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1,5 Millionen Medikamenten-AbhängigeWie Sonja M. innerhalb kurzer Zeit süchtig wurde

Lesezeit 6 Minuten
Leere medikamenten packung picture alliance

1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind medikamentenabhängig. (Symbolbild)

  1. Der Druck in der Arbeitswelt steigt. Vor allem Frauen versuchen, die psychischen Folgen wie Schlaflosigkeit mit Tabletten zu therapieren.
  2. Mit fatalen Folgen: Die vermeintlich harmlosen Pillen können innerhalb weniger Wochen süchtig machen.
  3. Die Zahlen sind erschreckend. 1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind abhängig von Medikamenten. Schätzungsweise 300.000 von ihnen leben in NRW.
  4. Auch Sonja M. geriet in die Abhängigkeit. Eine Leidensgeschichte. (Aus unserem Archiv.)

Köln – Es beginnt mit einer Tablette am Abend. Schlafstörungen habe sie gehabt, sagt Sonja M. (Name geändert). Der anstrengende Job. Die angeschlagene Partnerschaft, die wenig später den Bach heruntergeht. „Irgendwann konnte ich überhaupt nicht mehr schlafen.“ Die 33-Jährige liegt hellwach im Bett und hat „Adrenalinausstöße wie auf einer Achterbahn“. Nachdem sie die vierte Nacht „komplett“ wach gelegen hat, bekommt sie auf dem Nachhauseweg Halluzinationen. „Ich saß im Zug und hörte Stimmen.“

Der Hausarzt verschreibt der übermüdeten Marketingexpertin Zolpidem, ein rezeptpflichtiges Mittel zur Kurzzeitbehandlung von Ein- und Durchschlafstörungen. Eine Packung, zwei Packungen. Drei Packungen.

Best-Of-Geschichte

Dieser Artikel ist im Oktober 2018 im „Kölner Stadt-Anzeiger” erschienen. Im Rahmen unserer „Best Of”-Reihe veröffentlichen wir regelmäßig interessante Texte aus unserem Archiv.

Acht Jahre später hat Sonja M. eine mehrwöchige Entgiftung und eine Reha-Maßnahme hinter sich. Sie hat ihren Job aufgegeben und ist in psychotherapeutischer Behandlung. Clean ist sie nicht.

Medikamente im Ausland besorgt

„Teufelszeug“ nennt sie heute das Medikament, das ihr vor acht Jahren ruhige Nächte und entspannte Tage bescherte. „Die Tabletten waren eine Art Ausschalter.“ Doch irgendwann reichen zehn Milligramm am Abend nicht mehr, um herunterzukommen von der „Achterbahn“. Irgendwann besorgt sich Sonja M. das Schlafmittel im Ausland, weil die Dosis, die der Arzt ihr verschreibt, nur Peanuts sind gemessen an der Menge, die sie inzwischen braucht.

Medikamentensucht1

Nach einhalb Jahren versucht sie ein erstes Mal, loszukommen von dem „Teufelszeug“. Sonja M. lässt sich von einem Psychiater ein „schlafanstoßendes Antidepressivum“ verschreiben. Weil sie davon rasch zunimmt, setzt sie es wieder ab und versucht, ihre Schlafstörungen mit Hilfe von Baldrian in den Griff zu bekommen. Es funktioniert. Bis sie zwei Jahre später eine neue Stelle antritt. „Viel Stress, viel Verantwortung“ – wieder greift sie zu verschreibungspflichtigen Schlafmitteln. Und wieder kommt sie nicht los davon.

300.000 Menschen in NRW abhängig

Sonja M. ist nicht die Erste, die hineinrutscht in eine Abhängigkeit, aus der sie aus eigener Kraft nicht mehr herausfindet. Bis zu 1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind nach Auskunft der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen abhängig von Medikamenten mit hohem Suchtpotenzial, davon schätzungsweise 300.000 in NRW.

Mehr als einer Million der Suchtkranken ergeht es wie Sonja M. Ohne verschreibungspflichtige Schlaf- und Beruhigungsmittel kommen sie nicht zur Ruhe.

Weiteren 300.000 bis 400.000 Betroffenen werden opiathaltige Schmerzkiller und Kombipräparate wie das rezeptfrei erhältliche Schmerzmittel Thomapyrin zum Verhängnis.

Medikamentensucht2

Die Zeitspanne von der ersten Tablette bis zur Sucht ist kurz. „Maximal zehn bis zwölf Wochen“, sagt Christa Merfert-Diete von der Hauptstelle für Suchtfragen. Mehr Zeit brauche es nicht, um abhängig zu werden von psychotropen, die Psyche beeinflussenden Medikamenten. Dazu gehören Beruhigungsmittel, deren Wirkung auf Benzodiazepine zurückgehen. „Auch Schlafmittel wie Zolpidem haben ein hohes Suchtpotenzial.“ Hauptsächlich Frauen greifen schnell zur Tablette, um körperliche wie seelische Befindlichkeitsstörungen in den Griff zu bekommen. Sie machen schätzungsweise 70 Prozent der Medikamentenjunkies aus.

