Junge Geflüchtete stehen im Fokus in der Debatte um eine strengere Migrationspolitik. Ein Besuch bei stigmatisierten Jugendlichen in Köln.
Junge Geflüchtete aus AfghanistanWie die Integration in Köln gelingt und warum das schwer ist – ein Report
„Ohne die Hilfe meiner Betreuerinnen in der Wohngruppe“, sagt Nasrullah, „würde ich heute sicher heute nicht als Lackierer bei VW arbeiten. Keine Ahnung, was ich dann machen würde.“ Mit seinem Kumpel Aziz und der Sozialpädagogin Sati Arikpinar sitzt Nasrullah in der Wohnküche einer WG für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Rechtsrheinischen. Der 19-jährige Afghane trägt weiße Jeans und ein hellblaues Hemd, die Haare sind frisch frisiert, sein Deutsch hat einen rheinischen Einschlag.
In der Wohngruppe leben vier minderjährige Geflüchtete und drei Über-18-Jährige, Nasrullah hat vor ein paar Monaten eine eigene Wohnung gefunden. Sozialarbeiterinnen betreuen die Jugendlichen in der WG 24 Stunden am Tag. Sie gehen mit ihnen zu Behörden, helfen bei Bewerbungen, vermitteln Sprachkurse. Sie strukturieren ihre Tage, unterstützen bei der Klärung des Aufenthaltsstatus, gehen mit zum Jugendamt und zum Arzt, erarbeiten Zukunftspläne und achten darauf, dass die Jugendlichen sie einhalten.
Sozialpädagoginnen wie Sati Arikpinar vermitteln auch zwischen den Systemen: Da ist die Jugendhilfe, die bei der Integration hilft, auf der einen Seite, und die Asylgesetzgebung, bei der eine mögliche Rückkehr ins Herkunftsland im Vordergrund steht, auf der anderen. Neben dem Ringen um Aufenthaltsstatus und Integration „sind viele der Jugendlichen traumatisiert und brauchen dringend psychologische Unterstützung“, sagt Arikpinar. „Die Unterstützung in der Wohngruppe ist unbezahlbar“, sagt Nasrullah und erzählt von einem Cousin, der all diese Hilfen nicht hatte. „Der wusste lange gar nicht, wie er hier klarkommen sollte. Inzwischen arbeitet er als Fahrer bei Amazon – und wird das wahrscheinlich noch sehr lange tun.“
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Nasrullah kommt aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Kabul. „Wir hatten Angst auf dem Weg zur Schule“, sagt er, „wir wussten an keinem Tag, ob wir heil nach Hause kommen.“ Der IS, später die Taliban, hätten in dem Ort patrouilliert, irgendwann sei auch seine Schule bedroht worden. „Da sagte mein Vater mir: Die Zukunft ist für Dich in Afghanistan zu unsicher. Ich möchte, dass Du nach Europa gehst.“
Im Jahr 2019 flüchtete Nasrullah gemeinsam mit seinem sieben Jahre älteren Bruder in den Iran, da war er 14. Dort sei er in der Schule gemobbt worden, habe jeden Tag Rassismus erfahren. Fast eine Stunde lang erzählt er über seine Flucht nach Europa, die ein Jahr dauerte. Die Schüsse, die bei der Flucht vom Iran in die Türkei an der Grenze fielen, Festnahmen in der Türkei, die Fluchten aus Lagern, Menschen, die halfen, Hunger und Angst. Die Odyssee über die Balkanroute bis nach Köln. Jetzt macht Nasrullah eine Ausbildung als Lackierer. Er setze sich jedes Jahr Ziele, sagt er. „In fünf Jahren möchte ich ein eigenes Unternehmen haben – und die deutsche Staatsbürgerschaft.“ „Nasrullah wird das schaffen“, sagt Sati Arikpinar.
Aziz hat Afghanistan verlassen, als er elf war. Für eineinhalb Jahre habe er in der Türkei gelebt und dort in einer Fabrik gearbeitet. Für seine Flucht aus Afghanistan habe er mehr als vier Jahre gebraucht – fast zwei Jahre habe er in einem Wald irgendwo in Serbien gelebt. Er zeigt Fotos, auch von deutschen Freiwilligen, die ihm in Serbien geholfen und eine kleine Geschichte über ihn veröffentlicht haben. „Sie haben mir auch ein Ticket bezahlt, mit dem ich nach Paris gekommen bin“, sagt er. Jetzt arbeitet er als Aushilfe in der Küche eines türkischen Restaurants in Köln. „In zehn Jahren möchte ich ein Haus haben, ein Auto und eine Frau“, sagt er. Am meisten zu schaffen mache ihm, dass er keinen gesicherten Aufenthaltsstatus habe. Er habe gehört von der Debatte darüber, dass Afghanen wieder in ihre Heimat abgeschoben werden sollen. „Das macht mir Angst“, sagt er.
