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30 Jahre Lindenstraße„Die Lindenstraße ist der kriminellste Ort des Landes“

Lesezeit 9 Minuten

Generationentreffen in der Lindenstraße. v.l.n.r. Moritz A. Sachs, Jan Grünig, Julia Stark und Joachim Luger.

Köln – Trautes Heim, Familienglück: Als die Fernsehnation vor 30 Jahren Hans Beimer kennenlernte, konnte niemand ahnen, was für Dramen den eher langweiligen Familienvater ereilen würden.

Anfangs war Friede, Freude, „schwarze Raben“ – so hießen die angebrannten Plätzchen seiner Frau Helga. Heute hat Hans Beimer, gespielt von Joachim Luger, acht Kinder aus zwei Ehen, dazu drei Enkelinnen. Eine davon ist Vollwaisin, eine andere hat er nie gesehen, weil sein Sohn Klaus sie gegen seinen Willen zeugte: Er wurde vergewaltigt.

Man kann die Schicksalsschläge nicht alle aufzählen, die das Zusammenleben in 30 Jahren Lindenstraße prägten: Unfalltod und Eifersuchtsmord, Drogen, Intrigen, Seitensprünge, Scheidungen, Sekten, Neonazis, alle möglichen Süchte – zurzeit muss Hans Beimer (72) sich als Parkinson-Patient um ein Kleinkind kümmern. Als Opa wurde er alleinerziehender Vater.

Wir treffen vier Mitglieder der Riesenfamilie im Café George, einem Schauplatz der Serie. Klaus Beimer, gespielt von Moritz A. Sachs, ist ein Sohn aus erster Ehe, Martin Ziegler das dritte Kind aus zweiter Ehe, gespielt von Jan Grünig. Stieftochter Sarah Ziegler, gespielt von Julia Stark, wurde adoptiert.

War Ihnen klar, was für Dramen auf Sie zukommen würden?

Joachim Luger: Ich habe die Veränderung ja selber provoziert! Ich habe irgendwann gesagt: Der Hans Beimer ist immer so ein braver Familienvater, jetzt ist der Mitte 40, lasst den doch mal einen Seitensprung haben. Aus dem Seitensprung erwuchs dann ein Kind, und die Dinge nahmen ihren Lauf.

Wenn man sich Ihre Biografien anschaut, reihen sich Straftaten an Seitensprünge, Süchte...

Luger: Ja, wir haben wohl alle Süchte durch.

Moritz A. Sachs: Ich hatte Sportbulimie (krankhafte Sportsucht in Verbindung mit einer Essstörung, Anm. d. Red.)...

Julia Stark:...und ich normale Bulimie.

Luger: Ich war Alkoholiker und depressiv. Außerdem haben wir eine immense Kriminalitätsdichte. Allein meine Frau Anna war zweimal wegen Totschlags angeklagt.

Stark: Ich bin eine der wenigen Guten ohne Vorstrafen. Aber das nervt die Zuschauer noch mehr.

Sachs: Meine Akte ist sauber, weil Klaus als Nazi erst 13 war. Mit neun hat er jemanden blind geschossen mit einem Luftgewehr. Momo hat seinen Vater erstochen, Lisa den Pfarrer mit der Bratpfanne erschlagen, und Olli hat Lisa auf den Kinderstrich geschickt.

Luger: Kein Problembezirk des Landes kann in Sachen Kriminalität mit der Lindenstraße mithalten.

Sachs: Wenn die Charaktere nicht alle zwei, drei Jahre wechseln sollen, muss man ihnen was Neues einhauchen – und sie mehr erleben lassen als im richtigen Leben.

Herr Luger, wissen Sie noch, in welchem Jahr Sie als Hans Beimer Ihre zweite Serienfrau Anna kennengelernt haben?

Luger: Das müsste 1988 gewesen sein. Der Seitensprung führte zur Trennung von Helga, nachdem sie festgestellt hatte, dass er mit Anna ein Kind hat. Wobei Sarah wiederum nicht sein leibliches Kind ist.

Stark: Ich würde sagen, Achim und ich kriegen die Familienverhältnisse noch ganz gut zusammen.

Luger: Witzigerweise heißen in der Serie alle Kinder Ziegler. Eigentlich war ich, das heißt Hans, längst mit Anna verheiratet, trotzdem wurden die Kinder alle Ziegler genannt – damit es nicht nur Beimers gibt.

Im richtigen Leben hätten Sie interveniert?

Luger: Ja. Aber Mutter Beimer musste auch nach ihrer zweiten Hochzeit Mutter Beimer bleiben. Und die Kinder von Anna und mir mussten Ziegler heißen.

