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Alice Schwarzer über die Silvesternacht„An die Brust fassen ist Körperverletzung“

Lesezeit 8 Minuten

Alice Schwarzer

Frau Schwarzer, mit „Der Schock“ haben Sie jetzt ein Buch über die Kölner Silvesternacht veröffentlicht. Was hat Sie am persönlich meisten geschockt?

Zweierlei: Dass es so lange gebraucht hat, bis die Wahrheit zutage gekommen ist. Und dass wir über mehrere Stunden mitten in Europa, mitten in Köln, einen rechtsfreien Raum hatten, in dem mehr als 600 Frauen Opfer sexueller Gewalt geworden sind und die Polizei nicht eingegriffen hat. Das ist ein neues Phänomen, das es so in Europa bis dahin nicht gegeben hat.

Die von Ihnen herausgegebene Zeitschrift Emma hat sehr kurz nach Silvester schon Parallelen zum Tahir-Platz in Kairo gezogen, wo Männer 2013 weibliche Demonstrantinnen vergewaltigten. Der neue Polizeipräsident Jürgen Mathies zog Parallelen zu ähnlichen Ereignissen im arabischen Raum erst im Februar auf einer Podiumsdiskussion des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Warum waren Sie sich so früh sicher, dass es nicht vornehmlich um Diebstähle ging?

Die Täter gingen nach exakt derselben Methode vor, die wir aus Tunesien, Algerien und Ägypten kennen. Und es war ja schnell klar, dass es sich überwiegend um Muslime handelte. Und zwar nicht um die normalen Muslime von nebenan - sonst hätte mindestens die Hälfte der Männer „Stopp“ gesagt angesichts der brutalen Übergriffe. Das war eine besondere Sorte von Muslimen: die, für die die Scharia über dem Gesetz steht und die Frau unter dem Mann. Da lag es nahe, dass sich die Männer irgendwie verabredet haben müssen. Für mich ist also nicht – wie der Kölner Stadt-Anzeiger gestern fälschlicherweise online geschrieben hat – „der Islam“ das Problem, sondern der Islamismus. Es gibt gar nicht „den“ Islam, sondern hunderte von Interpretationen. Solange der Islam eine Glaubensfrage ist, ist das Privatsache und kein Problem. Nur der orthodoxe, schriftgläubige Islam, der aus Demokratien Gottesstaaten machen will, ist ein Problem.

Der Politologe Bassam Tibi schreibt in Ihrem Buch, es sei den Tätern auch darum gegangen, die Ehre der deutschen Männer zu beschmutzen. Sehen Sie das genauso?

Ja. Das war ja kein enthemmtes Flirten, sondern eine gewaltvolle Erniedrigung. Sexuelle Gewalt ist eine klassische Kriegswaffe, das kennen wir aus allen Kriegen. Wenn man sich an den Frauen vergeht, demütigt man gleichzeitig die Brüder, Männer, Väter dieser Frauen, die „ihre Frauen“ nicht schützen konnten. Die Hälfte der Autorinnen und Autoren, die zu meinem Buch Texte beigesteuert haben, stammen aus dem muslimischen Raum. Für die war sofort klar, dass das eine kleine Kriegsansage gewesen ist, eine Aggression mit politischer Intention. Eine algerische Autorin konnte nicht fassen, dass die Debatte in Deutschland nicht sofort in diese Richtung ging. Sie fragte mich: Sind wir für euch Deutsche so minderwertig, dass ihr nicht von uns lernen wollt? Das hat mich sehr nachdenklich gemacht.

Früher haben vor allem Autorinnen aus muslimischen Ländern patriarchalische Strukturen angeprangert. Gesellen sich nun immer mehr Autoren dazu?

Die Kölner Silvesternacht ist ein Schock für alle gewesen, ein turning point. Das war mehr als ein Angriff auf ein paar hundert Frauen. Das war ein politisches Event, das weltweit schockiert hat.

Der Untersuchungsausschuss ist dabei, behördliches Versagen in der Silvesternacht aufzuklären. In Ihren Augen mit Erfolg?

Aus der Ferne beobachte ich das mit stiller Genugtuung. Ich habe von Anfang an gesagt, dass die Schuld weniger bei der Polizei liegt. Die hat versagt, ja. Aber auch, weil sie selbst Angst hatte. 1000 bis 2000 enthemmte Männer gegen nur etwa 100 Polizisten, wie wir heute wissen. Und sie hatten auch Angst, etwas falsch zu machen. Sie haben früher als wir begriffen, dass die Männer Ausländer, Flüchtlinge waren und konnten ahnen, welches politische Desaster das wird. Deswegen finde ich gut, dass jetzt das Zusammenspiel zwischen Politik und Polizei beleuchtet wird. Wenn Polizisten tatsächlich angewiesen worden sind, dass Wort Vergewaltigung aus einem Bericht zu streichen, ist doch etwas faul im Staat.

Sie schreiben von einer langen Geschichte des Vertuschens bei der Kölner Polizei, was die Herkunft von Tätern angeht.

Das ist so. Schon vor 20 Jahren erzählte mir ein hochrangiger Polizist, 70 bis 80 Prozent aller Vergewaltigungen in Köln würden von Türken begangen. Als ich ihn fragte, warum er das nicht öffentlich mache – denn nur wenn man es benennt, kann man es auch ändern -, antwortete er: Das kann ich nicht sagen, das ist völlig tabu. Nun wird der Untersuchungsausschuss hoffentlich diese falsche Toleranz, die ja auf Kosten aller Muslime geht, genau beleuchten. Ich bin optimistisch, dass da einiges ans Licht kommt.

