zugenommen hat und seit Ende der 2010er Jahre im Mainstream angekommen ist. Dieser globale Trend wird sich fortsetzen“, prophezeit Fuhr.
BTS bringt Südkorea 50 Milliarden Dollar
Exportartikel Nummer eins ist BTS, die Songs der Boyband erobern sogar die US-amerikanischen Billboard-Charts. Eine asiatische Band an deren Spitze, das gab es zuvor noch nie. BTS gelang das gleich fünf Mal in Folge. Ihre Marken-Power ist enorm: Zeigt sich ein Sänger der Gruppe etwa mit Kombucha-Tee oder anderen südkoreanischen Gütern, explodieren deren Verkaufszahlen auch im Ausland und Produkte sind über Wochen ausverkauft. Experten schätzen den wirtschaftlichen Effekt von BTS fürs Land bis 2023 auf 50 Milliarden Dollar.
Hallyu macht inzwischen 12,3 Milliarden US-Dollar des Bruttoinlandprodukts aus und ist mehr als nur Musik: Südkoreanische Literatur sahnt internationale Preise ab. Der Kinofilm „Parasite“ gewann 2020 vier Oscars, darunter als erste fremdsprachige Produktion in der Geschichte der Oscarverleihung auch den Preis für den besten Film des Jahres. „Squid Game“ ist mit 111 Millionen Streams im ersten Monat eine der erfolgreichsten Netflix-Serien überhaupt. Drogeriemärkte bieten koreanische Kosmetik an und viel mehr Menschen kennen inzwischen das Nationalgericht „Kimchi“ – oder bereiten den vergorenen Kohl selber zu.
Hallyu ist mehr als nur K-Pop
- Bands: Derzeit gibt es in Südkorea mehr als 150 Idol-Groups (K-Pop-Bands). Die Boyband BTS („Bangtan Sonyeondan“, auf Deutsch: kugelsichere Pfadfinder) stand mit ihrem Mix aus R’n’B, Elektro und Schlager in der Statistik 2020 des Weltverbands der Musikindustrie (IFPI) auf Platz eins. In den Top Ten der weltweit meistverkauften und -gestreamten Alben waren BTS und die Girlband Blackpink mit drei Songs vertreten, was bisher nur Taylor Swift, Justin Bieber und AC/DC gelang. Auch sehr beliebt: EXO, Twice, Big Bang, Girls Generation.
- Serien: Squid Game: Verzweifelte, verschuldete Koreaner nehmen teil an einem Spiel, das einen großen Gewinn verspricht. Wer verliert, wird getötet. Seit Mitte September 2021 läuft sie auf Netflix, im ersten Monat wurde sie knapp 111 Millionen Mal gestreamt: der erfolgreichste Start einer Serie seit Netflix-Gründung. Die Serie ist so beliebt wie umstritten, nicht erst seit deutsche Grundschulkinder auf dem Pausenhof Erschießungsszenen nachspielen. In der romantischen Netflix-Serie Love Alarm geht es um die gleichnamige Dating-App, die anzeigt, wer dich im Umkreis von zehn Metern liebt. Tempted handelt von einem Koreaner, der sich an Menschen rächen möchte, die ihm nahe standen, aber ihn seiner Meinung nach verraten haben. In der Serie sind K-Pop-Stars zum Beispiel von der Girl-Band Red Velvet und Rapper Real.de am Start. Radio Romance handelt von einer jungen Radio-Autorin, die es schwer hat, sich bei ihren Kollegen durchzusetzen. Bis sie einen jungen Moderator kennenlernt. Wieder ist ein K-Pop-Star der Hauptdarsteller: Doojoon von der Band Highlight und auch ein Bandmitglied von The Girls Day ist dabei.
- Filme: „Poetry“ von Lee Chang-dong (2007), „The Taste of Money“ von Im Sang-soo (2012), „Ode to My Father“ (2014) und „A Taxi Driver“ (2017) sind nur wenige Beispiele für im Westen erfolgreiche Kinowerke. Südkoreanische Filmgeschichte aber schrieb „Parasite“ von Bong Joon-ho, der 2020 als erste nicht-englischsprachige Produktion einen Oscar erhielt für den besten Film des Jahres, insgesamt waren es vier. Es geht um den Sohn einer armen Familie, der bei einer reichen den Job als Privatlehrer bekommt und dort seiner Familie Jobs verschafft.