Wie viel Einfluss haben Sie auf Ihre Figuren?

Sachs: Wir können Geschichten vorschlagen. Zum anderen hat man ein Vetorecht. Es gibt Geschichten, die sich im privaten Bereich auswirken können. Bei mir war das beim Sympathisieren mit der Nazi-Szene so, oder im vergangenen Jahr, als Klaus von seiner Ex vergewaltigt wurde. In Klaus’ Nazi-Phase wurde ich schon mal angefeindet auf der Straße. Die Episoden lagen in der Zeit der Brandanschläge von Rostock und Hoyerswerda. Drei Wochen vorher hatte ich als Klaus mit Olli (Willi Herren) einen Molotowcocktail auf ein Haus geworfen.

Luger: Extrem war es auch bei meiner Kollegin Irene Fischer, die Anna Ziegler spielt. Die hat Mama Beimer ihren Hansemann „weggenommen“, hieß es – und einiges aushalten müssen.

Stark: Als ich von meinem Serienfreund geschlagen wurde, haben Leute in der Fußgängerzone in Köln gerufen: Verlass das Schwein! Mach Schluss mit dem!

Lesen Sie im nächsten Abschnitt: Wie es ist, in der Lindenstraße mitzuspielen und wie lange man das weitermachen kann.

Jan, wie ist es für dich, in der Lindenstraße mitzuspielen?

Jan Grünig: Macht Spaß! Bist du noch aufgeregt, nach so vielen Jahren vor der Kamera?

Grünig: Ja, sehr aufgeregt.

Wie geht das, Inklusion am Set?

Luger: Das was Jan leisten kann, versuchen wir, einzubringen.

Stark: Jan hat immer gelernt, am Set leise zu sein. Du denkst immer: Am besten im Studio leise sein, oder Jan? (Jan nickt)

Luger: Es war ein guter Entschluss, dass Jan als Down-Syndrom-Kind mitmacht. Das ist ein wichtiges Thema – zumal Jan seit der Geburt dabei ist und wir das schon pränatal thematisiert haben.

Wie lange bleibst du noch in der Lindenstraße, Jan?

Grünig: Lange! Immer!

Wie ist das bei Ihnen? Wie lange kann man das weitermachen?

Luger: Ich bin in meinem letzten Lebensviertel, statistisch gesehen. Wenn es zu Ende ist mit der Lindenstraße, werde ich zu neuen Ufern aufbrechen. Aber das ist derzeit ja kein Thema. Nach Ruhe sehne ich mich noch lange nicht.

Stark: Es ist schwer, sich ein Leben ohne Lindenstraße vorzustellen – ich bin Sarah Ziegler, seit ich drei Monate alt bin. Es gab aber auch nie nur Lindenstraße in meinem Leben. Ich bin in den Kindergarten gegangen, in die Schule, zur Uni. Wenn die Lindenstraße zu Ende ginge, würde ich Lehrerin.

Luger: Ich habe mich nicht leicht getan mit der Parkinson-Erkrankung von Hans. Mimik, Gestik, das, was einen als Schauspieler ausmacht, reduzieren sich ja bei dieser Erkrankung. Ich mache mir Sorgen um seine Entwicklung.

Sachs: In einem Film würde man sicher nicht darüber nachdenken, da wäre es einfach nur spannend, den Verlauf einer Parkinson-Erkrankung zu spielen. Wenn man diese Krankheit die nächsten zehn Jahre in einer Serie spielen möchte, ist das sicherlich auch mal hinderlich. Über einen Ausstieg denken wir aber, wie man sieht, alle nicht nach. Ich denke, wir sind noch eine ganze Weile als Beimers/Zieglers eine Familie.

Lesen Sie im nächsten Abschnitt: Warum es schwer ist, andere Rollen zu finden und welches Familienbild vermittelt wird.

Ist es schwer, als Schauspieler andere Rollen zu finden, wenn man so mit einer Figur identifiziert wird?

Luger: Schon drei Monate nach dem Start wurde ich auf der Straße nur noch als „Hansemann“ angesprochen. Wir waren sehr schnell festgelegt. Am Anfang bekam ich noch Auftritte im „Tatort“ oder „Liebling Kreuzberg“.

Sachs: Einer Figur so viel Leben einzuhauchen, dass das Publikum den Schauspieler damit so eng verbindet, ist auch eine riesige Leistung. Das gilt für Luke Skywalker wie für Schimanski und eben auch für Familie Beimer.

Welches Bild von Familie vermitteln Ihre Serien-Familien?

