AboAbonnieren

AusnahmesituationenDas können wir von Zeitzeugen der Nachkriegszeit lernen

Lesezeit 11 Minuten
Neuer Inhalt

Das aufzeigende Mädchen ist Marliese Graumann-Wirtz, die uns im Text erzählt, wie sich die Nachkriegskinder beschäftigt haben.

  1. Es wäre vermessen, unsere Einschränkungen mit den drastischen Entbehrungen zu vergleichen, denen unsere Großeltern in den Jahren des Krieges und danach ausgesetzt waren.
  2. Aber vielleicht können wir lernen von ihren Erfahrungen mit der Entbehrung.
  3. Deshalb haben wir Menschen aus der Region, die diese Zeit erlebt haben, nach Tipps gefragt, die uns helfen könnten, die aktuelle Ausnahmesituation besser zu meistern.

Köln – "Wir hatten ja nichts.“ Wenn unsere sonst recht eloquente Oma Jo ihre Nachkriegserzählungen mit diesen vier Worten begann, hätten wir ihr gerne unverzüglich Redeverbot erteilt. Weil wir ihrer überdrüssig waren, vielleicht auch, weil wir einen versteckten Vorwurf witterten: „Euch geht es zu gut, wartet nur ab!“ Lange hatte ich diese vier Worte nicht mehr im Sinn. Bis die Corona-Pandemie kam.

Und mit ihr der Verzicht, die Isolation, die Innenschau. Beinahe täglich denke ich seitdem an Oma Jos Worte und versuche, mich zur Raison zu rufen, wenn ich mich selbst bemitleide. Weil ich mich einsam fühle, meine Familie und Freunde vermisse, und gerne mal wieder essen gehen würde. Es wäre vermessen, unsere Einschränkungen mit den drastischen Entbehrungen zu vergleichen, denen unsere Großeltern in den Jahren des Krieges und danach ausgesetzt waren. Dem Hunger, der Angst, dem Tod. Aber vielleicht können wir lernen von ihren Erfahrungen mit der Entbehrung. Deshalb haben wir Menschen aus der Region, die diese Zeit erlebt haben, nach Tipps gefragt, die uns helfen könnten, die aktuelle Ausnahmesituation besser zu meistern. So verschieden ihre Erinnerungen, so einig sind sie sich, dass in der Krise nicht Leistung und Erfolg zählen, sondern Menschlichkeit, Solidarität und Verantwortungsbewusstsein. Und: Dass „nichts zu haben“, die Fantasie beflügelt.

Paula Hiertz (Neubrück, Jahrgang 1931)

Neuer Inhalt

Im Winter 1936, 5-jährig, in Köln

„Wir haben unsere wenige Freizeit, vorausgesetzt das Wetter spielte mit, im Freien verbracht. Auf der Straße in der Fleischmengergasse und in den Trümmerhaufen des Cäcilienviertels – Spielplätze gab es ja nicht, aber zum Glück wenig Verkehr. So konnten wir auf der Straße ungestört Hüppekästchen, Seilspringen oder Dilldopp spielen. Wenn wir nur zu zweit Seilchenspringen konnten, haben wir das eine Ende des Seils an einer Abflussrinne festgebunden, eine hat das Seil geschlagen – die andere ist gehüpft. Wir wussten uns immer zu helfen, mussten aus nichts oder dem wenigen etwas zaubern.

Ihr Tipp: Dillendopp oder Peitschenkreisel

Das braucht man:1 kegelförmigen Kreisel mit waagerecht eingekerbten, umlaufenden Rillen1 Peitsche (einen Stab mit einer daran befestigten Schnur)So geht’s:Kreisel mit der Schnur umwickeln, dann die Peitsche schnell abziehen, so dass der Kreisel rotiert. Anschließend gilt es, ihn durch wiederholte Peitschenschläge in der Drehbewegung zu halten.Variation: Ziel kann sein, den Kreisel als Erster über eine bestimmte Ziellinie zu treiben.

Unser Beten übertönte den Bombenlärm

Bei schlechtem Wetter haben wir unsere Nasen an Fensterscheiben platt gedrückt und uns per Zeichensprache mit den Nachbarskindern unterhalten. Mit den Fingern formten wir Buchstaben, wenn ein Wort zu Ende war, kreisten wir die Hände. Ich beherrsche die Zeichensprache noch heute!

