175-jähriges BestehenDie revolutionären Anfänge der Kölner Turnerschaft
- Vor 175 Jahren gründete sich die Kölner Turnerschaft zu politischen Zwecken.
- Heute steht sie für die Lust am Breitensport.
- Reportage von einem Verein, der sich immer wieder wandeln musste.
Köln – Montag, 18 Uhr, in der Turnhalle des Gymnasiums Kreuzgasse. Es riecht nach Schweiß, Staub, Leder und Linoleum. 30 Kinder üben Handstände, Umschwünge, Rollen und Saltos, balancieren, hüpfen, grätschen, springen. Alles wie vor 175 Jahren. Auf die Frage, was sie in den vergangenen Wochen beim Turnen gelernt habe, antwortet die neunjährige Amalia Davis, bevor sie einen Aufschwung am Reck probiert: „Mir geht es beim Turnen eigentlich nicht ums Lernen. Ich mache das aus Spaß!“ Die 83-jährige Elisabeth Dümbgen sagt, fast zeitgleich in der kleinen Halle am Vereinsheim nebenan, bevor sie mit einem Gymnastikball über den grünen Boden trabt: „Ich muss mich immer bewege, domit et mer joot jeiht! Dat wor schon immer esu!“
Die junge und die alte Sportlerin der Kölner Turnerschaft folgen einem Prinzip, das auch die Gründungsväter des Vereins im Sinn hatten, als sie am 5. November 1843 zusammenkamen, um in den Räumen der vornehmen Casino-Gesellschaft den ersten Sportverein Nordrhein-Westfalens aus der Taufe zu heben. Statt, „ich mache Sport, damit es mir gut geht“, hieß es in den Statuten zum Zweck des Turnens etwas verquast, es gehe um eine „möglichst vollkommene und allseitige Ausbildung des Körpers, mit welcher zugleich unmittelbar eine Kräftigung des Geistes durch das Bewusstsein der dem Körper innewohnenden Kraft und Sicherheit erzielt wird“.
Von einer umfassenden Körperausbildung kann Gerd Wingert (61), seit 25 Jahren Geschäftsführer der Kölner Turnerschaft und seit fast 50 Jahren im Verein, nur träumen. „Die Vielseitigkeit fehlt heute leider fast komplett: Im Schulsport werden Turnen und Leichtathletik nur noch wenig unterrichtet, obwohl das im Curriculum steht, und auch im Freizeitsport kommt eine vielseitige Ausbildung zu kurz. Bei den Jungs drängt der Fußball alle anderen Sportarten an den Rand. Insgesamt kommen die Kinder mit viel weniger Bewegungserfahrung zu uns als vor 20 oder 30 Jahren.“
Ort für Erinnerungen
Wingert, der nach einer Elektromechaniker-Ausbildung auf dem zweiten Bildungsweg an der Sporthochschule studierte, sich vom Klettern, Handball bis zum Turnen und Skifahren, Aerobic und Bop-Gymnastik in jeder Sportart selbst versuchte und mit 61 in seinen Kursen noch Saltos und Handstandüberschläge vormacht, sitzt in seinem angejahrten Büro im Vereinsheim, umgeben von Startblöcken, Faustbällen, Seilchen und dem eigenen Rennrad. Ein Ort für Erinnerungen.
Helmut Bantz, mehrfach Deutscher Meister und 1956 Olympiasieger im Pferdsprung, „war ein großes Vorbild für die Jugend, aber keiner, der ständig im Verein war, der hat auf vielen Hochzeiten getanzt“, sagt Wingert, der selbst einen Turnschwerpunkt bei Bantz an der Sporthochschule belegte. Bantz, einziger Olympiasieger der Kölner Turnerschaft, soll auch an der Vereinstheke mit olympiareifen Leistungen auf sich aufmerksam gemacht haben, heißt es. „Ein Typ, der immer bis an die Grenze und darüber hinaus gegangen ist.“
Wingert, der aktuell 17 Kurse selbst leitet, redet über seine Zeit als Handballer („Ich war ein Trainingsschwein“) und Vorturner – eine Idee des streitbaren Turnerfinders Friedrich Ludwig Jahn, dessen Konterfei auf einer mehr als 100 Jahren alten Fahne in der Vereinsvitrine verstaubt. Jahn war deutschtümelnder Nationalist und gleichzeitig Demokrat mit dem Ideal einer klassenlosen Bürgergesellschaft, die nach den gleichen Prinzipien funktionieren sollte wie seine Turngruppen: Von einer Riege wurde ein Vorturner gewählt, jeder Mann hatte nur eine Stimme.
