Erinnerung an Baha Güngör„Hey Deutschland, wir müssen reden. Dringend.“
- Baha Güngör war der erste türkische Zeitungsvolontär in Deutschland.
- Klischees und Rassismus begleiteten ihn bis zuletzt.
- Erinnerungen an einen leidenschaftlichen und durch und durch kölschen Kämpfer für Integration.
Baha Güngörs Facebook-Eintrag vom 2. September 2018 lautete: „Sprachlos. Wortlos. Wunschlos glücklich. Da fühlst du dich einmal schlapp und gehst nicht einmal in der Kneipe gucken, machen die Jungs so’n Spektakel. Super.“ Der 1. FC Köln hatte 5:3 in St. Pauli gewonnen. Güngör, FC-Dauerkarte in guten wie in schlechten Zeiten, war selig. Warum er sich so schlapp fühlte, wusste er nicht, vielleicht wollte er es nicht wissen. Was es heißt, sich ausgelaugt zu fühlen, wusste er schon lange.
„Eine schöne, aber ermüdende Reise“, nannte er sein Leben in einem Radiointerview im Sommer 2018. Er meinte seine ewige Reise zwischen Deutschland und der Türkei, samt aller Vorurteile und Klischees, die sich wie von Geisterhand immer wieder im Rucksack fanden, so oft er sie auch hinauswarf.
Baha Güngör war einer der ersten „Quotentürken“, von denen der Kölner Musiker Eko Fresh in einem Lied rappt: Ein vorbildlich integrierter „Türke“, der in Deutschland Karriere machte – und automatisch Experte für deutsch-türkische Themen war, weil immer die gleichen gefragt werden, wenn es um Özil oder Erdogan geht.
Am 13. September hatte Güngör vermeintlich Klarheit über die Ursache seiner Müdigkeit. Auf Facebook schrieb er: „Nach einigen gesundheitlichen Rückschlägen hat mich nun eine dicke fette Lungenentzündung endgültig geschultert. Bis Erdoğans Deutschland-Besuch werde ich nicht wieder auf den Beinen sein, wenn ich nicht die vollständige Genesung gefährden soll.“
Einen Tag später begab er sich nochmal in die Klinik, um seine Lunge durchleuchten zu lassen.
Seine Gesundheit hatte Güngör immer eher vernachlässigt: gut und reichlich gegessen und getrunken. Zigaretten: gerne und viele. Schlaf: eher wenig. Stress: viel. Sport: gern – aber bitte im Fernsehen oder im Stadion. Arztbesuche: lieber nicht.
Geraucht hat Güngör schon, als er in Aachen BWL studierte, bevor die „Kölnische Rundschau“ ihn als Zeitungsvolontär einstellte – er gilt als erster türkischstämmiger Redakteur, der in Deutschland ausgebildet wurde. Für die WAZ und später für die Nachrichtenagentur dpa berichtete er aus Ankara und Istanbul. Er wäre gern nach London oder New York gegangen, seine Fähigkeiten hätten locker ausgereicht. Er weigerte sich, nur Integrations- und Türkeiexperte zu sein – und wurde doch immer wieder darauf reduziert.
Brechen ließ er sich von den Stigmata nicht. „Baha hat aus dem doppelten Bruch seiner Identität eine doppelte Bindung gemacht, das ist ein Leistung, die nur sehr wenige vollbracht haben“, sagt Lale Akgün, die Güngör bald nach dessen Ankunft in Aachen kennenlernte. Güngörs Familie kam 1961, die Eltern waren angehende Ärzte. Akgüns Familie, ebenfalls Akademiker, kam ein Jahr später. Es lebten erst wenige Tausend türkische Staatsbürger im Land.
Die mediterrane Leichtigkeit und den Plauderton nahm er aus der Türkei, liebte gutes Essen und Trinken, Gespräche, Gesellschaft, Musik und Tanz. Pünktlichkeit, Ernsthaftigkeit, Disziplin und Zurückhaltung gelten als deutsch – Güngör war ein akribischer Rechercheur und Interviewer, arbeitete viel und machte wenig Aufhebens um seine Geschichten, in denen er jeden Plauderton vermied. Bühnen und Mikrofone mied er nicht. Beim Essen saß er gern am Kopf des Tisches.