Viel Zeit verbrachten wir auch in Luftschutzkellern, wo wir, wenn es Bomben hagelte, beteten. Der Gedanke daran, erzeugt noch heute Gänsehaut. Unser Beten übertönte den Bombenlärm – und die Angst. Es war dieses spezielle Gefühl von Zusammenhalt, das uns Mut machte. Generell spielte Solidarität in diesen Jahren eine größere Rolle als heute. Jeder dachte für den Nächsten mit. Deshalb hätten wir auch niemals Hamstereinkäufe oder andere Alleingänge gewagt. Aus Angst, den anderen, die ja auch nichts hatten, zu schaden. Familien, die viele Kinder – und damit auch mehr Lebensmittelmarken – hatten, gaben den Alleinlebenden etwas ab. Man gab sich auch Tipps, wenn man beispielsweise erfuhr, dass es irgendwo etwas Besonderes wie günstiges Pferdefleisch gab. Neben Solidarität und Rücksicht, waren Geduld und Disziplin Tugenden dieser Zeit. Sie haben uns sehr geholfen – und auch im weiteren Leben nicht geschadet. Ich behaupte sogar: Wir waren wesentlich glücklicher. Langeweile? Kannten wir nicht. Es gab viel zu tun, wir mussten unseren Müttern schon sehr früh im Haushalt helfen – oder Dienste für die Allgemeinheit übernehmen. Volksfeind Nummer eins war seinerzeit der Kartoffelkäfer, also liefen wir in Scharen aus, um die Schädlinge einzusammeln. Mein Rat an die junge Generation: Wenn einer für den anderen mitdenkt und Verantwortung übernimmt, werdet ihr die Krise gut meistern – und aus ihr lernen!“

Marliese Graumann-Wirtz, (Vingst, Jahrgang 1939)

Neuer Inhalt

Als 12-jährige Schülerin, 1951, in Köln

„Wir Nachkriegskinder kannten ja nichts anderes, als den Verzicht. Obwohl uns das nicht so vorkam, da wir gar nicht wussten, was uns fehlte. Wir wurden in diese Situation hineingeboren, konnten deshalb wahrscheinlich auch besser damit umgehen als die heutige Generation, die in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten aufwächst. Wir waren meist glücklich mit dem, was wir bekamen. Das Sonntagskleid, das aus einem alten Kleid der Mutter genäht wurde, zum Beispiel. Wie schön ich mich darin fand! In der Freizeit haben wir vor allem Hüppekästchen auf der Straße gespielt oder Murmelklicker – das ging auch in der Wohnung prima. Wir kannten mindestens zehn Varianten.

Ihr Tipp: Hüppekästchen

So geht’s:Der erste Spieler wirft den Stein auf die 1, dann werden der Reihe nach von 1 bis 7 die Felder auf einem Bein abgehüpft. Das Feld mit dem Stein wird übersprungen. Auf der 7 darf man sich ausruhen und das zweite Bein kurz abstellen. Daraufhin wird rückwärts zählend wieder bis zur 1 gehüpft. Vor dem Feld mit dem Stein wird gestoppt und auf einem Bein stehend der Stein aufgehoben. Im nächsten Durchgang wirft man auf die 2 usw. Ein Spieler ist so lange an der Reihe, bis er mit dem Stein daneben trifft, beim Hüpfen auf die Linien tritt oder hinfällt. Insgesamt gibt es 7 Durchgänge.

Die Kunst des Wartens

Ich glaube, wir haben die wenigen besonderen Dinge mehr schätzen können. Einen Pfennig für ein Bonbon geschenkt zu bekommen, war die Krönung des Alltags! Was uns in der Zeit der Entbehrung geholfen hat, war, dass wir uns Ziele gesetzt haben, von einem Beruf oder einer Reise geträumt und darauf hin gearbeitet haben. Wir haben es besser beherrscht, auf etwas zu warten – und waren glücklicher, wenn es dann soweit war. Wenn man eine Perspektive hat, dann hält man Durststrecken einfacher durch. Jungen Leuten sage ich: Verkneift euch ab uns zu bewusst etwas, dann freut ihr euch umso mehr auf das nächste Mal. Lasst mal das Handy zu Hause und spielt Hüppekästchen. Schreibt Tagebuch! Freut euch darauf, Jahrzehnte später zu lesen, was ihr heute gedacht oder erlebt habt. Neugierig und hoffnungsvoll in die Zukunft schauen, das gibt Kraft!“

Karl-Heinz Kock (Heimersdorf, Jahrgang 1944)

Neuer Inhalt

1955, 11-jährig, in Bonn

„Waren die Freunde nicht zur Verfügung, um zum Beispiel mein Lieblingsspiel Kippel Kappel zu spielen, haben wir Jungen uns in der Nachkriegszeit oft so richtig schön gelangweilt. Ich sage extra: wir Jungen, da die Mädchen viel mehr im Haushalt helfen mussten. Mit richtig schön meine ich: Dass wir dann meist auf tolle Ideen kamen. Dann wurden Gegenstände zu Musikinstrumenten umfunktioniert, oder man baute sich gleich selbst eine Gitarre aus einem Stück Holz und Garn. Dann erfand man Geschichten, die man abends dem kleinen Bruder erzählen konnte. Oder neue technische Geräte. Langeweile kann die Fantasie beflügeln.

