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André Rieu in der Lanxess-ArenaWalzerkönig spielt jetzt auch Abba

Lesezeit 6 Minuten

Zu Wohlstand gekommen: Der Besitzer vor seinem alten Schloss in Maastricht

Köln – Der Maestro, der eine rote Trachtenjacke aus Wildleder trägt, sitzt im Foyer seines großen Tonstudios und deutet mit der Hand in den Raum. „Vor ein paar Jahren hat alles noch der Bank gehört.“ Bis hin zur Lampe sollte alles gepfändet werden. Es war die größte Krise der André Rieu Productions. Sie ist längst überstanden. Rieu und sein Orchester absolvieren nach wie vor eine Reise nach der anderen, auf fünf Kontinenten. Am 1. und 2. Januar 2014 sind sie in Köln, zum traditionellen Neujahrskonzert in der Lanxess-Arena: Auftakt der neuen Welttournee, die durch 25 deutsche Städte und anschließend durch viele andere Länder führt.

Es klingt nach gewaltiger Tiefstapelei, wenn der Geiger sagt: „Wollte ich reich werden, würde ich Pipelines oder Beton verkaufen.“ Denn der Musiker, der nach seinen Worten „zwangsläufig“ auch Unternehmer geworden ist, hat es zu einigem Wohlstand gebracht. Nach seiner Ausbildung an verschiedenen Konservatorien spielte er zunächst im Limburger Sinfonie Orchester und war mit einem Salonmusik-Ensemble in den Niederlanden und im deutsch-belgischen Grenzraum unterwegs. 1987 stellte er sein Johann-Strauss-Orchester zusammen und gründete mit Ehefrau Marjorie die André Rieu Productions. Bei den Tourneen rund um den Globus finden jährlich rund eine Million Eintrittskarten Abnehmer, dazu kommen die Einnahmen aus dem Geschäft mit CDs und DVDs. Bisher hat Rieu rund 35 Millionen Aufnahmen verkauft.

Kurz vor dem Aus

Dann dies: 2009 wurde bekannt, dass die Firma mit 36 Millionen Euro in der Kreide stand, trotz Rekorden beim Ticketverkauf. Hauptgrund waren unerwartet hohe Kosten für das Vorhaben, die Fassade des Schlosses Schönbrunn als Kulisse für eine Tour durch Australien nachzubauen. Die Gläubiger schritten zur Pfändung. Während fast alle Verantwortlichen der Bank dafür plädiert hätten, „den Stecker rauszuziehen“, erzählt Rieu, habe deren Chef ruhig Blut bewahrt: „Lasst ihn weiterspielen.“ So kam es. „Wir waren die Schulden schnell los.“ 

Und weiter läuft der perfekt organisierte Betrieb, in den Marjorie Rieu und Pierre, einer der beiden Söhne des Paars, einspannt sind. „Ich hoffe, dass es mein ganzes Leben so bleibt“, sagt der 63-Jährige, „ich müsste schon umfallen auf der Bühne.“ Die Unermüdlichkeit hat ihren Preis. 2010 musste der Violinist wegen einer Viruserkrankung pausieren, und auch im vorigen Jahr nahm er wiederholt Abstand von Auftritten, um sich zu schonen. „Spätestens ab 60 muss man sich mehr Mühe geben“, sagt er, der jetzt „unheimlich viel Sport“ treibt. Dreimal pro Woche Krafttraining, an den anderen Tagen joggt er.

