Historie im Kölner NordenVeedels-Geschichte in Kisten
Chorweiler – Es gibt wohl wenige Stadtviertel in Köln, die solche Identitätsprobleme haben wie Chorweiler. Selbst viele Bewohner empfanden den Stadtteil lange Zeit als „geschichtslos“ – kein Wunder, schließlich wurde er auf der grünen Wiese hochgezogen. Erst seit wenigen Jahren bildet sich eine Veedels-Identität heraus, werden die positiven Seiten von Chorweiler entdeckt. Deshalb ist es wohl kaum verwunderlich, dass auch erst jetzt ein Stadtteilarchiv im Aufbau begriffen ist – offiziell „Geschichtswerkstatt“ genannt. Ute Weber, Leiterin des Bürgerzentrums, hat sich der Sache angenommen. Und stellt fest, dass viel Geduld vonnöten ist, denn genau wie eine neue Stadt benötigt auch eine zeitgeschichtliche Sammlung Pioniergeist, kluge Planung und vor allem Zeit zum Wachsen.
Hautnah miterlebt
„Hier war nix, nur plattes Land, eine Landreserve“, sagt Weber. Sie ist Zeitzeugin, die Entwicklung des Kölner Nordens erlebte sie hautnah mit. Ihre Eltern gehörten zu den Siedlern in Heimersdorf, 1964 bezogen sie ihr Reihenhaus, Weber war damals drei Jahre alt. Während etwa Worringen, Esch, Pesch, Auweiler aus alten Dörfern hervorgingen, mit jahrhundertelanger stolzer Historie, wurden Seeberg, Chorweiler, Chorweiler-Nord und Blumenberg – in genau dieser Reihenfolge – allesamt ab Anfang der 1970er Jahre am Reißbrett entworfen, aus dem Boden gestampft. Es sind mehr oder weniger Retortensiedlungen. Heimersdorf dagegen entwickelte sich rund um den gleichnamigen Gutshof, der in den 60er Jahren abgebrochen wurde. Die ersten Siedlungshäuser standen dort schon in den Zwanzigern. Ein weiterer Stadtteil, der Kreuzfeld heißen sollte, blieb bis heute Absichtserklärung. „Man hat kegelförmig geplant“, sagt Weber und beschreibt mit der Hand eine Wellenbewegung, „von den niedrigen Eigenheimen am Rand bis zu den Hochhäusern am Pariser Platz, die bilden die Kuppe.“ Mit dem Türschlüssel geht sie voran, schließt einen Raum im ersten Stock auf, Linoleumboden, Einbauschrank, drei Stühle. Auf Tisch und Boden herrscht ein kunterbuntes Durcheinander: Stapel von Schnellheftern, Körbe mit Kassetten, gerahmte Fotos, Ausgaben von „Der Aufzug“, einer Stadtteilzeitung, die in den 80er Jahren erschien, Flugblätter, Broschüren, Veranstaltungsplakate. Lauter Dokumente aus der Entstehungsgeschichte von Heimersdorf, Chorweiler und Seeberg, die der Katalogisierung harren. „Das hier ist der noch ungeordnete Bestand“, sagt sie und blickt auf das Chaos vor ihren Füßen.
Sie öffnet die Schranktüren, dahinter kommen weitere prall gefüllte Aktenordner zum Vorschein. Es gibt aber auch den Teil, der schon geordnet ist. Der lagert in einem zweiten Raum, die Archivalien dort wurden sortiert und nach einer professionellen Systematik in Findeverzeichnissen erfasst. Die Tipps, wie man so etwas macht, gab Elke-Ursel Hammer vom Bundesarchiv in Koblenz, eine gebürtige Seebergerin.
„Die Zeitdokumente sollen nicht im Schrank verstauben, wir wollen sie der Öffentlichkeit zugänglich machen“, betont Weber. Geplant ist dabei eine Zusammenarbeit mit der Stadtbibliothek, die im Haus ihr Domizil hat. Künftige Nutzer werden in der Bibliothek die zuvor bestellten Unterlagen in Ruhe einsehen können. Gibt es überhaupt Interesse? Doch, versichert Weber. Anfragen kämen manchmal regelrecht anfallsartig, da muss ein Schüler einen Hausaufsatz schreiben oder Architekturstudenten interessieren sich für stadtplanerische Details.
Zwei Ehrenamtler arbeiten derzeit an der Systematisierung des Bestandes: Maria Blank, die auch in der Seniorenvertretung von Chorweiler sitzt, und Cem Yalim aus Niehl, ein 24-Jähriger, der im Stadtteil aufwuchs und dort noch familiäre Bindungen hat. Sein Name dürfte den Lesern des „Kölner Stadt-Anzeiger“ von der Jugendseite „Junge Zeiten“ vertraut sein, wo er öfter Kolumnen schreibt, neben seiner Ausbildung zum Lokomotivführer. Für hauptamtliches Personal gebe es leider kein Budget, erklärt Ute Weber. Daher würde sie sich freuen, wenn sich weitere Freiwillige bei ihr melden.
Vorraussetzung für Quellenforschung
Dem Sammeleifer zweier Bürger ist es zu verdanken, dass es überhaupt ein beachtliches Konvolut gibt, so dass Historiker dereinst Originale zur Verfügung haben werden – eine Grundvoraussetzung für Quellenforschung. Fred Kirfel und Willi Bach, der eine in Chorweiler ansässig, der andere in Heimersdorf, hoben über Jahrzehnte hinweg Zeugnisse auf, ohne im Grunde zu wissen, was mal aus ihren Schätzen werden würde. In den 80er, 90er Jahren waren sie, unabhängig voneinander, als Stadtteilhistoriker aktiv. Bach – Vater des früh verstorbenen Schauspielers Dirk Bach und viele Jahre Mitglied im Beirat des Bürgerzentrums – gab 1998 den Band „Heimersdorf – Vom Hof zum Kölner Stadtteil“ heraus. Seit jeher sei Stadtgeschichte sein Hobby gewesen, erzählt der 88-Jährige. „Ich bin mehrere Jahre durch den Bezirk gezogen und habe mit den Leuten gesprochen, so erfahren Sie das meiste, die alten Rheindörfer waren am interessantesten.“ Aber auch mit Joachim Riedel, einem der Architekten von Chorweiler-Mitte, der den Planungsprozess später in einem Buch dokumentierte, führte Bach ein ausführliches Interview – es liegt auf Tonband-Kassette vor. Fred Kirfel wiederum entstammt der Chorweiler Selbsthilfe, die später in der Erwerbslosen-Beratungsstelle Echo aufging. Viele Jahre engagierte er sich in der Mieterberatung, heute lebt er im Erftkreis. Vor zwei Jahren übergaben beide Männer ihren Fundus zu treuen Händen an das Bürgerzentrum. Zur juristischen Absicherung wurden sogenannte Vorlassverträge abgeschlossen. Das Schwierige bei der Erfassung sei auch, mit der rasanten technologischen Entwicklung Schritt zu halten, sagt Ute Weber. Eine Digitalisierung sämtlicher Dokumente sei unumgänglich. Ihr großer Traum zudem: Eine Online-Vernetzung sämtlicher Geschichtswerkstätten und Veedelsarchive im Kölner Norden. Doch bis es so weit sei, würden wohl noch zehn Jahre ins Land gehen, glaubt Weber.