Sein Tipp: Kippel Kappel

Das braucht man:Kippel: Ein 10-15 cm langes, an beiden Enden zugespitztes Stück Holz von wenigen Zentimetern DurchmesserKappel: Ein runder, harter und gerader Knüppel von 0,5-1 m Länge und einem Durchmesser von rund 5-10 Zentimetern (z.B. Kirschbaum-Ast)So geht’s:Man zieht eine längliche Rille in den Boden und der erste Spieler legt den Kippel über die Rille, schiebt den Kappel in die Rille unter den Kippel und versucht, ihn so weit wie möglich wegzuhebeln. Der andere Spieler versucht, den Kippel zu fangen, wofür es, wenn es ihm gelingt, mit einer Hand 20 oder mit beiden Händen 10 Punkte gibt.Jetzt muss der zweite Spieler von der Stelle aus, wo der Kippel gelandet ist, versuchen, mit dem Kippel den Kappel zu treffen. Gelingt es ihm, wird gewechselt, und der erste Spieler kommt an die Reihe. Wenn nicht, beginnt der zweite Teil des Spiels:Der Spieler schlägt mit dem Kappel an der Stelle, wo der Kippel gelandet ist, auf dessen spitze Seite; der Kippel schnellt hoch und wird soweit wie möglich vom Loch weggeschlagen – bis zu drei Mal. Jetzt wird der Abstand bis zum Loch ermittelt, jeder Schritt bedeutet einen Punkt. Nun kommt der andere Spieler an die Reihe und das Spiel beginnt von vorne.

Schöne, unerfüllte Wünsche

Was ich im Nachhinein auch als bereichernd empfinde: Dass unsere Wünsche häufig unerfüllt blieben. Wenn wir uns zum Beispiel sehnlichst einen Fußball wünschten, stattdessen aber ein Kinderbuch bekamen, dann hat uns das auf Dauer widerstandsfähiger gegen Enttäuschungen gemacht. Es hat uns gestärkt – auch in unserer Fähigkeit, uns intensiv auf etwas freuen zu können. Sogar über die gehäkelten Bettschuhe von der Oma zum Geburtstag, weil wir immer kalte Füße hatten!“

Wiltrud Kock (Heimersdorf, Jahrgang 1942)

Neuer Inhalt

1948, 6-jährig, in Lohr am Main

„Wann immer es die Zeit zuließ und ich nicht im Haushalt helfen musste, flüchtete ich in die Natur. War das Wetter schlecht, bastelten wir viel. Wir waren, aus der Not heraus, sehr kreativ, haben mit selbst beschafften Materialien Weihnachtssterne oder Osterschmuck gebastelt. Ich denke, für uns hatte vieles, was einem heute nichtig vorkäme, größeren Charme. Weil nichts im Überfluss vorhanden war. Wie sehr wir uns über Fotos freuten und stundenlang damit beschäftigen! Heute gibt es sie überall, zu tausenden werden sie auf dem Handy gehortet – aber schaut man sie sich jemals nochmal an?

Ihr Tipp: Eis machen ohne Maschine

Zutaten:400 g gezuckerte Kondensmilch500 ml Sahne (mind. 32%)1 TL Vanilleschoten-Extrakt (Mark einer Vanilleschote) oder Püree aus 500 g frischen FrüchtenEine Form die gefriertauglich ist und mindestens 1,5 Liter Fassungsvermögen hat (in den Gefrierschrank stellen während das Eis zubereitet wird)

Zubereitung:Die Kondensmilch in eine Schüssel geben, Vanille hinzufügen und unter die Kondensmilch rühren. Die Sahne in einer weiteren Schüssel mit dem Handmixer oder der Küchenmaschine steif schlagen. Etwa 3 EL der steif geschlagenen Sahne unter die gezuckerte Kondensmilch-Mischung rühren. Die gezuckerte Kondensmilch in eine große Rührschüssel geben und den Rest der steif geschlagenen Sahne mit einem Rührlöffel unterheben.Die Eis-Mischung nun in die vorgekühlte Auflaufform geben und für ca. 4-5 Stunden im Gefrierfach kühlen.