Luger: Obwohl Hans und Helga schon seit langer Zeit getrennt sind, besteht weiterhin Sympathie und Verständnis füreinander. In der zweiten Familie von Hans gibt es auch oft gravierende Probleme, aber sie finden Lösungen. Das größte Problem war zuletzt die späte Schwangerschaft von Anna. Wir schafften es nicht, wir haben schon ein behindertes Kind, Anna will das Kind nicht, Hans holt es nach der Adoption zurück, Anna kehrt in die Familie zurück, als es Hans schlechtging. Weglaufen hilft nicht, man kann das gemeinsam schaffen, sagt das aus.

Stark: Die Familie ist sehr solidarisch, Hans ist Sozialarbeiter, die Familie nahm zum Beispiel auch das Straßenmädchen Jack auf, vorher Mary, die Nigerianerin.

Sachs: Bei Hans und Helga wird gezeigt: Es gibt Wege, sich gut zu verstehen, die Freundschaft wiederzufinden, auch wenn die Liebe weg ist. Hans geht noch heute zu Helga, wenn es ihm schlechtgeht. Und Helga geht zu Hans. Ich gehe im richtigen Leben auch öfter zu meiner Ex, obwohl wir seit zwölf Jahren nicht mehr zusammen sind.

Luger: Ist bei mir genauso. Ich habe zwei Söhne aus zwei Beziehungen, und wir verstehen uns trotz allem immer noch gut.

Klaus Beimer sucht als mäßig erfolgreicher Journalist und alleinerziehender Vater nach dem Guten – und findet es nicht. Wie Vater Hans?

Sachs: Zurzeit ja. Ich weiß nicht, ob das dauerhaft als echte Parallele zu Hans Beimer gedacht ist. Klaus ändert sich ja öfter, als ich es in meinem Leben tue. Ein Jugendlicher, der erst Autos zerkratzt, dann bei den Nazis landet, wird normalerweise nicht ein Jahr später als Ultralinker in Tierschutzlabore einbrechen; Klaus verliert seinen Bruder bei einem Unfall, seine Freundin stirbt an Tollwut, während er fremdgeht mit der lange verheimlichten Tochter seines Stiefvaters!

Stark: Es muss plausibel bleiben, einigermaßen. Das geht aber nicht immer. Weil sich unsere Geschichten alle einmal kreuzen, müssten wir uns eigentlich auch alle duzen. Machen wir aber nicht. Wäre nicht realistisch. Irgendwann wird also wieder gesiezt.

Als es vor 30 Jahren losging, hätte wohl keiner geglaubt, dass es so lange weitergeht, oder?

Luger: Ja, wir hatten am Anfang extrem schlechte Kritiken.

Sachs: „Herzlichen Glückwunsch ans ZDF“, schrieb einer...

Luger: ...oder: „Wer will schon den Mief aus Mutter Beimers Suppenküche riechen … Droht uns ein weiteres Jahr Lindenstraße?“ Ich habe immer gesagt: Entweder der Kahn geht unter, dann gehst du mit fliegenden Fahnen mit unter, oder er übersteht den Sturm.

Sachs: Und jetzt machen wir das 30 Jahre...

Wie oft wollten Sie aufhören?

Stark: Als Teenager war es schwer. Wenn man sich zum Dreadlocks machen will, und das darf man nicht, weil Sarah Ziegler das nie machen würde. Wenn ich heute überlege, dass ich in einer für mich persönlich schwierigen Phase, wo ich selbst mit Übergewicht gehadert habe, eine Szene in der Psychotherapie spiele und sage: Ich hasse mich, ich hasse meinen Körper! Dann finde ich das heftig. Mein Gott, was hast du dir da für ein Trauma an die Backe gespielt!

Sachs: Aber es war keins. Weil Kinder das spielerisch nehmen. Wie viel von einem selbst muss in einer Rolle stecken, wenn man sie über Jahrzehnte spielt?

Stark: Als Kind ist es schon sehr ähnlich – mein Temperament, das war das von Sarah. Aber wir halten eine Rolle über Jahrzehnte.

Luger: Wir spielen Alltagsfiguren. Deswegen nimmt man auch etwas von seinem eigenen Erfahrungsschatz mit. Ich bin nicht Hans Beimer, aber es ist manches von mir in Hans.

Sachs: Als Vater Beimer würde es dir wahrscheinlich schwerfallen, Schauspieler zu werden, weil der ja ziemlich zurückhaltend und introvertiert ist...(lacht)

Luger: Ich fürchte auch, ja. (lacht)