„Pillen verschreiben geht schneller“

Christa Merfert-Diete wundert das nicht. „Der Druck in der Arbeitswelt nimmt zu. Die Verführung durch die Werbung, bei einer Unpässlichkeit rasch Abhilfe zu schaffen, ist groß. Vor allem Frauen, die oft unter einem doppelten Druck stehen, wollen um jeden Preis funktionieren.“ Viele Ärzte, so ihre Erfahrung, seien eher bereit, ein Medikament zu verschreiben als ihrer Klientel alternative Methoden zu empfehlen. „Pillen verschreiben geht schneller.“ Sei die Einnahme unumgänglich, gelte: „Kleine Dosis, kurze Dauer.“

Medikamentensucht3

Sonja M. kennt die Angst, ohne Medikamente nicht mehr leistungsfähig zu sein. „Ich war schon immer sehr ehrgeizig“, sagt sie. Das Eingeständnis, am Ende ihrer Kräfte zu sein, käme einem Versagen gleich. Dennoch entschließt sie sich 2017 ein zweites Mal, ihrer Sucht die Stirn zu bieten. Sie geht zur Entgiftung in eine Klinik. Und erlebt „die schlimmste Zeit“ ihres Lebens. Vor allem die nachfolgende Reha-Maßnahme sei „die Hölle“ gewesen. „Mir fehlte der Austausch mit Menschen mit der gleichen Sucht. Fast alle waren alkoholabhängig, und so stand ich mit meinen Problemen relativ allein da.“ Auch die Gruppen- und Einzelgespräche seien an ihren Bedürfnissen vorbeigegangen. Wenige Monate nach Ende der Reha-Maßnahme wird sie erneut rückfällig.

Einnahmedauer wird nicht genügend überwacht

Nicht nur in NRW fehlen Hilfsangebote speziell für Menschen wie Sonja M. Gerade Schlafmittelabhängige würden vom Suchthilfesystem kaum erreicht, heißt es selbstkritisch im „Aktionsplan gegen Sucht NRW“. Eine „Intensivierung der Aufklärungs- und Präventivmaßnahmen“ tue daher not, auch der Zugang „zu differenzierten und qualifizierten Hilfsangeboten“ müsse dringend erleichtert werden.

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Ein Vorstoß, den Gabriele Klärs von Belladonna, der Essener Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht, nur begrüßen kann. Sie leitet das Forschungsprojekt „Medikamentenabhängigkeit von Frauen“. Das 2014 gestartete Projekt wird vom Land NRW gefördert und soll im Sommer 2019 abgeschlossen sein. „Medikamentenabhängige fühlen sich von unserem Gesundheitssystem nicht gesehen und zu wenig eingebunden in die Behandlung“, kann Gabriele Klärs bereits jetzt sagen. Ein weiteres Problem: Die Einnahmedauer der Medikamente werde nicht genügend überwacht, die Patienten seien oft nicht ausreichend über das Suchtpotenzial der Mittel aufgeklärt worden.

„Wir müssen die Medikamentensucht entstigmatisieren und brauchen eigene Konzepte, um den Betroffenen zu helfen“, so das vorläufige Fazit von Gabriele Klärs. „Wie sind diese Menschen anzusprechen, und wer muss außer den klassischen Suchtberatern eventuell noch in die Beratung eingezogen werden?“

Süchtige brauchen Selbsterkenntnis

Doch nichts geht ohne die Mithilfe des Süchtigen selbst. „Er muss sich eingestehen, dass er süchtig ist, und clean werden wollen“, sagt Anna K. Die 78-Jährige war mehr als 15 Jahre tabletten- und alkoholabhängig. „Adumbran, Persumbran, Librium und Rotwein“, zählt sie die Krücken auf, die sie als junge Frau durch den Alltag brachten. „Ich kam mit mir selber nicht zurecht. Mit den Pillen ging es besser. Und mit einem Glas Rotwein ging es noch besser.“ Der Hausarzt, blind für die Probleme seiner Patientin, verschrieb ihr, was sie verlangte. Den Alkohol gab es ohne Rezept.

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Ein erster Entzug, erzwungen von ihrem Arbeitgeber, endete wenige Wochen später in einem Rückfall. „Ich habe überhaupt nicht realisiert, dass ich süchtig war. Ich nahm doch nur ein paar Tabletten.“ Dass sie sich die Pillen „wie Bonbons“ in die Hand schüttete und gleich sechs Stück auf einmal hinunterspülte, begreift sie erst Jahre später.

Ein zweiter Entzug, zu den sie sich freiwillig entschließt, führt schließlich zum Erfolg. „In der Klinik habe ich zum ersten Mal begriffen, dass Sucht eine Krankheit ist. Vorher habe ich mich als totale Versagerin gefühlt, weil ich nicht ohne Tabletten und Alkohol leben konnte.“

Regelmäßiger Besuch bei Selbsthilfegruppe hilft

Seit 37 Jahren ist die ehemalige Büroangestellte clean – und ringt doch täglich mit ihren Dämonen. „Ich bin nur eine Armlänge von der Flasche und der nächsten Tablettenpackung entfernt“, sagt sie. „Wer süchtig ist, der bleibt das ein Leben lang.“ Jeder Gang zum Arzt beginnt mit einem Offenbarungseid. „Ich muss höllisch aufpassen, dass er mir keine bewusstseinsverändernden Medikamente oder opiathaltige Schmerzmittel verschreibt. Wenn ich irgendetwas Hartes nehmen würde, würde gleich wieder die Post abgehen.“

Seit ihrem zweiten Entzug besucht Anna K. regelmäßig eine Selbsthilfegruppe für Suchtkranke. „Die Gruppe ist mein Auffangbecken und die einzige Medizin, die hilft.“ Heute, sagt Anna K., habe sie ihr Leben im Griff. „Es geht mir nicht jeden Tag gut. Aber ich kann damit umgehen, ohne gleich zu Tabletten oder Alkohol zu greifen.“