Eine 24-jährige Frau wird 1989 in ihrer Wohnung in Sülz erschlagen. Erst jetzt erfahren die Eltern und der Bruder von ihrem Doppelleben.
Cold Cases KölnDer Fall Petra Nell – tödliches Geheimnis und ein Mord in Sülz
Dass mit seiner Schwester Petra irgendetwas nicht stimmt, dass sie beunruhigt war, niedergeschlagen wirkte, in sich gekehrt – das hat Reiner Nell schon im August gemerkt. Die Familie feierte Petras 24. Geburtstag. „Sie war durch, es ging ihr richtig schlecht“, erinnert sich ihr Bruder heute an den Sommertag im Jahr 1989. Das war extrem ungewöhnlich. „Sie war sonst immer für alle der Sunshine“, sagt Reiner Nell. „Aber sie wollte nicht erzählen, was los ist.“
Elf Wochen später, am Vormittag des 24. Oktober 1989, klingelt Nells Telefon, seine Mutter ist dran: „Kannst du vorbeikommen?“, fragt sie. „Die Polizei war hier, Petra ist tot.“ Reiner Nell glaubt nicht, was er da hört, er geht erst einmal fünf Runden um den Block. „Da rutscht dir der Boden weg, das musst du erstmal klar kriegen im Kopf.“ Dann fährt er zu seinen Eltern.
Petra Nell jobbte in Diskotheken und genoss ihr Leben
In den nächsten Stunden und Tagen wird er noch viel mehr erfahren, das er nie für möglich gehalten hätte. Seine Schwester Petra wurde ermordet. Petra, der Sonnenschein. Das Feierbiest, das die Nächte aufgestylt in Kölner Clubs verbrachte. Petra, die nie Lust hatte auf ein trockenes Studium und stattdessen nach der Mittleren Reife auf der Gesamtschule Zollstock lieber als Kellnerin in Diskotheken jobbte und das Leben genoss.
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An diesen alten Fällen arbeitet die Kölner Polizei
Das jedenfalls hatte sie Ralf und ihren Eltern erzählt – die Mutter Hausfrau, der Vater baute Küchen ein. Tatsächlich aber führte die 24-Jährige ein zweites Leben. Ein heimliches. Eines, von dem nur ein paar enge Freundinnen und ihre Tante in Zollstock wussten.
Petra Nell arbeitete Ende der 80er Jahre in Köln als Prostituierte. In Zeitungen inserierte sie als Mannequin, Fotomodell oder Callgirl. Ihre Freier empfing sie in einem Appartement auf der Nikolausstraße in Sülz.
Nach ihrem Tod quälte sich Reiner Nell jahrzehntelang mit der Frage: „Warum hat sie sich mir nie anvertraut? Ich hätte sie da rausgeholt.“ Wäre seine Schwester dann vielleicht noch am Leben? Der 61-jährige Grafikdesigner sitzt in einem Restaurant, vor sich eine Tasse Kaffee. „Heute hadere ich nicht mehr“, sagt er. „Du kannst dir einfach nicht 33 Jahre lang dieselbe Frage stellen. Das frisst dich sonst auf.“
Polizeipräsidium in Kalk, dritte Etage. In einem Eckbüro mit Blick auf die Lanxess-Arena arbeitet Markus Weber von der Mordkommission Köln, zuständig für ungelöste Fälle, so genannte Cold Cases. Den Mordfall Petra Nell führt die Staatsanwaltschaft unter dem Aktenzeichen 90 JS 237/91. Die Vermutung, dass die Tat etwas mit dem Rotlichtmilieu zu tun habe, der Mörder möglicherweise Petras Zuhälter war, sei naheliegend, sagt Markus Weber.
An ihrem letzten Tag, einem Dienstag, verbringt Petra Nell viel Zeit mit einer Freundin, die ebenfalls als Prostituierte arbeitet. Die beiden treffen sich mittags auf der Ehrenstraße. Dem „Express“ sagte die heute fast 60 Jahre alte Frau einmal, Petra sei häufig traurig gewesen. „Sie hatte ein schlechtes Gewissen den Eltern gegenüber, die das alles nicht wussten.“
Petra Nell wollte offenbar aus der Prostitution aussteigen
An jenem Dienstag habe Petra seltsam gewirkt. Sie habe beiläufig Todesandeutungen gemacht und von ihrer eigenen Beerdigung gesprochen. Die Freundin merkte, „dass sie eine riesige Angst hatte“. Aber wovor? Petra ging nicht ins Detail, sagte nur: „Wenn ich es dir sage, ziehe ich dich in etwas rein, das für dich gefährlich ist.“
Wie sich nach ihrem Tod herausstellte, wollte Petra offenbar aus der Prostitution aussteigen, sie hatte schon Annoncen in der Zeitung gekündigt. Ihre Tante in Zollstock wollte ihr und ihrem neuen Freund eine Wohnung vermitteln. Passte das jemandem in der Szene nicht? Gab es einen Zuhälter, der sie zwingen wollte, im Geschäft zu bleiben? Ist dieser Mann ihr Mörder?
Der letzte, der Petra Nell gegen 17 Uhr lebend sieht, ist ein Nachbar in Sülz. Danach telefoniert sie noch mit einer weiteren Freundin, sagt, sie erwarte gleich einen Freier. Um 19.30 Uhr betritt ein fremder Mann das Wohnhaus und fragt eine Mieterin, ob sie Frau Klein sei. Dieser Name ist Nells Pseudonym, er steht unten an der Klingel. Ob der Mann auch Nells Wohnung betritt, ob er der erwartete Freier ist oder vielleicht der Täter – all das ist bis heute unklar.