Tolle Erlebnisse wirklich wertschätzen

Wir maßen den Dingen mehr Bedeutung bei. Wenn es etwa bei der Schülerspeisung Kakao und Brötchen gab, dann freuten wir uns nicht nur tagelang darauf, die Freude hielt auch länger an. Es fühlte sich an wie Sahnetorte essen. Ein Erlebnis der besonderen Art war auch, wenn unsere Mutter im Keller Eis zubereitete. Zuvor musste unser Vater mit dem Rad zur Brauerei fahren, eine Stange Eis kaufen, die wir Kinder dann zerhackten und in eine große Schüssel füllten. Da hinein stellte meine Mutter eine Milchkanne aus Blech, in der sich die Eismasse befand. Alle Viertelstunde musste eines von uns Kindern die Kanne drehen. Das hat Stunden gedauert, aber wenn das Eis dann endlich fertig war, war es ein tolles Erlebnis.

Was der jüngeren Generation, denke ich, momentan zu schaffen macht, ist der Tod, der gegenwärtiger ist. Viele unserer Väter, Onkel, Brüder waren im Krieg gefallen. Der Tod war ein ständiger Begleiter, das nahm ihm die Wucht und ließ ihn uns etwas besser ertragen.“

Brigitte Hammesfahr (Solingen, Jahrgang 1942)

Neuer Inhalt

1950, 8-jährig, in Solingen

„Was ich aus den Nachkriegsjahren gelernt habe: Häufiger in mich zu kehren und zu überlegen, was ich wirklich möchte und was ich anderen Gutes tun kann. Heute gibt es zu viel von allem, das führt schnell zu Langeweile, mangelnder Wertschätzung und Fantasielosigkeit. Jetzt haben wir die Chance, den Dingen, die wir vorher als selbstverständlich empfanden, wieder Wert beizumessen: Freunde zu treffen, in einem Restaurant eine Pizza zu essen, im Sportverein Fußball zu spielen. Daran sollten wir denken, wenn die Sehnsucht zu groß wird.

Ihr Tipp: Trockensuppe aus Küchenresten

Zutaten: 1 bis 3 Einmachgläser (mit Twist-off Deckel oder Bügeln)Rohe Reste von Zwiebeln, Karotten, Lauch, Knoblauch, Petersilie, Schnittlauch, Kohlrabi, Weißkraut, Brokkoli, Suppengrün, Ingwer

Zubereitung: Gemüse putzen und in kleine Scheiben, Stifte oder Würfel schneiden. Je kleiner, desto besser. Anschließend zum Trocknen auf einen großen Teller oder ein Blech auslegen und an einen warmen Ort stellen.Sobald die Zutaten getrocknet sind, auf die Gläser verteilen. Wasser aufkochen, Inhalt hineingeben, mit Salz, Pfeffer oder Curry würzen, fünf Minuten bei mittlerer Temperatur köcheln lassen.

Fantasie gegen die Langweile

So haben wir das früher auch gemacht. Wir haben uns in andere Zeiten versetzt, schufen Schatztruhen mit allem, was uns wichtig war oder wir verkleideten uns. Meine Eltern hatten zum Beispiel im Wohnzimmerschrank drei Regalböden nur für mich freigeräumt, Platz genug für drei Schatzkisten. Eine davon befüllte ich mit Bildern von Schauspielern, die mir gefielen. In einer anderen Kiste bewahrte ich Briefe und Karten auf, die dritte diente als Tagebuch mit Aufzeichnungen und allerhand Kleinkram, Eintrittskarten, getrocknete Blüten oder Selbstgehäkeltem. Bestes Beispiel für die Fantasie, die wir aufgrund mangelnder Möglichkeiten entwickelten, war mein Nachbar Wolfram: Ich habe ihn noch heute genau vor Augen, wie er auf der Mülltonne vor unserem Haus steht und Schaffner spielt, im blauen Kostüm, mit einer Glocke in der Hand. Ich war sein einziger Fahrgast, musste auf den Treppenstufen auf Einlass warten, dann bekam ich einen selbstgebastelten Fahrschein und mit großem „Limmlimmlimm“ – niemand konnte ein Straßenbahngeräusch so gut imitieren wie Wolfram – ging die Fahrt in Richtung Düsseldorf los. Wir haben es hunderte Male gespielt, und jedes Mal war ich fest davon überzeugt: Wolfram wird Zugführer. Ich sollte dringend in Erfahrung bringen, ob er das wirklich geworden ist. Wovon ich außerdem noch heute profitiere: Dass wir viele Nahrungsmittel selbst herstellten, auch auf Vorrat, und nichts verkommen ließen. Da wurde selbst aus Gemüseresten noch eine Brühe gemacht!