In Köln liebte er den Karneval und verpasste kein Spiel des 1. FC. In der Türkei war er Anhänger von Besiktas und Liebhaber klassischer türkischer Musik. Am 11.11.2018 schrieb er Lale Akgün auf Whatsapp. Er höre gerade Kölsche Lieder. Und endete mit: „Dein Kölscher Jung.“
Kölschen Dialekt sprach Baha Güngör fast so gut wie Türkisch. „Nicht anjekommen, Herr Güngör, an-ge-kom-men. Wir machen Programme für Deutsche in aller Welt, nicht nur für die im Rheinland“ zitierte er am 30. August seinen Chef.
Güngör wollte keine Breaking-News verpassen
Von 1986 bis 1999 ging er beruflich in die Türkei. Der Sohn war 1982 in Bonn auf die Welt gekommen, die Tochter kam 1986 in Istanbul zur Welt. Sie erlebten einen Vater, der viel arbeitete, aber auch viel Zeit mit den Kindern verbrachte.
Am Wochenende legte er sieben oder acht Zeitungen auf dem Wohnzimmertisch aus und las sie der Reihe nach, die Kinder sollten in Fernsehen und Radio stündlich die Nachrichten checken – Güngör wollte keine Breaking-News verpassen.
Güngör kam aus einer wohlhabenden Familie, Vater und Großvater hatten Ländereien, brachten aber fast alles durch. Sparen war auch seine Stärke nicht. „Ich müsste Häuser und Rücklagen haben, so viel, wie ich verdient habe“, sagte er seiner Kindheitsfreundin Lale. „Du weißt selbst, warum Du sie nicht hast“, sagte sie. Ein Lebemann war er, Geld zum Ausgeben da.
Seine Ehe scheiterte mit Anfang 50, doch in seinen letzten Wochen war die Familie, einschließlich der Ex-Frau, bei ihm.
Am 1. September schrieb Güngör auf Facebook: „Sobald ich fertig bin (mit seinem Buch, die Red.), werde ich für eine Woche nach Istanbul fliehen. Brauche Abstand zu Deutschland.“
Am 14. September erfuhr Baha Güngör beim Radiologen die Diagnose: Lungenkrebs, nichts mehr zu machen. Wie paralysiert schilderte Baha das Momentum der Todesnachricht seiner Freundin Lale.
Als eine Pflegerin, die in den letzten Wochen nach Hause kam, sagte – „Schön, bei einer türkischen Familie Chopin zu hören“ – nahm Güngör hin, was er hörte. Diskriminierungserfahrungen pflasterten seinen Weg wie Taubenscheiße den Asphalt am Kölner Bahnhofsvorplatz und der Bosporus-Promenade. „Ich erinnere mich an den Witz, der in den frühen 80er Jahren auf Schulhöfen kursierte“, sagt Lale Akgün. „Welche Sorte bringt Rittersport für Türken raus? Vollmilch mit Knoblauch. Harmlos, vermeintlich. Aber so ein Witz hat ihn unglaublich gekränkt und geärgert.“
Alltagsrassismus nahm er öffentlich augenzwinkernd
In der Philharmonie wurde er gefragt, ob er Mozart kenne. Erstaunt gaben sich Menschen, wenn Güngör Böll zitierte. „Habt ihr zu Hause eine Dönermaschine?“, fragten Kinder in der Schule. Eine Zeitung bescheinigte ihm im Zeugnis: „Herr Güngör verfügt selbstverständlich über die Voraussetzungen absoluter Beherrschung der deutschen Sprache in Wort und Schrift.“ Die sächselnde Zöllnerin fragte ihn: „Sprechen Sie Deutsch?“ „Besser als Sie“, antwortete er. Und kam nicht drüber weg.
