Buchvorstellung in KölnNeuer Inhalt (12)
Köln – Warum spuken antisemitische Stereotype in vielen Köpfen immer noch herum, 77 Jahre nach dem Holocaust? „Er ist ein tief in unserer Kultur und Geschichte verwurzeltes Problem“, sagte Historiker Peter Longerich in dem Vortrag, den er am Dienstagabend in der Kartäuserkirche hielt.
Zur Veranstaltung anlässlich der Woche der Brüderlichkeit hatte ihn die Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit eingeladen. Was Longerich vortrug, war ein Schnelldurchgang durch sein Buch „Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte“, das viel Beachtung gefunden hat.
Dass das Werk Ende des 18. Jahrhunderts einsetzt, begründete er mit einem „Umschlagpunkt“: Im Zuge der Aufklärung habe sich die Stände- zur „modernen Staatsbürgergesellschaft“ gewandelt mit der Frage im Gefolge: „Was machen wir mit der jüdischen Minderheit?“ Die Bestrebungen, sie als gleichberechtigte Bürger zu integrieren, wurden immer wieder von Gegenbewegungen konterkariert, von der Romantik bis ins Kaiserreich – und bekanntlich darüber hinaus.
Dabei konnten die Antisemiten an den alten christlichen Antijudaismus anschließen. Longerichs Kernthese: Der Judenhass der zurückliegenden zweieinhalb Jahrhunderten sei eng verknüpft mit der Frage nach der deutschen Identität. „Der Antisemitismus ist die negative Seite einer fehlgeschlagenen Identitätsbildung“, sagte er. „Der Jude“ sei zum Gegenbild des angestrebten Deutschseins geworden – ob in der Zeit der Restauration nach 1815 oder nach dem Ersten Weltkrieg, als die Weimarer Republik als „Judenrepublik“ verunglimpft wurde.
Die Nazi-Regime stand in dieser Kontinuität, und doch macht Longerich eine „Zäsur“ aus: Der Antisemitismus, inzwischen rassistisch aufgeladen, sei 1933 zur Staatsdoktrin geworden und habe dadurch eine unkontrollierbare Eigendynamik entwickelt – bis hin zum Völkermord. Was nicht verhindert habe, dass nach 1945 weite Teile der Bevölkerung immer noch antisemitisch eingestellt gewesen seien.
Und heute? Der Historiker, Mitautor des 2012 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichts des Bundestags, sprach von „Post-Holocaust-Antisemitismus“: In sonderbarer Schuldumkehr werde den Juden die ständige Erinnerung an die Shoah angelastet.
Hinzu komme der Antisemitismus in Form übersteigerter Israel-Feindschaft. Sein Buch habe er geschrieben, weil ihm die Analyse, warum es den Antisemitismus gibt, zu kurz komme. Zwar sei dessen Bekämpfung „Staatsziel“ der Bundesrepublik, doch „große Fortschritte“ blieben aus.
In jedem Fall gelte es, „weiterhin gegen menschenfeindliche Ideologien wie Rassismus und Antisemitismus aufzustehen“, sagte Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Gesellschaft. „So wie auch jene Akteure nicht ruhen, die die Demokratie bedrohen, so dürfen auch wir in unseren Bemühungen nicht nachlassen, unsere Vorstellung einer pluralen Gesellschaft zu verteidigen“