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Die Blicke der anderenMit einer kleinwüchsigen Kölnerin durch die Stadt

Lesezeit 6 Minuten

Sitzt an einer U-Bahn-Haltestelle: Laura Beckmann

  1. „Ich bin außerhalb der Norm, aber sehr normal“, sagt Laura Beckmann.
  2. Ein Spaziergang durch Köln mit der kleinwüchsigen Abiturientin.

Köln – Die durchschnittliche Körpergröße einer deutschen Frau beträgt 1,64 Meter. Laura Beckmann ist 32 Zentimeter davon entfernt. 32 Zentimeter, die die 20-jährige Kölnerin von der normierten Welt trennen – und ihrer Definition davon, normal zu sein. Die ihr überall Blicke einbringen – die sie spüren lassen, dass ihr Körper nicht auf Maß ist. Die ihr Probleme beim Einsteigen in den Zug bereiten – da der Abstand zwischen Gleis und Wagentreppe zu groß ist. Ellenbogen und Rücksäcke im Gesicht gehören zu ihrem Alltag wie die Tatsache, stets aus der Masse herauszustechen und beweisen zu müssen, dass Körpergröße und Können nicht korrelieren – „Das nervt“, bringt die schlagfertige Abiturientin aber schon lange nicht mehr aus dem Gleichgewicht.

„Meine Körpergröße bestimmt nicht mein Leben, ich jogge, gehe ins Fitness-Studio, spiele Badminton, reise, jobbe, um mein Studium zu finanzieren.“ Und sie besucht Discos. Wo sie gelernt hat, sich nicht darüber aufzuregen, dass sie für Selbstverständliches gelobt wird – „Toll, dass du trotzdem mitfeierst!“ Wo sie trainiert hat, unauffällig auf Barhocker zu klettern – und in der Menge zu tanzen, ohne von ihr verschluckt zu werden. Holzkisten, Hocker, höfliche Menschen – „Hilfestellungen finden sich fast überall, wenn man fragt.“Während Laura Beckmann am Gleis des Hauptbahnhofes auf Zehenspitzen stehend den Wagenstandsanzeiger studiert, erzählt sie von ihrer Devise, sich statt auf die Barrieren, Benachteiligungen und Befangenheiten, die ihr im Alltag begegnen, auf die Vorteile zu konzentrieren, die ihre 1,32 Meter Körpergröße mit sich bringen. Das ständige Ringen um Normalität strengt an.

Laura Beckmann checkt am Gleis des Hauptbahnhofes auf Zehenspitzen den Wagenstandsanzeiger.

Laura Beckmann legt den Fokus auf die Vorteile

Beispiel Shoppen: Zwar könnte sie sich permanent darüber echauffieren, dass es kaum kleine Schuhe für Erwachsene gibt. Sie lenkt ihren Fokus lieber darauf, sich zu freuen, dass sie zum gleichen Preis, den ihre großen Freunde für ein Paar Markensneakers zahlen, drei Paar bekommt – weil Kinderschuhe günstiger sind. Dass sie in Menschenmengen schneller zum Ziel kommt – unter den Armen der anderen hindurch. Dass sie zu Kindern einen außergewöhnlich guten Draht hat – weil sie ihnen auf Augenhöhe begegnet. Was ihr die Berufsentscheidung erleichterte: Irgendwas mit Kindern muss es sein!

„Dass wir, wie alle, die von der Norm abweichen, zu kurz, zu dick sind, im Rollstuhl sitzen oder nur ein Bein haben, in unserem Land die Aufmerksamkeit auf uns lenken, als fremd oder freakig begutachtet werden, das können wir nicht beeinflussen. Aber wir können klarmachen, dass wir die gleichen Möglichkeiten haben.“ Laura Beckmann lamentiert nicht, sie lebt. In ihrem Tempo: „Wenn die Großen einen Schritt machen, mache ich drei, das hält mich fit.“ Mit der Mission: „Klarzumachen, wie normal es ist, anders zu sein!“ Und mit ihrer forschen Art: „Dafür muss man öfter mal vorlaut sein!“

Kleidung von der Stange? Noch nicht in Sicht

Alles ist relativ, auch die Körpergröße: Mit der Diagnose „Hypochondroplasie“ zählt Laura Beckmann zu den „Normalen“ unter den Kleinwüchsigen. Denn diese Variante ist eine der häufigsten des genetisch bedingten Kleinwuchses, kommt bei jedem 30 000. Neugeborenen vor, Lebenserwartung und Intelligenz sind nicht beeinträchtigt. Eine vererbte oder auch neu entwickelte Genmutation stört die Entwicklung von Knorpel und Knochen, was zu einem disproportionalem Wachstum der Körperteile führt, die Glieder im Verhältnis zum Rumpf zu kurz geraten lässt. Verkürzte Arme und Beine, kräftige Knie, Waden und ein Hohlkreuz – auf diese Proportionen ist die Welt nicht eingestellt. Auch in so vermeintlich profanen Dingen wie der Mode nicht. Kleidung von der Stange? Noch nicht in Sicht.

