Vor 250 Jahren, am 23. November 1772, wurde Johann Christoph Winters in Bonn getauft. Wann der Gründer des Kölner Hänneschen-Theaters geboren wurde, ist nicht dokumentiert.
250 Jahre Kölner TheaterWarum der Hänneschen-Gründer in einem Armengrab auf Melaten endete
Armut hinterlässt keine Spuren. Die Geschichtsforschung wird in der „Klapperjass“ nicht finden, womit die „Upper Class“ noch in der Nachwelt glänzt. Allerdings lehrt eine Lebensweisheit: „Not macht erfinderisch“. Manchmal trifft beides zu. Dann sind großartige Hinterlassenschaften großen Unbekannten zu danken. In Köln ist das so mit dem Lebenswerk eines Mannes, der in diesen Tagen vor 250 Jahren geboren wurde. Womit die Unschärfe der Spuren schon beginnt. Denn dokumentiert ist lediglich seine Taufe am 23. November 1772 in der Bonner Stiftskirche. Allerdings lag in jener Zeit die Geburt oft nur Stunden zurück. Die Rede ist von Johann Christoph Winters, dem Begründer des Kölner Hänneschen-Theaters.
Dessen nächste Spur findet sich erst gut ein Vierteljahrhundert später. Ein „Wanderbrief“ vom Juli 1798, ausgestellt vom „ehrsamen Handwerk der Schneider-Zunft“, bescheinigt dem Gesellen Johann Christoph „treu, fleißig, still, friedsam und ehrlich“ zu sein. Auch dass er „groß und blond“ war, ist ihr zu entnehmen. Noch am Ende seines Lebens wird „die hohe Gestalt des Seniors mit seinem Barte“ anlässlich der „Greisenspeisung“ des Bürger-Comites beschrieben. Mehr ist über sein Aussehen nicht in Erfahrung zu bringen. Vermutungen über ein Selbstportrait in seinem Skizzenbuch bleiben Spekulation.
Lebenswerk von Hänneschen-Gründer durch seine Frau mitbestimmt
Von der nächsten Lebensetappe des Schneidergesellen zeugt erneut ein Kirchenbuch. Am 22. Juli 1800 heiratet er in Bonn die Tochter eines Kölner „Spezerey-Händlers“, die zwölf Jahre jüngere Elisabeth Thierry. Den spärlichen Fakten nach zu urteilen, war es für sie wohl eine Heirat unterhalb des Stands ihrer Herkunftsfamilie. Lisette, so Elisabeths Rufname, war des Schreibens, vermutlich sogar der französischen Sprache kundig. Winters jährliche Bittgesuche um die Konzession eines Nebenerwerbs zeigen vielfach die Handschrift seiner Frau. Überhaupt kann nicht früh genug erwähnt werden, dass das Lebenswerk ihres Mannes maßgeblich auch ihrs war.
Die junge Familie bleibt bitterarm. Drei der insgesamt neun Kinder sterben – damals keine außergewöhnliche Quote. Der Furor der französischen Revolution hatte die Handwerkerzünfte zerschlagen. Kein „goldener Boden“ bei beginnender Industrialisierung. Notgedrungen verlegt sich der Schneidergeselle aufs Anstreichen. Und nun hinterlässt Armut doch einige Spuren: eben jene Bittbriefe in Kölns „französischen Jahre“ (1794 – 1814).
Hänneschen-Puppentheater gilt als die älteste feste Bühne Kölns
Deren Inhalt ist zum Erbarmen. Etwa das Gesuch vom 25. September 1809 an die „Verwaltung und Polizeibefehlsobrigkeit“: „Ich bitte unaufhörlich, haben Sie doch Mitleiden mit meiner armen Haushaltung. Ich muss mich, meine Frau und drei Kinder den ganzen Winter durch das genannte Krippchen ernähren, sehr notdürftig. Im Sommer habe ich durch gute Leute mein Brot mit Anstreichen, so bin ich im Winter wie im Sommer ein armer Tagelöhner“. Im Herbst 1812 schreibt Lisette an „Ihre hohen Gnaden, Herrn Oberbürgermeister von Wittgenstein“: „Mein Mann ist seiner Profession ein Anstreicher, hat im Winter gar nichts damit zu verdienen, so ist dieses Spiel unsere einzige Hoffnung und Nahrungsquelle, uns dadurch zu retten.“ (alle Zitate heutiger Rechtschreibung angeglichen)
Mit dem „Krippchen“ ist das Puppentheater gemeint, mit dem sich die Familie über Wasser hält. Das erste solcher Bittgesuche liegt aus dem Jahr 1803 vor. Und weil sich aus dem eine Konzession für das Vorjahr erschließt, gilt 1802 als das angenommene Gründungsjahr für das Hänneschen-Theater. Gespielt wird in der Lintgasse. Aufgrund häufiger Umzüge wird es noch an vielen weiteren Standorten zu finden sein. Zur Wanderbühne wird es unter Winters aber nicht. Das Puppentheater gilt als die älteste feste Bühne Kölns.
