Die Historikerin Andrea Löw erzählt in ihrem Buch „Deportiert“ von den Erfahrungen verfolgter Juden. Ein Gespräch über die Perspektive der Betroffenen.
Buch von Historikerin„Die Lehre über den Holocaust schützt nicht vor Antisemitismus“
Frau Löw, Sie haben für Ihr Buch hunderte von Quellen, darunter Tagebucheinträge, Briefe und Postkarten von deportierten Jüdinnen und Juden durchforstet. Wo haben Sie die alle gefunden?
Ein großer Teil meiner Quellen stammt aus dem Holocaust Memorial Museum in Washington, weil viele deportierte Eltern an ihre in die USA emigrierten Kinder oder Verwandten Briefe und Postkarten geschrieben haben. Aber ich habe auch Quellen aus polnischen Archiven, zum Beispiel aus dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau, aus Yad Vashem in Jerusalem, aus der Wiener Library in London, aus dem Museum „Juden in Lettland “in Riga und aus Holocaust Museen in Australien, die die Quellen online zur Verfügung gestellt haben. Inzwischen machen das einige Archive in dem Bemühen, diese Stimmen möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Auch Nachkommen Überlebender haben mir Dokumente zur Verfügung gestellt.
Wie haben Sie aus den Quellen die Geschichten für das Buch ausgesucht?
Das ist mir sehr schwergefallen, weil diese Auswahl ja immer auch bedeutet hat, Erfahrungsberichte weglassen zu müssen, Namen nicht nennen zu können. Ich habe mich bemüht, mich auf die Quellen zu konzentrieren, mithilfe derer ich die Erfahrungen von einzelnen Menschen aus verschiedenen Phasen ihrer Deportationsgeschichte erzählen konnte. Außerdem habe ich häufig sehr zeitnahe Berichte ausgewählt: entweder solche, die während der Zeit der Verfolgung geschrieben wurden oder solche von 1945 und 1946, als die Verfasser noch nicht so viel über das Ausmaß des Judenmordes wussten.
Das fanden Sie hilfreich?
Wir blicken auf das Geschehene oft zurück mit dem Wissen um das Ausmaß des Holocaust, also wie dies alles geendet hat. Dieses Wissen hatten aber die Betroffenen nicht. Ich wollte aus der Perspektive der Verfolgten erzählen, wie sie die einzelnen Stationen ihrer Deportation erlebt haben: Was heißt es, einen Deportationsbefehl zu bekommen? Innerhalb kürzester Zeit mussten sich die Menschen von ihrem Zuhause und von Familie und Freunden trennen, durften einen Koffer mit nur 50 Kilogramm Inhalt packen. Das ist eine furchtbare Erfahrung – genauso wie jeder Schritt danach, wie die Betroffenen erst unter unwürdigen Bedingungen auf ihre Deportation warten und dann in überfüllten Zügen Richtung Osten fahren mussten, um dort an manchen Zielorten direkt bei der Ankunft mit Mord und den Spuren gerade durchgeführter Massenerschießungen konfrontiert zu werden. Ich wollte zeigen, dass jeder einzelne Schritt dieser Deportationen eine schreckliche Erfahrung war, anstatt „von hinten“ auf die Geschichte zurückzuschauen, also auf ihr Ende.
Setzen wir uns zu wenig mit der Geschichte aus der Zeit vor und während der Deportationen auseinander?
Nein, es gibt Studien zur Judenverfolgung in den 1930er Jahren, und auch zur unmittelbaren Vorgeschichte und den Deportationen gibt es einiges. Auf lokaler Ebene wird sehr viel daran erinnert. Zum Beispiel durch Stolperstein-Initiativen oder Gedenkstätten in verschiedenen Städten, die sich mit den Deportationen von dort beschäftigen. Ebenso gibt es wichtige Forschungen und viele Publikationen zu Deportationen aus bestimmten Orten. Mein Versuch war es, das alles zu einer Erzählung zu verweben, die ortsübergreifend ist und die Geschichte der Deportierten mit der Geschichte der Menschen an den Deportationszielen verbindet. Und dabei habe ich auch einige Quellen gefunden, die meines Wissens so noch nicht ausgewertet wurden, zum Beispiel einige Konvolute mit Briefen und Postkarten, die nach der Deportation geschrieben wurden.
