Köln – Die vergitterte Tür der „Lotta“ wird uns an einem Herbstmittag aufgeschlossen, obwohl die Kneipe in der Südstadt erst Stunden später öffnet. Hannah Kleinen hat sich diesen Ort ausgesucht, um über ihr politisches Engagement zu sprechen. Ein Schild weist offensiv darauf hin, dass die Fußballkneipe im Winter kein Spiel der Weltmeisterschaft in Katar zeigen wird. Die Betreiber der „Lotta“ haben sich dafür als erste in Köln entschieden. Stattdessen laufen hier an jedem Wochenende die Zweitliga-Spiele des FC St. Pauli, dessen Fanszene zu den politischsten in Deutschland gehört. Die „Lotta“ ist einer der wenigen linken Szene-Orte in Köln.
Alle zwei Wochen treffen sich die Aktivistinnen und Aktivisten der „Seebrücke Köln“ hier. 2020 hat sich Hannah Kleinen entschlossen, dem Verein beizutreten. Inzwischen gehört sie zum harten Kern, organisiert Lesungen, Kundgebungen und andere Veranstaltungen, in denen sie auf die elendigen Zustände im Mittelmeer hinweist. Die 30-Jährige kämpft dafür, Menschen auf offener See vor dem Tod zu retten. Ihr Ziel: Eine Patenschaft der Stadt für ein ziviles Rettungsschiff. Das könnte Leben retten, meint Kleinen.
Kölner Aktivistin: „Irgendwann hat es mir nicht mehr gereicht, zu sprechen“
„Es gibt Situationen, in denen ich einfach nicht wegschauen kann“, sagt sie. Im Jahr 2018 musste das Rettungsschiff „Lifeline“ mit 234 Menschen an Bord tagelang auf hoher See ausharren, weil kein Küstenstaat erlaubte, dass es anlegt. Obwohl mehrere Städte und Länder angeboten hatten, die flüchtenden Menschen aufzunehmen.
„Ich bin damit großgeworden, dass ich mich frei bewegen kann, bin schon mit 16 nach Lateinamerika gereist. Dass dieses Recht anderen Menschen nicht zusteht, macht mich wütend“, sagt Kleinen. „Dieses Europa, das sich Menschenrechte und demokratische Werte auf die Brust schreibt, geht so willkürlich mit Menschenleben um, dass mir die Worte fehlen.“ Laut dem „Missing Migrants Project“, das mithilfe von Behördenangaben Statistiken zu vermissten Menschen auf der Flucht erstellt, sind alleine im Jahr 2022 mehr als 1700 Menschen im Mittelmeer ertrunken.#
Auch akademisch hat sich Kleinen in ihrem Studium der Friedens- und Konfliktforschung mit der Frage befasst, wieso Menschen nach Europa flüchten, auch damit, warum sie dabei oft sterben, und wieso das in Europa viele Menschen nicht interessiert. „Irgendwann hat es mir nicht mehr gereicht, in der Uni über die Themen zu sprechen. Ich wollte selbst handeln.“ Als das Flüchtlingslager auf Moria gebrannt hat, sagt Kleinen, sei es einfach gewesen, Menschen auf die Straße zu bekommen.
„Wenn gerade nichts passiert, das es in die Medien schafft, ist es schwierig.“ Die Seebrücke hat zentrale Orte der Stadt nun mit Stickern beklebt, die auf die prekäre Lage der zivilen Seenotrettung hinweisen. Richtig viele Menschen, sagt Kleinen, bekommt derzeit nur Fridays for Future auf die Straße.
„Erst bei Fridays for Future habe ich verstanden, wie akut das Problem ist“
Im Hinterhof der Alten Feuerwache im Agnesviertel setzt sich Ulf Brähler, 17 Jahre, auf eine der Bierzeltgarnituren. Hier, zwischen Tischtennisplatten und Graffitiwänden, trifft sich regelmäßig die Kölner Ortsgruppe von Fridays for Future. Seit einem Jahr kommt auch Ulf zu diesen Treffen.