Ein „Urknall Kölner Eigenart und Volkskunst“ sei Winters Theatergründung, schreibt der frühere Spielleiter und Stadt-Anzeiger-Redakteur Gérard Schmidt in seinem Buch „Kölsche Stars“. In Ermangelung von Zeitungen greifen die Puppentypen Tagesgeschehen und Zwischenmenschliches auf. Sie kommentieren und persiflieren: „Wat morjens passeet, kütt ovends op et Tapeet“ – eine tagesaktuell glossierte Stadtchronik. Waren sie ursprünglich nur Faxenmacher in lustigen Intermezzi vorwiegend geistlicher Stücke, emanzipieren sich „Krippenhänneschen“ und Co. unter Winters Regie von „Pausenclowns“ zu Charaktertypen.
Tünnes und Schäl begeistern alle Klassen
Mit Tünnes und Schäl, mit Hänneschen und Bärbelchen, Bestemo und Besteva spricht das kleine Ensemble um das Ehepaar Winters ein breites Publikum an. Ob einfaches Volk oder gehobenes Bürgertum – man geht „nohm Winters“. Der Rektor der alten Universität, Kölns kultureller Übervater Ferdinand Franz Wallraf, schreibt gar Stücke für die Puppenbühne. Was aus Not im eher subkulturellen Milieu geboren worden war, etabliert sich als attraktive Adresse in der Stadt. Hier, im fiktiven „Knollendorf“, sieht die vom Verlust der reichsstädtischen Souveränität gedemütigte Stadtgesellschaft nicht nur ihr Unterhaltungsbedürfnis bedient. Hier findet sie sich als kölsche Gemeinschaft wieder.
Im 175. Jahr des Theaters zog der damalige Generaldirektor der Kölner Museen, Professor Hugo Borger, einen vielsagenden Vergleich: „Was für das Amerika des 20. Jahrhunderts der Jazz war, das ist das Hänneschen für das Köln des 19. Jahrhunderts.“ „Das Hänneschen“, so Borger, „rettete den im überschaubaren Raum entwickelten Sinn für ‚das Gemöt‘ in einer Zeit der Veränderung. Darin liegt die Leistung von Johann Christoph Winters, des Schneiders aus Bonn, der in Köln zum Puppenspieler wurde.“
Anregungen für seine Puppentypen brachte Winters von seinen Wanderjahren als Handwerksgeselle mit. In Flandern ähnelt die Puppe „De Neus“ („Die Nase“) dem kölschen Tünnes nicht nur durch das mächtige Riechorgan, sie trifft auch dessen schwerfälligen, gleichwohl bauernschlauen Charakter. Die Figuren agieren mit einer oft derb überzeichnenden Dynamik. Ungebrochen findet sie Zuspruch beim Publikum, in den schillernden Aspekten erkennt es seinen Lebensalltags wieder - auch menschliche Gegenpole. Da trifft die gutmütige Einfalt des Tünnes auf die Gerissenheit des städtischen Emporkömmlings Schäl. In zugänglicher Sprache führen die Figuren Konflikte und Phänomene des Lebens vor.
Natürlich ist im echten Leben hin und wieder auch ein Fachvokabular vonnöten. Beispielsweise wenn ein Kind professionelle Hilfe braucht, etwa wegen mangelnder Impulskontrolle, wegen Hyperaktivität und defizitärer Aufmerksamkeit. Allerdings beschreiben Eltern keine andere Wirklichkeit, wenn sie seufzen „dä Jung mäht et Hännesche“. Im besten Falle vermag die Sprache des Volkstheaters zwischen Milieus, zwischen Fachleuten und Laien zu dolmetschen.
Letztlich ringen die Typen der Puppenbühne in all ihrer Verschiedenheit um ein gedeihliches Miteinander. Der Humor und die Bildhaftigkeit, mit der sie das angehen, motivierte die Schule in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Kölner Uniklinik, den Puppenvater als Namenspatron zu führen. Auf Beschluss des Stadtrats heißt sie seit 1991 Städtische Johann-Christoph-Winters-Schule.
Widrige Lebensumstände können Biografien zerstören. Sie können aber auch zur Kreativität anstacheln. Der Musiker Hartmut Prieß sieht in Winters Theatergründung die Weisheit des Märchens von den „Bremer Stadtmusikanten“ gespiegelt. Auch die machen sich in einer Lage von Verzweiflung und Perspektivlosigkeit selber Mut. „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“, sagt sich das tierische Quartett und gründet eine Band. Nicht selten, so die eigene Erfahrung des Bläck Fööss Mitbegründers, gehe in künstlerischen, kreativen Berufen ein Tal von Sorgen dem späteren Erfolg voraus.
Allerdings garantiert ein Weitermachen allein noch keinen Erfolg. Weder die Begleitumstände, die aus dem Tal herausführen, noch der Zeitgeist sind planbar. Deshalb wäre es zynisch, Armut zu romantisieren. Töricht aber wäre es, die Chance des kreativen Gegenstemmens auszuklammern. Unter dem Schlagwort „Resilienz“ sind solche Kräfte heute in aller Munde. Johann Christoph und Lisette Winters mobilisierten sie. Bis 1919 auch ihre Nachkommen. 1926 wurde das Hänneschen eine Städtische Bühne.
Als der Theaterprinzipal am 5. August 1862 fast neunzigjährig stirbt, hat er Reputation, aber keinen Wohlstand erlangt. Es reicht nur zu einem nicht mehr auffindbaren Armengrab auf Melaten. Reich beschenkt hat er indes die Menschen in Stadt und Region.