Ihr Buch zeigt, dass sich die Ghettobewohner nach Kräften darum bemühten, ihren grausamen Alltag erträglicher zu machen, etwa durch gemeinsames Musizieren und Theateraufführungen. Sie waren also keineswegs passive Opfer, wie es oftmals in täterfokussierten Erzählungen erscheint.
Genau, Darstellungen von Betroffenen als passive, willenlose Opfermasse reproduzieren den Täterblick. Dagegen müssen wir andere Erzählungen, andere Narrative setzen. Natürlich waren die Deportierten Opfer, sie wurden verfolgt und ermordet, aber es waren trotzdem handelnde Menschen. Und als solche müssen wir sie auch ernstnehmen.
Letztes Jahr kam der Film „The Zone of Interest“ in die deutschen Kinos, der das Leben des Lagerkommandanten von Auschwitz schildert. Ärgern Sie solche Erzählungen aus der Täterperspektive?
Nein, überhaupt nicht. Als ich vor über 20 Jahren mit meinen Forschungen angefangen habe, hat es mich gestört, dass die Täterperspektive damals so sehr im Vordergrund stand und niemand gefragt hat, was die verfolgten Juden eigentlich gedacht und gefühlt, wie sie ihre Situation interpretiert haben. Das hat sich aber sehr geändert. Der Blick der Verfolgten wird immer wieder in den Mittelpunkt gerückt. Und trotzdem ist der Blick der Täter auch wichtig, um zu zeigen, wozu ganz normale Menschen fähig waren. Ich glaube, gerade in der aktuellen politischen Lage sollten wir aus verschiedenen Perspektiven erzählen: Die Geschichten der Opfer, was ihr Leid bedeutet und wohin das Treiben Rechtsextremer für manche Menschen führen kann. Aber auch die Geschichten derer, die Entscheidungen über die Verfolgten getroffen und die Taten durchgeführt haben – und die Geschichten der Mehrheit, die mitgemacht oder weggeschaut hat.
Sie schreiben, nach dem Ende des Krieges hätten viele Juden ihre Befreiung nicht als solche empfunden. Inwiefern?
Ich habe aus vielen Quellen gelernt, dass „Befreiung“ ein zu positiver Begriff ist für das, was die Deportierten in den ersten Monaten nach Kriegsende erlebt haben. Sie waren abgemagert, krank und oft die einzigen Überlebenden ihrer Familie. Sie hatten keine Ausweispapiere, kein Geld und wussten nicht, wo sie hinsollten, denn wo war nun ihre Heimat? Außerdem glaubten Soldaten der Roten Armee den deutschen Juden oft nicht, dass sie tatsächlich Opfer waren, weil sie Deutsch sprachen und sich nicht ausweisen konnten. Einige von ihnen wurden sogar in sowjetische Lager verschleppt, weil man sie für Täter hielt. Viele sind auch nach der Befreiung gestorben, zum Beispiel weil sie das Essen nicht mehr vertragen haben.
Zeigt uns das, dass wir Betroffenen mehr zuhören müssten, um Geschichte nuancierter zu erinnern?
Auf jeden Fall. Wenn man auf das Jahr 1945 schaut, haben wir oft den Eindruck, dass die Befreiung durch die Rote Armee das Leid der Juden beendete. Es stimmt natürlich, dass sie dadurch nicht mehr von deutschen Mördern verfolgt waren. Aber ihr Leid war eben oft dennoch nicht beendet. Und deshalb ist es wichtig, dass wir den Betroffenen genau zuhören, um ein differenzierteres Bild von 1945 zu zeichnen.
