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Nach dem ErdbebenTanten und Cousins verschüttet – Kölner Schüler trauern um Angehörige

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Ein Gruppe Schüler steht hinter einem langen Tisch, auf dem Hygieneartikel und andere Waren deponiert sind.

Die Spendensammlung der Schülerinnen und Schüler stößt auf große Resonanz und hilft, die Ohnmacht auszuhalten.

Mit einer Spendenaktion versuchen Schülerinnen und Schüler der Katharina-Henoth-Gesamtschule, aus der Ohnmacht herauszukommen.

In der Katharina-Henoth-Gesamtschule ist nichts mehr so wie es war. Das Leben an der Schule in Höhenberg/Vingst teilt sich ein in eine Zeit vor dem Erdbeben und eine danach. „Der 7. Februar, das ist ein Einschnitt in meinem Leben“, sagt Mithat (18). „Es gab die Lockdowns der Pandemie, es gibt den Ukraine-Krieg. Das war und ist alles schlimm, aber das hier ist anders.“ Diesmal treffe es die eigene Familie.

„Jeder, der hier zur Schule geht, kennt jemanden, der jemanden verloren hat“, sagt Lehrer Numan Sarrac. Denn 90 Prozent der 1100 Schülerinnen und Schüler hier haben einen Migrationshintergrund. Ihre Familien kommen in der überwiegenden Mehrzahl aus der Türkei, Kurdistan und Syrien. „Also genau aus den Gebieten, die jetzt von dem Erdbeben betroffen sind.“ Auch viele Lehrerinnen und Lehrer seien direkt betroffen.

Ohnmacht ist das vorherrschende Gefühl der Schüler

Sarracs Familie lebt in der türkischen Stadt Eskenderun, die besonders heftig von dem Erdbeben zerstört wurde. Gestern kam die Nachricht seines Cousins, dass die Schwiegereltern tot geborgen wurden. Tanten und Cousins sind noch verschüttet. „Mein Cousin steht vor den Trümmern. Er hört die Rufe der verschütteten Familien aus den Trümmerbergen. Und kann sie mit den bloßen Händen nicht bergen.“ Eine unfassbare Ohnmacht sei das. Ohnmacht ist auch das, was er spürt, genauso wie seine Schülerinnen und Schüler. Die Schulgemeinschaft ist zusammengerückt, anders lässt sich das nicht aushalten. „Der Redebedarf ist riesig, weil so viele betroffen sind“, sagt der Lehrer.

Silan und Elif halten sich an den Händen. Sie weinen. Ihre Familien kommen beide aus der Region Kahramnmaras, dem Epizentrum des Bebens. „Viele meiner Bekannten liegen noch unter den Trümmern. Rundherum ist alles zerstört“, erzählt Elif. Und von dem Dorf der Familie von Silan steht nichts mehr. „Neben der Ohnmacht, nicht helfen zu können, ist da die schreckliche Kälte. Die Menschen, die überlebt haben, harren bei Minustemperaturen aus.“ Die ersten seien schon erfroren, sagt sie und schlägt sich beim Reden die Hände vor ihr Gesicht.

Nächste Woche wird alles noch schlimmer. Weil es dann nur noch Nachrichten von geborgenen Toten geben wird.
Numan Sarrac, Lehrer der Katharina-Henoth-Gesamtschule

Die Mutter von Melis (17) hat gestern erfahren, dass ihre Cousine tot ist. Geschichten wie diese, es gibt sie quer durch die ganze Schülerschaft. Zuhause können es die meisten derzeit kaum aushalten. „Gut, dass es die Schule gibt“, sagt Mithat. Denn ihre Eltern sitzen daheim, schlafen ein vor dem Fernseher, mit dem Telefon in der Hand – verzweifelt warten sie auf Nachrichten von den Verwandten und Freunden in der Heimat. Und das Schlimme sei, dass es jetzt keine guten Nachrichten mehr geben wird. „Nächste Woche wird alles noch schlimmer“, sagt Lehrer Sarrac. „Weil es dann nur noch Nachrichten von geborgenen Toten geben wird.“

„Es ist, als ob die eigenen Hände in Ketten liegen. Man isst sein Essen, geht ins Bett, steht auf und kann nichts tun außer warten“, beschreibt Elif den Gefühlszustand von ihr und den Freunden. Um all das überhaupt auszuhalten und irgendwie rauszukommen aus der Ohnmacht, haben sie eine Spendenaktion gestartet. Über die Whatsapp-Gruppe der Schule haben Tugce (18) und ihre Freundinnen und Freunde diese initiiert: In einem Raum neben der Aula sammeln sie in der Schule seit gestern alles, was vor Ort gebraucht wird: Hygieneartikel, Taschenlampen, warme Kleidung.

„Die Resonanz ist riesig“, freut sich Lehrer Sarrac. Dabei kämen sehr viele Schülerinnen und Schüler aus sehr armen Verhältnissen. Aber jeder gebe, was er habe und die Familien ziehen mit. „Das ist großartig und es hilft, den Schülerinnen und Schülern, etwas zu tun. Für viele sei es ein riesiger Spagat, jetzt den Alltag zu meistern: Gerade die Oberstufenschülerinnen und -schüler seien total im Prüfungsstress und müssten funktionieren, gleichzeitig sind sie total betroffen und emotional in einem Ausnahmezustand.

Eine Gruppe von Schülern (drei Schülerinnen und ein Schüler) sitzen auf Stühlen.

Reden hilft: Tugce, Elif, Silan und Mithat versuchen gemeinsam mit den schlimmen Nachrichten aus der Türkei und Syrien fertig zu werden.

Wenn sie da so stehen und mit anpacken, dann gibt es sie, diese kurzen Momente, wo auch gelacht wird. „Aber dann hat man danach sofort ein schlechtes Gewissen“, sagt Silan. Überhaupt das schlechte Gewissen: Die Schuldgefühle, die seien mit das Schlimmste. „Du isst eine Mahlzeit und denkst, deine Familie in der Türkei hat Hunger. Du kommst in die warme Wohnung und denkst, dort erfrieren sie. Man fühlt sich schuldig, weil es uns hier gut geht“, erklärt Elif. Die anderen bestätigen das. Karneval, da sind sich alle einig, fällt in diesem Jahr für sie aus.

Einen Trauerraum wollen sie jetzt einrichten an der Schule und Sarrac und andere Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund werden eine Sprechstunde einrichten ab nächster Woche, dann wenn noch mehr schlechte Nachrichten erwartet werden. „Wir müssen zuhören und stützen.“ Fast alle seiner Schülerinnen und Schüler, erklärt er, hätten zwei Heimaten gehabt: Köln und die zerstörten Orte in der Türkei, Kurdistan oder Syrien. „Dort waren wir alle jeden Sommer im Urlaub. Wir waren dort frei, haben Geborgenheit erfahren, geliebte Menschen getroffen“, sagt Elif. Diese zweite Heimat, sie gibt es so nicht mehr. „Wir wissen das, wir sehen die Videos und Bilder von dort. Aber wirklich begreifen können wir das nicht“, sagt Mithat.


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