Mit 98 Jahren wird Helmut Hahn in seiner Wohnung umgebracht. Seit fast sieben Jahren fehlt von den Tätern jede Spur.
Cold Cases KölnDas Rätsel um den toten Rentner aus Dellbrück
Einige Monate vor seinem Tod klatscht Helmut Hahn sanft in die Innenflächen seiner Hände, um die Tauben aus seinem Garten zu vertreiben. Ein paar leise Knallgeräusche, die schreckhaften Vögel fliegen davon und Helmut Hahn hat wieder seine Ruhe. Eine Stunde später entdeckt er Blutergüsse an seinen Händen, mehrere Finger sind komplett blau. Vom Klatschen, glaubt Hahn, der seit einem Schlaganfall seit einiger Zeit starke Blutverdünner nimmt, damit ihn sein 98-jähriges Herz noch eine Weile am Leben hält.
Blutergüsse hat die Gerichtsmedizin im Mai 2016 auch am Oberkörper seiner Leiche entdeckt. Trotzdem, vielleicht aus Selbstschutz, weil die Täter womöglich nie gefunden werden, vielleicht einfach nur, um sich irgendeinen Reim zu machen, irgendeine Erklärung haben zu wollen, hält Helmut Hahns Sohn es heute für möglich, dass der Mord, für den die ganze Kölner Polizei den Tod seines Vaters hält, gar keiner war.
An diesen alten Fällen arbeitet die Kölner Polizei
„Ich bin mir da nicht so sicher“, sagt Hahns Sohn, der ebenfalls Helmut heißt. „Niemand hätte einen Grund gehabt, meinen Vater umzubringen. Es wurde nichts gestohlen, keine Wertsachen, kein Schmuck, kein einziger Euro, einfach nichts.“
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Kölner Cold Case: Helmut Hahn seit fast sieben Jahren ungeklärt
Helmut Hahn senior stirbt in seiner eigenen Wohnung an jenem Nachmittag des 9. Mai 2016, im Erdgeschoss eines Reihenmehrfamilienhauses auf der Dellbrücker Hauptstraße. Sein Sohn, der zwei Etagen darüber seine Rechtsanwaltskanzlei hat, findet ihn wenige Meter hinter der Wohnungstür leblos auf dem Küchenboden liegend. Er wählt den Notruf des Rettungsdienstes, wo sie ihm eine Herzdruckmassage anleiten, in der Hoffnung, dass der 98-jährige wiederbelebt wird. Eine knappe Viertelstunde lang drückt der Sohn auf den Brustkorb seines Vaters, bis der Notarzt eintrifft.
War es die Herzdruckmassage, die jene „Gewalteinwirkung gegen den Oberkörper“ verursacht hat, die die Rechtsmedizin bei der Obduktion feststellte? Für Helmut Hahn junior ist das durchaus denkbar. „Ich habe keine andere Erklärung. Mein Vater hat nie jemandem die Tür geöffnet, den er nicht kannte“, sagt er im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Einbruchsspuren an den Türen gibt es nicht. Die Ermittler aber zweifeln nicht an den Erkenntnissen der Gerichtsmedizin. „Wir sind uns sehr sicher, dass Helmut Hahn umgebracht wurde“, sagt Markus Weber, Leiter der Cold-Case-Einheit der Kölner Polizei. Die Hämatome seien zu nah am Hals entdeckt worden, als dass sie durch die Wiederbelebungsmaßnahmen erklärt werden könnten.
Für die Ermittler der „MK Dellbrück“ könnte die Rekonstruktion jenes frühsommerlich heißen Montags, an dem Helmut Hahn starb, der Schlüssel zur Aufklärung des Falls sein. Der Rentner und sein Sohn hatten eine feste Morgenroutine, die womöglich auch die Täter gekannt haben könnten. Jeden Morgen um kurz nach sieben Uhr kam Hahn junior zu seinem Vater, half ihm, aus dem Bett und in die Kleider zu kommen, in den Tag zu starten. Seitdem Helmut Hahn senior vor einigen Jahren mehrmals wegen eines Hautkrebskarzinoms am Kopf operiert worden war, brauchte die Wunde eine Behandlung mit einer medizinischen Salbe, die ihm sein Sohn jeden Tag auf den Hinterkopf auftrug.