Zum gekränkten Gegenschlag neigte er nicht. Als Journalist war er kein meinungsfreudiger Kommentator, wägte lieber ab, blieb distanziert. Alltagsrassismus nahm er öffentlich augenzwinkernd. Wenn er mit türkischstämmigen Freunden sprach, sah es anders aus. Bis einige Monate vor seinem Tod glaubte Baha Güngör, dass der Rassismus zumindest weniger werde. Dann marschierten in Chemnitz Rechtspopulisten und Nazis Seite an Seite mit „besorgten Bürgern“ auf. Am 28. August notierte er: „Hey Deutschland, wir müssen reden. Aber dringend.“ Dazu postete er Fotos von einem betenden Horst Seehofer und einem Chemnitzer Nazi, der den Hitlergruß zeigt.
Er wähne sich „im Niemandsland“ sagte er, nach 57 Jahren in Aachen und Köln. Über dieses Nirwana schrieb er. Seine Bücher heißen: „Atatürks wütende Enkel: Die Türkei zwischen Demokratie und Demagogie“ und „Die Angst der Deutschen vor den Türken und ihrem Beitritt zur EU“. Bis zuletzt saß er an seinem intimsten Buch: „Hüzün … das heißt Sehnsucht“. Das Buch ist nicht fertig geworden, die Erben und der Lektor arbeiten daran. Über den Titel des Buches haben Baha Güngör und Lale Akgün diskutiert. Er habe Hüzün mit Sehnsucht übersetzt, sie bevorzuge das Wort „Melancholie“. Letztendlich sind beides Schlüsselworte des Abschieds und des Ankommens.
„Ich sehe, dass die deutsche Gesellschaft noch nicht die Reife hat“
Nachruf
In unserer Nachruf-Serie erinnern wir an Kölner, die in jüngerer Vergangenheit verstorben sind. Wenn Sie vom Tod eines interessanten Kölners erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben können, melden Sie sich bitte bei uns unter 02 21/2 24-23 23 oder ksta-koeln@dumont.de.
Bei den Geschichten geht es nicht darum, ob ein Mensch prominent war oder unbekannt, erfolgreich oder verarmt. Es sollen Lebensläufe mit ihren Höhen und Tiefen beschrieben werden. Getreu dem Gedanken: Jeder Mensch hat etwas zu erzählen. Jedes Menschenleben ist einzigartig.
Lale Akgün wundert sich auch über ein Interview, das Güngör Frank Nägele vom „Kölner Stadt-Anzeiger“ Anfang Juli zur Causa Mesut Özil gab, der sich vor der Weltmeisterschaft mit dem türkischen Präsidenten Erdogan fotografieren ließ. „Was mir als Mensch nach 57 Jahren in diesem Land leid tut, ist, dass das alles offenbar für die Katz war, was durch solche Leistungen an Integration geleistet wurde“, sagte er da. Er fühle sich „sehr solidarisch“ mit Özil: „Der Junge erleidet das Schicksal von hunderttausenden türkischstämmigen jungen Menschen in Deutschland, die sich total integriert haben, die aber, weil sie sich eben auch zu ihren türkischen Wurzeln bekennen, immer wieder zwischen die Fronten geraten.“
Am Ende des Gesprächs stellte Güngör die Frage, was Integration bedeute, ob er „als kölscher Jung, als kölscher Türke im Rheinland, wirklich integriert“ sei? Und antwortete selbst: „Ich sehe, dass die deutsche Gesellschaft noch nicht die Reife hat, Menschen von anderer Herkunft so zu akzeptieren, wie sie sind.“ Akgün glaubt, ihr Freund habe Özil „als Projektionsfläche für die eigenen Ängste und Kämpfe genommen“. Wäre er bei Kräften gewesen, „hätte er das so nicht gemacht“. Auch Özil habe sich schließlich „schäbig verhalten“.
Bei Kräften, hätte Baha Güngör, der bedrückende Nachrichten gern ironisch konterte, über sein Todesdatum wahrscheinlich gewitzelt. Für den arbeitswütigen kölschen Jung aus Istanbul war am 22.11.2018, um 18.30 Feierabend.