Eine der Protagonistinnen aus Ihrem Buch schreibt, sie habe sich nach der Befreiung gefühlt, als interessiere sich niemand für ihre Geschichte. Wie nehmen Sie das heute wahr: Haben wir eine lebendige Erinnerungskultur?
Die Deutschen gelten zwar als Weltmeister der Erinnerung. Aber ich sehe da einige Probleme. Wir pflegen oft ein sehr ritualisiertes, manchmal auch eher inhaltsarmes und in gewisser Weise folgenloses Gedenken. Nehmen wir als Beispiel den Hashtag „Nie wieder“. Immer wieder nutzen Politiker den, aber was steckt dahinter? Wieviel ist die Politik bereit, dafür zu tun, dass sich die Geschichte nicht wiederholt oder es zu ähnlichen Entwicklungen kommt? Außerdem glaube ich, dass wir dieses Gedenken mehr mit Inhalt füllen und mehr konkretes Wissen über die Geschichte vermitteln müssen. Ein Beispiel könnten Projekttage zum 27. Januar sein, an denen Schüler mit Quellen arbeiten und genauer lernen, an was und wen wir eigentlich erinnern.
Haben denn viele Menschen Interesse an Ihrem Buch?
Definitiv, und das freut mich sehr. Aber ein Problem ist: Wenn ich das Buch vorstelle, dann kommen ja nur diejenigen, die ich gar nicht mehr überzeugen muss, die sich ohnehin für das Thema interessieren. Die große Frage, die sich mir aktuell stellt, ist: Wie erreichen wir die, die das alles nicht hören wollen, sich nicht dafür interessieren?
Sie meinen, um der extremen Rechten entgegenzuwirken?
Das muss unser großes Ziel sein. Die Lehre über den Holocaust schützt nicht vor Antisemitismus. Es kann nicht nur um den Holocaust gehen, sondern es muss auch der Antisemitismus von heute besprochen werden und wie Ausgrenzung funktioniert, welche Folgen Rechtsextremismus hat. Es ist sehr erschreckend, im Moment zu diesen Themen zu forschen, weil sich die Parallelen mit der aktuellen Situation immer mehr aufdrängen. Im Wahlkampf der AfD wird jetzt offen von Remigration gesprochen, was Politiker vor einem Jahr noch von sich gewiesen haben. Oder schauen Sie auf die Situation in Österreich und den USA.
Kann Geschichtsbildung, insbesondere aus der Betroffenenperspektive, diese Entwicklungen eindämmen?
Vielleicht kann historische Bildung helfen zu vermitteln, wo die Geschichte hätte anders verlaufen können. Was haben die Parteien damals nicht gemacht, was sie heute machen können? Aber diese Art von Bildung kann auch zeigen, wie wichtig es ist, sich für die Demokratie einzusetzen. Mit meinem Buch hoffe ich Empathie zu wecken. Vielleicht ermutigt das dazu, nicht wegzuschauen, wenn jemand ausgegrenzt wird, sich klarzumachen: Was heißt das für die Betroffenen, wo kann es hinführen? Ich hoffe, dass sich dann mehr Menschen entscheiden, laut dagegen zu sprechen, einzugreifen. Denn die Situation von Minderheiten sagt viel über den Zustand einer Demokratie. Und wir sind alle gefragt, uns für benachteiligte Personengruppen einzusetzen, wenn wir in einem demokratischen, rechtsstaatlichen Deutschland leben wollen.
Am Mittwoch, den 29. Januar, stellt Andrea Löw ihr 2024 erschienenes Buch „Deportiert: ‚Immer mit einem Fuß im Grab‘. Erfahrungen deutscher Juden“ im NS-Dokumentationszentrum in Köln vor. Beginn ist um 18 Uhr. Der Eintritt kostet 4,50 Euro, ermäßigt zwei Euro.