Mordfall in Köln-Dellbrück: Täter bis heute nicht gefunden
Hahn lässt seinen Vater an Morgen des 9. Mai 2016 wie üblich kurz allein, um Brötchen für ihn zu holen. Er hat noch einen Termin zur Blutabnahme beim Arzt, nimmt für seinen Vater Rezepte mit und bringt sie ihm ins Haus, wo der Vater gerade im Wohnzimmer sitzt. Nach dem Frühstück dreht der Rentner um kurz nach 9 Uhr seine übliche Runde durch Dellbrück. Erst zur Apotheke, anschließend zur Postbank, über den Kemperbach zum alten Dellbrücker Friedhof hinter St. Josef zum Grab seiner 2002 verstorbenen Ehefrau und über die Strundener Straße zurück zu seiner Wohnung in der Dellbrücker Hauptstraße.
Hahn nimmt sich mit seinem Gehstock wie jeden Morgen genug Zeit für die nur wenige hundert Meter lange Runde. Vermutlich irgendwann am Vormittag kehrt Hahn in seine Wohnung zurück, legt seinen Hut ab und zieht seine beigefarbene Weste aus. Wenig später ist er tot. Er hinterlässt vier Kinder, sieben Enkel und acht Urenkel.
Wie genau Helmut Hahn im Alter von 98 Jahren gestorben ist, ist bis heute unklar. Der Tod gibt den Hinterbliebenen und den Ermittlern Rätsel auf. Wer könnte ein Motiv gehabt haben, den Rentner umzubringen, ein gutes Jahr vor seinem 100. Geburtstag, den er groß gemeinsam mit dem Abi seines Enkels feiern wollte? Ist ihm jemand bis in die Wohnung gefolgt?
„Er sah aus, als sei er gestürzt“, sagt der Sohn des Verstorbenen. Es sei schon mal vorgekommen, dass sein Vater wenig getrunken habe. Für diesen schwülen Sommertag vielleicht zu wenig? Ist Helmut Hahn irgendwann dehydriert und erschöpft umgekippt?
„Sein Gleichgewichtssinn hatte auch schon länger stark nachgelassen“, sagt sein Sohn, der bezweifelt, dass sein Vater ausgeraubt wurde. „Wir haben sehr akribisch nachgeschaut, was fehlt. Es wurde nichts gestohlen“, sagt er. Die Ermittler aber halten es für möglich, dass jemand Geld oder andere Wertsachen bei Hahn vermutet und womöglich gefunden hat. „Vielleicht hat ihn jemand bei der Bank gesehen und ist ihm unauffällig gefolgt“, sagt Weber. Es habe Anzeichen gegeben, dass die Wohnung durchsucht wurde.
Hahn junior sagt, sein Vater habe manchmal das Fenster im Bad versehentlich offen gelassen oder die Gartentür nicht abgeschlossen. Durch den Garten käme man vor das Tor einer Tankstelle, über das jemand geklettert sein könnte. Von der Polizei als glaubwürdig eingestufte Zeugen wollen gesehen haben, wie zwei Männer mutmaßlich kurz nach der Tat das Haus durch den Vordereingang verlassen.
Es ist ein kühler Vormittag Anfang Juni, wenige Wochen nach der Tat, als Weber und Kolleginnen und Kollegen der Mordkommission in Dellbrück Fahndungsplakate mit den Phantombildern der beiden verteilen, in Schaufenster hängen, um potenzielle Zeugen zu finden.