- Literatur: Shin Kyong-sooks Roman „Als Mutter verschwand“ war 2012 unter den Top Ten auf der Amazon- Bestsellerliste. Han Kang erhielt 2016 für „Die Vegetarierin“ den Man Booker Prize und Kim Young-ha 2020 für „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ den Deutschen Krimipreis.
- Küche: Kimchi (fermentierter Kohl, Foto: Lee Jin-Man/AP/dpa), Bulgogi (über offenem Feuer zubereitetes Fleisch) und Bibimbap (Reis, Gemüse, Rindfleisch oder Tofu, Ei und Gochujang, eine fermentierte Gewürzpaste) erobern die Restaurants der großen Metropolen. 2014 belegt die koreanische Küche Platz 2 der Liste der angesagtesten ethnischen Gerichte (National Restaurant Association).
- Sprache / Koranisch für Anfänger: Hallyu ( „Strom“, „Welle“ steht synonym für die Popularität der koreanischen Unterhaltungskultur), Daebak („toll"), Aegyo („niedlich“), Manhwa („Manga“), Oppa und Unni („It-Boy“ und „It-Girl“)
K-Pop beflügelt die Wirtschaft, die Politik und die Gesellschaft. Sogar die Schönheitsindustrie profitiert. Von Stars, Fans und anderen angestrebt ist das südkoreanische Ideal: ovales Gesicht, Kulleraugen, Stupsnase und ein porzellanartiger Teint. Süß und dünn hat man zu sein. Jeder zweite junge Mensch unter 30 Jahren hat sich in Korea schon mal einer Schönheitsoperation unterzogen. Hallyu lockt Millionen Touristen ins Land, die die Drehorte von Seifenopern besuchen, und immer mehr auch ausländische Studierende.
Squid Game und Strategien der Regierung
All das ist kein Zufall, sondern, wie Fuhr sagt, Teil einer Globalisierungsstrategie der südkoreanischen Regierung, die neben der IT-Branche auch den Kultursektor massiv subventioniert. Zuvor versuchte die Musikindustrie jahrzehntelang vergebens, Märkte außerhalb Asiens zu erobern. Der internationale Durchbruch im Westen gelang erst Rapper Psy, dessen Song „Gangnam Style“ 2012 als Youtube-Video zum Welthit – und binnen weniger Monate mehr als eine Milliarde Mal geklickt wurde. Den phänomenalen Erfolg des koreanischen Pops erklärt Fuhr so: „Eingängige Musik funktioniert jenseits von Sprache international, mit einfachen Melodien, Rhythmen und Choreographien.“ So stört auch nicht, dass die K-Pop-Stars auf Koreanisch singen, für ausländische Märkte gibt es die Refrains auf Englisch.
K-Pop-Bands erinnern an Take That und Michael Jackson
Erfolgsentscheidend sei außerdem, dass die Stars Allround-Entertainer sind. Sie treten regelmäßig in Gameshows auf, einige Bands haben eigene Reality-Formate und sind hervorragende Tänzer. Aus westlicher Sicht sei das laut Fuhr zwar neu und spannend aber auch nicht zu fremd, erinnere an Boybands wie Take That oder an Choreografien von Michael Jackson. Dieses Symbolhafte, Universale sei auch der Erfolgsgarant von südkoreanischen Dramen, Filmen und Serien. „Kapitalismuskritik, soziale Ungerechtigkeit und deren Symbole versteht jeder und jede auf der Welt“, sagt Fuhr.