Wingert findet nicht, dass früher alles besser war. Dass das Riegenturnen mit mehreren Turnern an verschiedenen Geräten heute nicht mehr so verbreitet ist, „entspricht einfach dem Lauf der Dinge“. „Heute geht es mehr um Erlebnisse. Es ist auch eine völlig andere Ansprache nötig, um Kinder bei der Stange zu halten.“ Er wundere sich nur, wenn Kinder zu ihm kämen, die gleich nölten, dass sie am Boden Saltos oder Flickflacks lernen wollten, „weil sie das im Jump-House gesehen haben“. Die seien dann schnell wieder weg.
„Leistungssport ist viel zu teuer“
Er habe das Gefühl, dass „Leistung im Sport heute für viele verpönt ist“, sagt Wingert, und möchte das gar nicht als Kritik verstanden wissen: „Wir verstehen uns explizit als Breitensportverein. Der Leistungssport ist viel zu teuer.“ Rund 1300 Mitglieder hat die Kölner Turnerschaft heute, vom anachronistischen Faustball bis zum brasilianischen Capoeira. Beim Kinderturnen erlebe der Verein eine Renaissance: Vor 25 Jahren machten 350 Kinder mit, heute sind es 600. Fast alle ohne großen Leistungsgedanken. Was ihr beim Turnen am besten gefällt? „Trampolin und Brücke am Boden!“ sagt die neunjährige Amalia. „Alles, was Spaß macht!“
Auch Turnvater Jahn hielt wenig von Höchstleistungen. „Beim Wettrennen auf Dauer gebührt dem der Preis, der den weitesten Raum, in der kürzesten Zeit, mit der mindesten Anstrengung zurücklegt und am Ziele unerschöpft bei guten Kräften anlangt“, schrieb er. Um körperlichen Drill ging es Jahn allerdings auch: In seinem Buch „Deutsches Volkstum“ äußerte er seine Sorge über die politische Zukunft Deutschlands. Mit Körper- und Waffenübungen wollte er die Deutschen aus der Fremdherrschaft der Franzosen befreien. Turnen bedeutete vor 175 Jahren nicht nur Bewegung – es war Ausdruck einer politischen Haltung.
Mitglieder waren Eliten
Zur Gründungsversammlung der Kölner Turnerschaft kamen die fortschrittlichsten gesellschaftlichen Zirkel der Stadt um den Bankier Wilhelm Ludwig Deichmann und Georg Jung, Mitbegründer der Rheinischen Zeitung, zusammen, „junges Deutschland in Köln“ nannte sich die Gruppe, die sich aus opponierenden Söhnen alteingesessener Familien und protestantischer Neubürger zusammensetzte. Viele zählten zur sogenannten Jugend der Casino-Gesellschaft, auf die auch die Rosenmontagsgesellschaft und damit der organisierte Kölner Karneval zurückgeht. Bei den Turnern war der Vereinsbeitrag so hoch, dass die Mitgliedschaft betuchten Bürgern vorbehalten war.
Die meisten Gründer der Kölner Turnerschaft hatten eine gemeinsame Vergangenheit bei der Rheinischen Zeitung, die zum 1. April 1843 wegen politischer Radikalität von der preußischen Regierung verboten wurde. Um den Genehmigungsbehörden unverdächtig zu erscheinen, klammerten die als Kommunisten geltenden Gründer in der Vereinssatzung lieber soziale, politische und pädagogische Ziele aus. Trotzdem lehnten die Behörden den Vereinsantrag zunächst ab – die Gründer wollten auch Jugendliche turnen lassen, die Verwaltung wollte die Jugend indes vor dem politisch als gefährlichen eingestuften Einfluss der Erwachsenen bewahren.