In einem Kiosk liegen ein paar gedruckte Exemplare des „Express“ in der Auslage. Auf der Titelseite die große Optik: „23 Mann. Ein Ziel.“ mit dem gerade veröffentlichten Kader für die Fußball-EM. Schweinsteiger mit der 7, Podolski mit der 10, Gomez mit der 23, und darüber ein Zitat Mesut Özils: „Wir wollen den Pokal“. Auch der Betreiber dieses Büdchens hängt das Fahndungsplakat auf, ebenso Apotheken und Bankfilialen. Gefunden werden die Männer bis heute nicht.
An der Tankstelle nebenan wird am Vormittag, als Helmut Hahn stirbt, mit einem Hochdruckreiniger gearbeitet, der einigen Lärm verursacht. „Sonst habe ich nichts gehört“, sagt Sohn Helmut Hahn. Er arbeitet im ersten Stock. Mittags verlässt er die Kanzlei zur Pause, reicht im Büdchen einen Lottoschein ein, holt Kontoauszüge bei der Bank ab, isst sein Butterbrot und kehrt zurück an seinen Arbeitsplatz. An diesem Montag macht er gegen 16.30 Uhr, ein bisschen früher als üblich frei, um seinen Vater zu besuchen.
Er steigt die Treppe herunter und findet seinen Vater auf dem Bauch liegend, den Kopf etwas nach hinten gelehnt leblos vor dem Küchenschrank. Für die Reanimation legt er seinen Vater auf den Rücken. Der Notarzt kann nur noch den Tod feststellen. Am frühen Abend wird der Leichnam des Rentners abtransportiert, zwei Tage später die Obduktion veranlasst. Die Polizei hat schon früh erste Hinweise auf ein Tötungsdelikt.
11.500 Euro Belohnung im Cold Case Helmut Hahn
Als Dreijähriger war Hahn – geboren 1917 in Istanbul – kurz nach dem Ersten Weltkrieg aus dem untergehenden osmanischen Reich vertrieben, verbrachte als Kleinkind einige Monate im Mittelmeer auf einem Schiff voller Flüchtlinge, die lange kein Staat aufnehmen wollte. Kurz bevor er an die Front des Zweiten Weltkriegs musste, heiratete er seine Ehefrau, sein Elternhaus in Nürnberg wurde von den Bomben der Alliierten zerstört.
Nach dem Krieg kam er nach Köln, zog nach Deutz, Ende der 1950er nach Dellbrück. Weil er selbst mal einer war, setzte sich Hahn bis zu seinem Tod für Flüchtlingen ein, für eine Willkommenskultur und half, wenn er konnte. Auch dass Kriminelle seine Gutgläubigkeit ausnutzten, sich als Hilfsbedürftige ausgaben, wäre eine mögliche Erklärung für seinen Tod. Eine von vielen.
Alles Nachdenken über die Todesumstände sind Spekulationen, auch heute, fast sieben Jahre danach, ist so vieles unklar. 11.500 Euro Belohnung hat die Familie für sachdienliche Hinweise ausgesetzt. „Wir möchten Klarheit, kein Mitleid“, sagt Hahn, der nicht mehr die Erwartung hat, dass es zu einem abschließenden Ermittlungsergebnis kommt.
Wenn das Rätsel aber eines Tages aufgelöst würde, wäre es ein Abschluss. Aber selbst wenn nicht, sagt Hahn, müsse man irgendwann mit den Dingen seinen Frieden finden. Sonst werde man ja wahnsinnig.
An diesen alten Fällen arbeitet die Kölner Polizei
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ stellt ungelöste Kölner Mordfälle aus den vergangenen 33 Jahren vor. Die Folgen erscheinen samstags und donnerstags in der Zeitung. Online sind die ersten vier Folgen schon jetzt abrufbar unter ksta.de/coldcases. Weitere Folgen erscheinen in den kommenden Wochen.
Zeuginnen und Zeugen, die Angaben zur Tat, zum Täter oder zur Täterin machen können, werden gebeten, sich bei der Polizei Köln zu melden – entweder telefonisch unter 0221/229-0, per E-Mail an poststelle.koeln@polizei.nrw.de oder auf einer Polizeiwache.