BTS-Boys sind Botschafter des Landes
Die südkoreanische Regierung nutzt Hallyu auch für diplomatische Zwecke. K-Pop-Stars sind Botschafter ihres Landes, eine politische Kraft: BTS-Mitglieder halten Reden vor den Vereinten Nationen. Michael Fuhr sagt: „K-Pop ist Teil einer geopolitischen Soft-Power-Strategie, mit der das Land sein Ansehen und seinen Einfluss in den internationalen Beziehungen stärkt.“ Heute gehört die Republik zu den zehn Nationen, die weltweit am meisten Kulturgüter exportieren. Die Telekommunikationsbranche, Marketing- und Entertainment-Agenturen, Tourismusunternehmen und Kosmetiklabels arbeiten engmaschig zusammen, um K-Pop zu vermarkten.
Eiserne Ausbildung verbietet Privatsphäre
„Dahinter steckt ein ausgeklügeltes System des Idol-Trainings“, sagt Fuhr, „die Firmen nehmen Trainees teils schon mit acht Jahren unter Vertrag, um perfekt geformte Girl- und Boygroups heranzuzüchten.“ Wer die jahrelange eiserne Ausbildung – in Fremdsprachen, Tanz, Gesang und Benimm in der Öffentlichkeit durchhält, kommt in eine Band. „Die jungen Menschen unterwerfen sich freiwillig, meist unterstützt von den Eltern, diesem strengen, vertraglich geregelten Regime“, sagt Fuhr. Sie verpflichten sich häufig, ein vorgeschriebenes Erscheinungsbild zu erfüllen, verschulden sich und haben kein Privatleben. Der Kontakt zu Freunden und Familie, Liebesbeziehungen und Fehltritte sind tabu.
Armeehafte Rekrutierung von Kindern, Knebelverträge, eingeschränkte Persönlichkeitsrechte, der Schönheitswahn und das wenig emanzipatorische Lolita-Image der weiblichen K-Pop-Stars sind Kritikpunkte, die vor allem aus dem Westen stammen. Immer wieder sorgen Suizide von K-Pop-Stars oder solchen, die es werden wollen, für Schlagzeilen. Laut der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) hat Südkorea die höchste Selbstmordrate unter Jugendlichen. „Menschenrechtsaktivisten fordern zu Recht, die Branche besser zu kontrollieren, aber es gibt auch schon Kurskorrekturen, einige Firmen haben ihre Verträge gelockert“, sagt Fuhr.
K-Pop-Fans haben politische Macht
Das sei zum Teil auch der Fan-Gemeinde zu verdanken, die eine eigene Dynamik entwickelt hat. Wenn Fans online Informationen zu Hilfen bei Depressionen verbreiten oder für die künstlerische Freiheit der Stars kämpfen, hätten sie laut Fuhr die Macht, gesellschaftliche Dynamiken freizusetzen und ein Umdenken zu bewirken. Der weltweite Fan-Kult ist, so Fuhr, ein organisierter Kosmos für sich, die Kommunikation digital und partizipativ, was eine besondere Form der Intimität zwischen Fans und Stars erzeugt. Man gehört Clubs an, zahlt dafür, exklusive Videos oder frühen Zugriff auf Konzerttickets zu bekommen, versammelt sich online in Fan-Cafés und frühstückt dort mit seinen Idolen. Fans werden Freunde, der Club und die Stars so etwas wie eine große Familie.
Gerade bei Minderheiten ist K-Pop beliebt. „Der Anteil junger Menschen etwa aus Einwandererfamilien ist in der Szene sehr hoch. Die Fans geben sich kosmopolitisch, transportieren damit eine kulturelle Offenheit und ermöglichen Minoritäten, mittels K-Pop einen Platz zu finden, den ihnen die Dominanzgesellschaft nicht bietet.“
K-Pop und Black-Lives-Matter
Dass K-Pop auch positive Impulse setzt, zeigte sich etwa, als BTS nach dem Tod von George Floyd eine Millionen Dollar an die „Black-Lives-Matter-Bewegung“ spendete und ihre Fans dazu animierte, innerhalb von 24 Stunden die gleiche Summe aufzubringen. Und bei einer Wahlkampfveranstaltung von Ex-Präsident Donald Trump kauften die Fans im Vorfeld die Arena leer – ohne selbst hinzugehen.