Die Kölner Turnerschaft traf sich vorläufig ohne Genehmigung, gründete sich im Januar 1845 erneut, wurde nun akzeptiert, musste den Betrieb aber wieder einstellen, als ein staatlich geprüfter Turnlehrer fehlte. Die Behörden suchten immerzu nach Möglichkeiten, um die missliebigen Turner zu verbieten. Die machten ihrerseits aus der politischen Gesinnung bald keinen Hehl mehr: Auf dem Turnfest zu Frankfurt 1847 sagte der Kölner Turner C.A. Schmidt: „Was preussische, was badische, was Frankfurter Polizei? All diese Lumpen muss man an die Laterne hängen!“ Viele Kölner Turner schlossen sich den Revolutionären des Vormärz an, die für Demokratie und Pressefreiheit eintraten und mit den Wahlen zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung am 18. Mai 1848 in der Paulskirche zunächst auch Erfolg hatten.
Als die Revolution und damit ein erster demokratischer deutscher Nationalstaat gescheitert war, schrieb der Verein in seine Satzung, nun auch „für die Weckung des Brudersinns und die Förderung der wahren Interessen des Volkes thätig“ sein zu wollen. Viele Mitglieder zogen sich nach dem Scheitern der Revolution allerdings zurück, weil sie Repressionen befürchteten. Immer wieder wurde der Verein vorübergehend verboten, einzelne Gruppen spalteten sich ab und gründeten neue Vereine.
Die Suche nach dem Vorstand
Die Geschichte der Turnerschaft blieb wechselvoll – bis heute. Frauen sind erst seit 1906 erwünscht, vergleichsweise spät. An ungezählten Turnfesten haben die Kölner seit ihrer Gründung teilgenommen – eine Tradition, die inzwischen eingeschlafen ist. „Am deutschen Turnfest haben wir uns zuletzt vor gut 20 Jahren beteiligt, früher gehörte das zum guten Ton“, sagt Wingert. In den 60er-Jahren ersetzten bezahlte Übungsleiter die ehrenamtlichen, heute hat der Verein immer wieder Schwierigkeiten, Trainer zu finden, die mehr als eine Sportart unterrichten können. „Existenzangst“ hatte Wingert im Oktober 2015, als die Turnhalle am Gymnasium Kreuzgasse von Flüchtlingen belegt wurde und 300 Sportler vorrübergehend keinen Übungsort mehr hatten. „Zum Glück hat das Sportamt da einen überragenden Job gemacht und uns Ausweichhallen verschafft.“
Die Zukunft des Vereins? „Kinder- und Erlebnisturnen wird ein Schwerpunkt bleiben“, glaubt Wingert, der noch vier Jahre als hauptamtlicher Geschäftsführer arbeiten wird. Sportlerinnen wie Elisabeth Dümbgen, die seit 45 Jahren im Verein ist, würden wohl seltener. „Weil man sich nicht mehr so lange bindet.“ Er glaube nicht, dass der Zeitgeist mit seinen Fitnessstudios und exotischen Sporttrends den Vereinssport auffresse, sagt Wingert. Vielleicht gebe es sogar einen kleinen Wiederaufschwung des Turnens, „wir merken zumindest, dass viele Eltern und ihre Kinder ein ganzheitliches Angebot sehr schätzen“. Schwerer werde es langfristig wohl, ehrenamtliche Vorstände zu gewinnen. „Diese Menschen sorgen seit der Gründung dafür, dass der Verein läuft“, sagt er, und zählt Vorstände auf, die hier nicht genannt werden, um keinen zu vergessen. „Sich ehrenamtlich so zu engagieren, ist heutzutage eher ungewöhnlich.“
Ihren 175. Geburtstag feiert die Kölner Turnerschaft am 29. September im Vereinsheim an der Vogelsanger Straße 1 und in der Turnhalle des Gymnasiums Kreuzgasse mit einem Spiel- und Erlebnisfest.