Im Sommer 2021 suchte er nach Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren. Er wollte etwas verändern, sagt er, selbst aktiv werden. Zunächst informierte er sich über die Jugendorganisationen der politischen Parteien. Zum Mitmachen überzeugte ihn jedoch erst ein Treffen von Fridays for Future. „Ich bin wegen der politischen Arbeit zu Fridays for Future gekommen, nicht hauptsächlich wegen der Klimakrise“, sagt er. „Ansonsten wäre ich ja schon 2019 dazugekommen, als der Zulauf am Größten war. Erst über meine Arbeit bei Fridays for Future habe ich wirklich verstanden, wie akut das Problem der Klimakrise ist.“
Kölner Klimaaktivist fordert mehr Beteiligungsrechte für Jugendliche
Rund zehn Stunden pro Woche investiert Brähler in seine Arbeit bei Fridays for Future, organisiert Demos, protestiert mit anderen Aktivisten in Lützerath für den Erhalt des Dorfes, vor dem schon die Bagger warten. Er kümmert sich in der Ortsgruppe um Finanzen und Strukturen und ist zudem Grafiker Fridays for Future auf Bundesebene. Dazu bereiten Brählers Lehrer ihn und seine Mitschüler aufs Abitur vor, ebendiese Mitschüler vertritt er auch noch in der Bundesschülervertretung.
„Jugendliche haben nicht viel Entscheidungsmacht und werden auch weniger gehört.“ Das möchte er ändern, auch durch seine Arbeit im Jugendhilfeausschuss und Schulausschuss. „In Köln sitzt die Seniorenvertretung in fast jedem Ausschuss, wir nur in wenigen“, kritisiert er, selbst im Schulausschuss haben die Senioren so viele Vertreter wie die Schüler.
„Junge Menschen lernen das System zuerst von außen kennen“
Köln sei eine Stadt, in der Protest auch etwas bewirken kann, sagt Brähler. In der man auch Menschen erreichen kann, die Entscheidungen treffen. Als die Stadt Jugendorganisationen Fördergelder streichen wollte, protestieren diese und die Streichungen wurden zurückgenommen. Auch die geretteten Dörfer um Lützerath wären ohne jungen Aktivismus vermutlich im Tagebau geendet. „Jetzt steht der frühere Kohleausstieg 2030 im Koalitionsvertrag“, sagt Brähler. Man müsse natürlich noch viel mehr tun, aber ohne Fridays for Future wäre Deutschland beim Klimaschutz noch weniger weit, sagt Brähler.
„Junge Menschen lernen das politische System zuerst von außen kennen“, sagt Brähler. „Dadurch hinterfragen sie auch mehr als Menschen, für die Probleme in diesem System schon seit 50 Jahren Alltag sind. Ich glaube, deshalb rufen oft junge Menschen nach einer Veränderung. Nach Verbesserung.“ Für den 17-Jährigen ist es deshalb nur natürlich, dass Aktivismus häufig von jungen Menschen vorangetrieben wird.
Köln: Tolerant, weltoffen, aber nicht konsequent genug?
Hannah Kleinen sagt: „Wichtig ist, überhaupt etwas zu tun. Ob ich in der Klimabewegung bin, mich für Frauenrechte oder LGBTIQ-Rechte einsetze oder eben in der Seebrücke bin ist fast egal, finde ich.“ Der gemeinsame Nenner sei es, „sich für die grundlegenden Menschenrechte einzusetzen und diese einzufordern.“
In Köln, sagt Kleinen, werden diese Anliegen gehört, kaum jemand stellt sich dagegen. „In Köln zeigt man schnell und deutlich Haltung, das schätze ich sehr. Man sieht sich selbst auch gerne als tolerant und weltoffen.“ Aber: „Es reicht nicht, das nur zu besingen. Man muss auch danach handeln.“
Zur Serie „Junges Köln“
Studieren, arbeiten, feiern und lieben: Köln ist ein Magnet für Menschen zwischen 20 und 35 Jahren, die das und mehr hier erleben wollen. Jedes Jahr ziehen Tausende in die Stadt, auf der Suche nach Abenteuer – und einem neuen Zuhause. Aber: Wie sieht ihre Lebensrealität wirklich aus? In unserer neuen Serie „Junges Köln“ wollen wir den Blick auf junge Kölnerinnen und Kölner lenken und davon erzählen, was sie bewegt. So sind wir etwa in der Technoszene unterwegs, versuchen zu erkunden, was die Faszination ausmacht. Oder begleiten Singles beim Dating auf der Suche nach der wahren Liebe.