Sind Sie genauso optimistisch, was die Prozesse gegen die Sexualstraftäter angeht?

Überhaupt nicht. Ich prophezeie, dass sich kein einziger Fall aufklären lassen wird. Auch weil diese kollektive sexuelle Gewalt individuell schwer nachweisbar ist. Und bis heute ist sexuelle Belästigung ja noch nicht mal strafbar. Zum Glück kommt das endlich auf den Tisch, auch in Form einer Verschärfung des Sexualstrafrechts.

Seit vierzig Jahren fordern Sie eine Verschärfung des Sexualstrafrechts. Geht Ihnen der nun geplante Entwurf weit genug?

Wenn sie „Nein heißt Nein“ reinschreiben, dann ja.

Ein Traumatherapeut erklärt in Ihrem Buch, das Anfassen an die Brust sei eine Körperverletzung. Geht das nicht sehr weit?

Nein. Das würde ich auch so sehen. Das ist eine tiefe Kränkung. Ich habe als junge Frau mal einen Exhibitionisten erlebt. Danach war ich so verstört und verletzt und erschrocken, dass ich sogar meine Verabredung mit meinem Freund vergessen habe. Dabei war ich noch nicht einmal angefasst worden.

Die Medien hätten „geschwiegen“, ist in einigen Kapiteln des Buchs zu lesen. Das stimmt doch gar nicht.

Habe ich das so geschrieben? Nein, gerade der „Kölner Stadt-Anzeiger“ war ja vor Ort schnell dabei. Doch wenn die lokalen Medien und sozialen Netzwerke nicht gewesen wären, hätten wir wahrscheinlich nie davon erfahren, dass sich da mehr ereignet hat als die mehr oder weniger zufällige Belästigung durch irgendwelche Burschen. Doch was in der Nacht geschah, war eine massive „Machtdemonstration Gleichgesinnter“, wie der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer es in Ihrer Zeitung sehr treffend formuliert hat.

Wie erklären Sie sich, dass die Übergriffe in Köln stattgefunden haben – und nicht in Berlin oder Paris?

Zum einen liegt Köln sehr zentral, die Mehrheit der Täter ist angereist. Außerdem liegt Köln nicht weit von Brüssel, wo es eine sehr militante islamistische Community gibt. Und dann sind Köln und NRW bekannt für Toleranz, dass sie nicht so hart durchgreifen. Eigentlich ein sympathischer Zug, der aber von diesen Männern, die aus hart autoritären Zusammenhängen kommen, als Schwäche verstanden wird. Und dann frage ich mich, ob die Angriffe nicht auch dem Kölner Dom gegolten haben, der weltweit ein christliches Symbol ist und der ja auch mit Raketen beschossen wurde.

Denken Sie also, dass auch Männer aus Brüssel angereist sind?

Ich halte das durchaus für denkbar. Es wäre wichtig, dieser Frage nachzugehen.

Bassam Tibi ist der Meinung, Männer mit einem derart katastrophalen Frauenbild ließen sich nicht integrieren lassen. Stimmte das so, wäre es ein Riesenproblem angesichts der vielen Flüchtlinge, die aus einem patriarchalisch geprägten Land kommen.

Die Mehrheit der Flüchtlinge flieht vor Krieg und Gewalt, nicht selten auch der Gewalt der Islamisten. Wir müssen darum strikt unterscheiden zwischen Islam und Islamismus. Es gibt eine radikale, politisierte Minderheit, die auch die friedliche Mehrheit der Muslime unter Druck setzt und terrorisiert. Die Salafisten oder auch die rückwärtsgewandten Scharia-Muslime in unseren Islam-Verbänden. Die Mehrheit der Männer unter den Flüchtlingen wird man aufklären und fordern können. Das sollten wir auch tun. Aber die fanatisierten Islamisten sollten wir uns nicht freiwillig aufladen, wir haben schon genug Probleme.

In Ihrem Buch findet sich auch ein Artikel von Ihnen aus dem Jahr 2005 über Pariser Vororte, in denen viel Unruhe und Gewalt von Muslimen ausgeht. Eine Warnung für Köln?

Ja. Die Zustände in Paris sind seit vielen Jahren bekannt. Die Politik hat keine Konsequenzen gezogen, hat den agitierten Jungs keine Alternativen geboten, die Mädchen nicht vor Gewalt und Vergewaltigungen geschützt. Und natürlich kann das auch in Köln passieren. In Frankreich sind die Probleme zwar komplexer und massiver aufgrund der Kolonial-Geschichte, aber wir haben auch in Deutschland Viertel, aus denen Jungs in den Dschihad ziehen und wo die Mädchen artig ihre Kopftücher anziehen, wenn sie rausgehen und es erst in der Straßenbahn wieder abmachen, weil sie sonst Probleme kriegen.

Gibt es in Köln Ecken, wo sie sich unsicher fühlen?

Ich bin ziemlich angstfrei, gehe überall hin. Wobei oft vorkommt, dass muslimische Männer mir das V-Sieges-Zeichen machen oder fröhlich „Hey Alice“ rufen. Das sind die fortschrittlichen Muslime, die sich über mein Engagement freuen.

Alice Schwarzer ist Herausgeberin der Zeitschrift „Emma“ und die bekannteste Feministin Deutschlands. Sie lebt in Köln. Das von ihr herausgegebene Buch „Der Schock – die Silvesternacht von Köln“ enthält Beiträge unter anderem von ihr, Kamel Daoud und Necla Kelek, erhältlich beim Kiwi-Verlag, 7,99 Euro.