Ein Kölner ist ins Krisengebiet gereist, weil er sich nicht auf staatliche Hilfe verlassen wollte, um seine Familie zu finden.
„Mit bloßen Händen“Kölner reist ins Katastrophengebiet und rettet Nichten aus Trümmern
Bei Minustemperaturen gräbt ein Mann mit bloßen Händen in den Trümmern, die die Erdbeben in der Türkei hinterlassen haben. Seine Familie in Antakya wird vermisst. Am Dienstag hat er seine beiden Nichten und seinen toten Bruder gefunden. So erzählt es sein Freund, Ilias Uyar.
Das Internet- und Telefonnetz in der Region ist überlastet und fällt ständig aus. Sporadisch erfährt Uyar über Familienangehörige Neuigkeiten von seinem Freund. Die beiden stammen aus der Nähe von Antakya, leben aber mittlerweile in Köln.
Menschen sterben nach Rettung aus Trümmern
Als das Erdbeben Antakya trifft, reist sein Freund direkt ins Krisengebiet. Denn von seiner Familie hört er nichts. Er nimmt die schwere Reise aber auch auf sich, weil er keine ausreichende Krisenhilfe vom Staat erwartet. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte am Mittwoch eingeräumt, dass es nach dem Beben zumindest Anlaufschwierigkeiten bei den Rettungsarbeiten gab. Seit dem zweiten Tag sei die Situation jedoch unter Kontrolle.
Das sieht Uyar, wie viele Betroffene, anders: „Es gibt keine Materialien, keine Maschinen. Menschen sterben, nachdem sie aus den Trümmern gerettet wurden, weil es nicht genügend Versorgung gibt. Es geht darum, den Opfern zu helfen und nicht darum, ein gutes Bild abzugeben.“ Er nennt die Twitter-Sperre als Beispiel, die während Erdoğans Besuch im Katastrophengebiet verhängt wurde.
Zerstörte Gebäude wurden als erdbebensicher beworben
Der Rechtsanwalt war 1999 Praktikant einer Menschenrechtsorganisation in Istanbul, als das letzte große Beben das Land erschütterte. Uyar wirft der Regierung vor, es seitdem nicht geschafft zu haben, sich auf zukünftige Katastrophen vorzubereiten.
„Das Staatskrankenhaus Antakya wurde erst vor wenigen Jahren gebaut. Jetzt liegt es in Trümmern“, sagt Uyar. Von Neubauten, die als erdbebensicher beworben wurden, bleiben nur Schutt und Asche über. „Die Bauunternehmer, mit Nähe zum Präsidenten, haben sich die Aufträge nur gegenseitig zu geschustert.“ Die Istanbuler Bauingenieurskammer teilt den Vorwurf. Demnach hätten Architekten, Bauunternehmen und andere Verantwortliche häufig „ethische Prinzipien und moralische Werte“ ignoriert und von Profitgier getrieben gehandelt.
Uyars Verzweiflung wächst mit dem Wissen, dass die Katastrophe vorhersehbar war: „Man wusste, dass Erdbeben kommen. Seismologen haben davor gewarnt.“ Das Erdbeben-Risiko ist in der gesamten Region sehr hoch, weil dort sich ständig bewegende Kontinentalplatten aneinander liegen. Die Todesrate bei Erdbeben ist in der Türkei so hoch wie in keinem anderen Land der Welt. Das sagt der Seismologe Naci Görür am Donnerstagabend im türkischen Fernsehen.
Die Vorbereitungen für weitere Katastrophen waren also scheinbar unzureichend. Das wusste auch Uyars Freund, weshalb er selbst ins Krisengebiet reiste. (mit dpa)