Für die Modeindustrie ist die relativ kleine Käufergruppe der Kleinwüchsigen nicht lukrativ genug. Für viele Betroffene kommt das Shoppen einem Spießrutenlauf durch Kinderabteilungen gleich – plus anschließendem Gang zum Maßschneider. Was aufwendig, zeitraubend und teuer ist.Die Berliner Mode-Designerin Sema Gedik wollte diese Alltagsdiskriminierung nicht länger hinnehmen und setzte sich zum Ziel, über Design gleichberechtigte Teilhabe Kleinwüchsiger an der Mode-Welt voranzutreiben. Sie entwickelte Normgrößen und gründete das weltweit erste Label für diese Kundengruppe: „Auf Augenhöhe“ – ein Begriff, der die Grundsehnsucht eines jeden Betroffenen spiegelt. „Mode ist beides“, sagt Laura Beckmann, „ein Zeichen für gesellschaftliche Zugehörigkeit und Ausdruck von Individualität.“

Einzigartigkeit und Verschiedenheit sind zwei Themen, auf die die angehende Heilpädagogik-Studentin während des Spaziergangs durch Köln immer wieder zu sprechen kommt. „Was den meisten Normalgroßen nicht klar ist: Wir sind genauso verschieden wie sie.“ Genauso solidarisch. Genauso streitbar. Etwa wenn es um die „Knochenverlängerung“ geht. Ohne den medizinischen Eingriff, für den sich Laura Beckmann als sie elf Jahre alt war gemeinsam mit ihren Eltern entschied, wäre sie heute 1,23 statt 1,32 Meter groß. „Zehn Zentimeter, die mir das Leben erleichtern“, sagt sie. Eingeschlafene, schmerzende Füße gehören der Vergangenheit an, seitdem sie auf Stühlen sitzend mit den Füßen auf den Boden kommt – Außer an U-Bahn-Haltestellen. „Generell hat die KVB in Sachen Barrierefreiheit Nachholbedarf.“

Sitzt an einer U-Bahn-Haltestelle: Laura Beckmann

Bei der „Gliedmaßenverlängerung“ haben die Ärzte Lauras Unterschenkelknochen durchtrennt und mit einem Fixateur stabilisiert, der die Knochenteile pro Tag rund einen Millimeter voneinander entfernt. „Ich hätte auch die Oberschenkel und Arme verlängern lassen können, aber ich wollte etwas von dem Körper behalten, mit dem ich auf die Welt kam.“ Nicht alle Kleinwüchsigen heißen die künstlich gewonnenen Zentimeter Körpergröße gut. „Die einen sehen eine Verlängerung als Hilfsmittel, das ihnen einen barrierefreien Zugang zu Automaten und einem stigmafreieren Alltag ermöglicht, andere fragen sich: »Warum sollen wir uns der Gesellschaft anpassen, wenn das erklärte Ziel von Inklusion ist, dass sich die Gesellschaft auf die Vielfalt ihrer Mitglieder einstellt?«“, sagt Michel Arriens. Der Sprecher des Bundesverbands Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e.V. (BKMF) betont, dass sich der Verein, dem auch Laura seit Kindheitstagen angehört, in dieser Frage als neutrale Instanz versteht. „Wir möchten die Entscheidung für oder gegen eine Verlängerung nicht beeinflussen, wir klären über Vor- und Nachteile auf und vermitteln Experten.“

Die Bedienung eines Automaten ist mit den gewonnen Zentimetern für Laura möglich.

Neben ihrer Familie und ihren Freunden war es vor allem der BKMF, der Laura in einer Zeit stärkte, in der sie sich mehr als ein Mal wünschte, einen halben Meter größer zu sein. „Als Kind wollte ich nie zu den Treffen, da ich nicht gespürt habe, dass ich anders bin.“ Doch in der Pubertät konnte sie nicht mehr mithalten mit den an Zero-Size-Models orientierten Ansprüchen ihrer Gleichaltrigen. „Ich empfand mich als von allen anderen verschieden, war verunsichert und fühlte mich in jeder Hinsicht klein.“ Also beschloss Laura mit 14 Jahren, wieder an BKMF-Treffen teilzunehmen und Freundschaften mit Kleinwüchsigen zu schließen – was ihr dabei half, Selbstwert und Selbstständigkeit zu gewinnen. „In einer Gruppe aufzutreten, die Blicke auf sich zieht, fällt leichter, als alleine im Fokus zu stehen.“

Würde Laura Beckmann trotz aller gewonnenen Souveränität in diesem Moment auf der Schildergasse einer guten Fee begegnen, wünschte sie sich zweierlei: Sich so bewegen zu können wie in Amsterdam – „Keine drei Stunden entfernt, und niemand starrt mich an.“ Und mehr Schauspieler oder Nachrichtensprecher in Film und TV zu sehen, die im Rollstuhl sitzen, nur einen Arm haben oder 1,30 Meter groß sind, wäre ein großer Wunsch – „Dann würden die Menschen vielleicht schneller kapieren, dass außerhalb der Norm zu sein, sehr normal ist.“