Bei der Obduktion werden Schläge, Tritte und Hiebe mit einer Schere festgestellt
Nach 22 Uhr hört der Mieter, der über Nells Appartement wohnt, einen Schrei, dann ein Poltern „und ein Geräusch, als ob jemand stürzt“. Auch ein Pfeifen nimmt er wahr, doch er habe gedacht, das seien Betrunkene im Treppenhaus. Dann ist es still. Petra Nell, so rekonstruiert es später die Rechtsmedizin, starb zwischen 22 und 23 Uhr.
Ihr Freund, mit dem sie gegen 22 Uhr verabredet war, der sie aber am Telefon nicht erreicht, fährt nach Mitternacht zu ihr und findet ihre Leiche im Bad. Wer auch immer die 24-Jährige getötet hat – er war skrupellos.
Bei der Obduktion werden am Körper der Toten Schläge, Fußtritte und Hiebe mit einer Schere festgestellt. „Wir sind zwar einiges gewöhnt, aber der Tatort bereitete uns einen Anblick, der auch uns schockiert hat“, sagt ein Mordermittler Monate später in der Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“. Aber auch die Ausstrahlung des nachgestellten Films im ZDF bringt nicht den entscheidenden Hinweis.
Die Kripo hört sich vor allem im Rotlichtmilieu um, vernimmt mehr als 100 Personen. Reiner Nell aber befragen sie nicht, sagt er. Er wundert sich bis heute darüber. Überhaupt hätte sich die Kripo damals nach dem Überbringen der Todesnachricht nicht mehr bei seiner Familie gemeldet. „Ich bin deshalb nach ein paar Tagen selbst zur Polizei gegangen und sagte: Mein Name ist Nell, meine Schwester ist umgebracht worden.“
Der Beamte habe sich nur zurückgelehnt und geantwortet: „Ja, Herr Nell, Sie wissen doch, die Mädchen leben gefährlich.“ Er könne sich heute nicht mehr erinnern, wie er darauf reagiert habe, sagt Reiner Nell. „Ich habe einen Blackout, vielleicht habe ich dem den Schreibtisch abgeräumt, ich weiß es nicht mehr.“
Seinen Glauben an die Polizei, sagt der 61-Jährige, habe er damals verloren. Als er die Wohnung seiner Schwester ausräumte, habe er einen Schlüssel am Brett hängen sehen. Mit dem sei er in den Keller hinuntergestiegen und habe in einem Verschlag Tüten mit Notizbüchern von Petra, Tagebüchern und Telefonnummern samt Kürzeln gefunden.
„Die Polizei hatte drei Monate lang ihre Wohnung stillgelegt und alles durchsucht, aber niemand kam auf die Idee, mal im Keller nachzusehen.“ Die Tüten trug er selbst zur Polizei. „Da hieß es dann nur: Ja, okay, stellen Sie die da hin.“
Nach einigen Tagen rücken erste konkrete Tatverdächtige oder zumindest wahrscheinliche Mitwisser aus der damaligen Kölner Ring-Szene ins Visier der Ermittler – nachgewiesen werden konnte den Männern allerdings nichts. Niemandem von ihnen, bis heute. Aber die „Cold Case“-Ermittler lassen nicht locker. Zurzeit werden die alten Spuren vom Tatort im LKA-Labor noch einmal neu untersucht. „Unsere Hoffnung ist es, eine DNA-Spur des Täters zu kriegen“, sagt Markus Weber. Bis heute fehlt ein Badetuch aus Petra Nells Wohnung, möglicherweise hat sich der Täter damit das Blut abgewischt und es mitgenommen.
„Es muss Mitwisser geben“, ist auch Reiner Nell überzeugt. „Ich glaube sogar, eine ganze Menge. Meine Hoffnung ist, dass einer von ihnen das hier liest und sich meldet.“ Man müsse sich klarmachen, sagt Nell, dass Prostituierte bis heute Menschen Dritter Klasse seien. „Da wird offensichtlich Menschenhandel betrieben, gefoltert, geprügelt und eingesperrt – niemanden in der Gesellschaft interessiert es.“ Und es gebe keine Aussicht, dass sich daran etwas ändere.
Auch Ermittler Weber hält für denkbar, dass sich nach all der Zeit noch neue Zeugen melden. In anderen Fällen habe man das schon erlebt – zum Beispiel weil jemand kurz vor seinem Tod noch etwas loswerden wollte. „Oder weil sie zum Zeitpunkt der Tat in einem Abhängigkeitsverhältnis zu jemandem standen, heute aber nicht mehr, und jetzt frei reden können“, sagt Weber.
An diesen alten Fällen arbeitet die Kölner Polizei
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ stellt ungelöste Kölner Mordfälle aus den vergangenen 33 Jahren vor. Die Folgen erscheinen samstags und donnerstags in der Zeitung. Online sind die ersten vier Folgen schon jetzt abrufbar unter ksta.de/coldcases. Weitere Folgen erscheinen in den kommenden Wochen.
Zeuginnen und Zeugen, die Angaben zur Tat, zum Täter oder zur Täterin machen können, werden gebeten, sich bei der Polizei Köln zu melden – entweder telefonisch unter 0221/229-0, per E-Mail an poststelle.koeln@polizei.nrw.de oder auf einer Polizeiwache.