Der menschliche Körper als Ort des Begehrens

Einerseits klar, andererseits diffus: Wer Georg Sieps „Farborganismen” betrachtet, entdeckt fremde und vertraute Körperformen.
Copyright: Kisters
Vingst – Es gibt Formen des Lebens, die erscheinen gleichzeitig fremd und vertraut. Da ein derart ambivalentes Empfinden im Alltag eher hinderlich ist, leben wir die meiste Zeit in einem Bewusstsein, die Dinge unserer Umgebung genau zu kennen. Allerdings können Kunstwerke uns leicht das Gegenteil vor Augen führen, wie die Bilder von Georg Siep, ausgestellt in der Kirche St. Theodor, zeigen.
Über ein Dutzend sogenannte „Farborganismen“ präsentiert der Künstler (Jahrgang 1962) auf großen Leinwänden. Auf den ersten Blick erscheinen sie abstrakt und namenlos, um bei näherer und längerer Betrachtung immer mehr an Kontur zu gewinnen.
Aus vielfarbig ineinander verschobenen Formgebilden wachsen Wolkenphantasien in ihrem Himmelsflug, aus rätselhaften braunen Farbwucherungen menschliche Leibperspektiven. Hier ist es das Gefühl, auf die Muskeln und Sehnen im Innern eines Körpers zu schauen. Dort wird die Gestalt einer hockenden Frau sichtbar. Wie kann es sein, dass zahlreiche rötliche Schemen gleichermaßen wie herabfallende Tränen und im Raum verlorene Menschenkörper erscheinen können? Und bei einem anderen Bild fragt man sich, warum die fließend weiche gelbe Form nicht nur ein kurioser Einfall, sondern zugleich ein Element der Hoffnung auf ungeahnte Möglichkeiten ist.

Einerseits klar, andererseits diffus: Wer Georg Sieps „Farborganismen” betrachtet, entdeckt fremde und vertraute Körperformen.
Copyright: Repro: Kisters
Eine zusätzliche Dimension gewinnen die Gemälde aus dem Wechselspiel von Nah- und Fernsicht. Ganz nah erhalten die Farben eine bisweilen diffuse Kraft von größter körperlicher Nähe. Von weitem betrachtet, gewinnt das gleiche Bild eine nicht für möglich gehaltene Plastizität und Klarheit.
Zweifellos ist der menschliche Körper als Ort des Begehrens und der Verletzlichkeit das zentrale Thema in Sieps Malerei. Dargestellt in wechselnden Zuständen von Deutlichkeit und Vagheit, Präsenz und Zurückhaltung. Die darin enthaltene Erkenntnis lautet: Ein Mensch ist keineswegs eine sichere Angelegenheit, sondern unaufhörlich gefährdet in seiner körperlichen und seelischen Ganzheit.
Das andere Thema des gebürtigen Kölners sind malerische Gestalten, in denen die Malerei über den Menschen hinaus geht und seine Beziehung zum Formenkreis der alles umspannenden Natur darstellt, die unaufhörlich in Bewegung und Verwandlung ist. Der Maler erweist sich gleichermaßen als Erforscher der bestehenden Wirklichkeit und als Schöpfer neuer Elemente darin. So wie es ihn erstaunt, dass man Dinge malen kann, die zu erklären mit Worten nicht möglich sind, erstaunt es uns als Betrachter, dass man vor Bildern verweilt, die man einfach nicht in den Griff bekommt. Bis zuletzt unklar bleibt die geheimnisvolle Beziehung von Fremdheit und Vertrautheit. Ist es das Vertraute, das uns bezaubert, und das Fremde, das uns herausfordert? Oder ist es genau umgekehrt, indem das Fremde uns bezaubert und das Vertraute uns herausfordert? Sich mit dem vertrackten Wechselverhältnis von beiden zu beschäftigen, lässt uns nicht nur Sieps Malerei, sondern auch uns selbst und ganz grundsätzlich das Leben besser verstehen.
St. Theodor, Burgstraße 42, geöffnet So 12-13 Uhr, bis 22. September