Die eingängige Mischung aus Klassik, Pop und Volksmusik, mit der er bekanntgeworden ist, garantiert volle Hallen und Arenen. Und lässt manche Sachwalter der „ernsten Musik“, die auch bitterböse Schmähungen nicht scheuen, die Nase rümpfen ob der gefälligen, angeblich seichten Art der Darbietung. Rieu kennt den Vorbehalt zur Genüge: „Der »Walzerkönig« – da geht man doch nicht hin!“ Einerseits  freut ihn die Titulierung, schließlich sieht er sich in der Nachfolge von Johann Strauss junior. „Ein genialer Komponist. Es ist herrlich, seine »Schöne Blaue Donau« jeden Abend spielen zu können.“ Und auch der österreichische Kapellmeister verstand es, Musikalität mit effizientem Management und Marketing zu verbinden. Andererseits sieht Rieu im Beinamen „Walzerkönig“ ein „Etikett, das beschränkt“. Zumal keineswegs nur Walzer zu hören sind bei den Massenkonzerten. So wie – um ein Beispiel herauszugreifen – in diesem Sommer bei den zehn Heimspielen auf dem Vrijthof, dem historischen Vorzeigeplatz Maastrichts, wo sich bis zu 10 000 Zuhörer versammelten. Von „Time to Say Goodbye“ über ein Medley mit Amsterdam-Liedern bis zum Krönungswalzer; von der bayerischen Polka über ein Potpourri aus „Die lustige Witwe“ bis zu „You'll Never Walk Alone“. Und im schier endlosen Zugabeteil fanden das Trinklied aus „La Traviata“, Trini López’ „La Bamba“ und Evergreens von Glenn Miller zusammen.

Kraut und Rüben? „Bei uns ist nicht wichtig, was wir spielen, sondern, dass wir unser Herz mitnehmen“, sagt Rieu zum Rezept. Die Musik sei ein „tool“ – er sucht nach dem deutschen Wort –, ein Werkzeug, um eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen: „Deshalb kommen die Leute in meine Konzerte.“ In den USA seien die Konzertbesucher „unglaublich hungrig“ danach und nähmen lange Anreisen in Kauf – „doch sie wissen nicht, an welchen Stellen man klatscht. Sie hören auf, wenn ich von der Bühne gehe, und fangen erst wieder an, wenn ich zurückkomme.“ Das „beste Publikum der Welt“ habe er, ohne dass er sich einschmeicheln wolle, in Deutschland: „Dort kennen alle diese Musik“; sie kämen, anders als zum Beispiel in Brasilien, pünktlich – worauf er großen Wert lege – und verstünden es, Beifall zu spenden. Sein Eindruck von Japanern: Brav und steif säßen sie auf ihren Stühlen – bis es zum Schluss Luftballons regne; da endlich entstehe eine Stimmung, für die Rieu einen kölschen Ausdruck findet: „Loss jonn!“

Das Potpourri wird künftig um ein Element reicher. Im Herbst probt der Orchesterleiter Interpretationen von Abba-Songs; in Köln werden sie zum ersten Mal als Teil des Konzerts zu hören sein. „Das ist hochwertige Musik, perfekt gemacht. Ich bin Abba-Fan. Aber ich will, dass es meine Version der Stücke wird.“ Die rund 60 angestellten Mitglieder des Johann-Strauss-Orchesters müssen demjenigen folgen, der mit der Stradivari vorne steht und sich als ihr „Vater“ versteht. Entsprechend fühlten sich alle Orchestermusiker „wie eine Familie“, sagt Rieu: aufeinander eingespielt und voll gegenseitigem Vertrauen. Zu den verlangten Fähigkeiten gehört neben Tourneetauglichkeit das Vermögen, nicht nach fertigen Partituren zu spielen. Denn Rieu benutzt in der Regel Klavierauszüge, die es erlauben, den Kompositionen mit orchestralen Arrangements „meinen Stempel aufzudrücken“. Typisch für die Präsentation sind die launigen Moderationen des geigenden Dirigenten. Ist der Humor, den das Ensemble entsprechend auf der Bühne zeigt, echt? Rieu versichert es – und widerspricht dem Kritiker einer Bostoner Zeitung, der mutmaßte, die Musiker würden für ihr Lachen bezahlt.

Amüsiert erwähnt er, an der Maastrichter Universität sei eine Professorin gemeinsam mit anderen „Musikologen“ dabei, sein Wirken zu erforschen. Leitfrage: Was macht den Erfolg des berühmten Sohns der Stadt aus. Als Ingredienzien zählt er Musikalität, Musikerauswahl und Humor auf, überdies das Bestreben, „alle Details im Auge zu behalten“. Erschöpft sich darin die Antwort? „Meine Frau und ich wissen es, aber die Wissenschaftlerin muss es selbst herausfinden.“ Wie auch immer sich der Erfolg erklären lässt, durch ihn hat sich Rieu einen Traum erfüllen können: in Maastricht in einem mittelalterlichen Schloss zu wohnen.