„Wenn Menschen keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, löst das nicht selten Konflikte aus“, sagt der Kölner Sozialwissenschaftler Kemal Bozay, pädagogischer Leiter des Vereins Interkultur, der die Wohngruppe für junge Geflüchtete betreibt. „Ständige Unsicherheit behindert den Integrationsprozess bei Jugendlichen massiv.“ Bozay warnt beim Thema Geflüchtete und Kriminalität auch und gerade nach dem islamistischen Messerattentat von Solingen vor Verallgemeinerungen und Vorurteilen. Klar sei aber, dass das Risiko von Radikalisierungen und kriminellen Taten sinke, je besser die Jugendlichen betreut würden. Wenn junge Menschen, die in ihrer Heimat Gewalt und Verfolgung erlebt hätten, hierzulande keine Perspektive sähen, könnte dies zu „Frust, Wut und Radikalisierungserscheinungen“ führen, so Bozay. „Besonders gefährdet sind jene, die lange in Unsicherheit leben – sei es durch eine ausstehende Entscheidung über ihren Asylstatus oder mangelnde Chancen im Bildungssystem.“
Am besten aufgehoben seien die Jugendlichen in Wohngruppen mit 24-Stunden-Betreuung und Bezugspädagogen, die sich um alle Belange kümmern. „Die Wahrscheinlichkeit, dass sie gut hier ankommen und sich integrieren, erhöht sich in den Wohngruppen enorm. Hier haben die Jugendlichen eine feste Bezugsperson, die sie im Alltag unterstützt – beim Ankommen, der Integration in die Schule, Ausbildung, im Umgang mit Ämtern und bei Freizeitangeboten.“
628 unbegleitete junge Geflüchtete bringt die Stadt Köln unter, 237 kommen aus Afghanistan
628 unbegleitete und ehemalige unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden aktuell durch die Stadt Köln betreut. 371 von ihnen leben in Wohngruppen, eigenen Wohnungen oder anderen Pflege- und Betreuungseinrichtungen, 232 in sogenannten Brückenlösungen der Jugendhilfe – das sind zumeist Sammelunterkünfte, in denen oft viele Kulturen aufeinanderprallen, es wenig Privatsphäre gibt und unterschiedliche Arten von Betreuung. Die mit Abstand meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen kommen aus Afghanistan (237), Guinea (82), die Ukraine (67) und Syrien (61) folgen auf den Plätzen.
Die Stadt Köln merkt dazu an, dass auch in den Brücken-Unterkünften der Betreuungsschlüssel zwischen 1:1 und 1:3 liege – in den Wohngruppen kommt statistisch betrachtet mehr als eine Fachkraft auf einen Geflüchteten. Die Wartelisten für die Plätze in Regeleinrichtungen sind lang: Auf einen freiwerdenden Platz kommen 30 bis 40 Anfragen für Jugendliche, teilt die Stadt Köln mit.
Nasrullah lebt seit fast genau vier Jahren in Deutschland. Er kam zunächst in einer Sammelunterkunft in der Poststraße unter und hatte Glück, dass er irgendwann einen Platz in einer Wohngruppe fand. Er habe einfach großes Glück gehabt.
„Viele Afghanen sagen, dass sie Angst haben, abgeschoben zu werden, ich kann das verstehen“, sagt Nasrullah. Er denke auch manchmal, er dürfe nichts sagen, sagt Aziz. Kürzlich habe er in einer Disko ein Mädchen kennengelernt. Irgendwann sei ein Typ gekommen, habe ihn angerempelt und das Mädchen weggezogen. „Ich hatte nichts getan und war sauer. Aber ich habe mir gesagt: Bleib ruhig und sag nichts, sonst kriegst Du noch Ärger mit der Polizei.“
Er habe vor einigen Wochen einen Konflikt mit Afghanen am Hauptbahnhof beobachtet, Menschen, die offenbar aus Afghanistan kamen, hätten gebrüllt, er habe schlichten wollen, erinnert sich Nasrullah. „Da hat mich eine Polizistin angeschrien, ich sollte abhauen. Dabei wollte ich nur helfen, weil ich übersetzen konnte.“ Er habe der Beamtin das gesagt, „aber die hat nur gesagt, ich sollte mich verpissen. Da habe ich mich gefragt: Bin ich kein Mensch?“