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Keine Unterarme und HändeSo meistert eine Kölner Familie mit ihrer Tochter das Leben

Lesezeit 4 Minuten

Die dreijährige Milana: Auf dem Spielplatz trägt sie ihre Beinprothesen.

Köln – Ihr Lachen ist ansteckend. Milana ist ein lebenslustiges, kleines Mädchen. Wer Zeit mit der Dreijährigen verbringt, schließt sie sofort ins Herz. Man sieht einen kleinen, agilen Körper, der aber nicht komplett ist. Milana fehlt der komplette rechte Unterschenkel und der linke Fuß. Zudem hat sie keine Unterarme und Hände.

Täglich berichten derzeit Medien über die auffälligen, bisher unerklärlichen Häufungen von fehlgebildeten Kindern. Erst wurden sie aus Gelsenkirchen gemeldet, dann aus Euskirchen. So wurde eine Lawine losgetreten. Immer mehr Eltern gehen an die Öffentlichkeit, die sagen: „Ja, auch unser Kind ist betroffen. Auch wir wissen nicht, was die Ursache der Dysmelie ist. Auch wir haben Angst.“

Große Herausforderung

Ob die aktuellen Fälle zusammenhängen, ist bisher nicht geklärt. Ebenso, ob es Rückschlüsse auf ältere Kinder gibt, die eine Verkürzung der Gliedmaßen haben. Ein Schicksal teilen jedoch alle Familien: Ein Leben mit einem behinderten Kind ist eine große Herausforderung. Familie Günther aus Köln-Vingst erzählt ihre Geschichte.

Die Eltern: Maria und German G. am Wohnzimmertisch

„Mama, Durst!“, sagt Milana und greift mit ihren kleinen Oberarmen nach einer Trinkflasche mit Saft und hebt sie gekonnt an den Mund. Dann krabbelt sie auf ihren Unterschenkeln durch die Küche und verschwindet zum Fernsehen im Wohnzimmer, ab auf die Couch. Im Flur stehen ihre Prothesen mit weißen Turnschuhen dran.

Ihre Eltern erinnern sich an den Moment, der alles verändern sollte. Es war der 9. März 2016 im Evangelischen Krankenhaus Kalk. „Machen sie sich keine Sorgen, sie bekommen ein kleines, süßes Mädchen“, habe die Frauenärztin gesagt, erzählt Maria (35), die Mutter. „Die Vorfreude war riesengroß.“

Dann der Schock nach dem Kaiserschnitt. Das Kind hatte Deformationen an allen Extremitäten. „Ich konnte nicht mehr sprechen“, sagte Vater German (41). „Wir waren auf nichts vorbereitet. Wir waren erschüttert und fassungslos.“ Und die Mutter meint: „Ich habe nur noch geweint. Nach der Traurigkeit kamen dann die Fragen: Wie soll das alles jetzt weitergehen? Wie sollen wir das schaffen? Und was sind die Gründe für diese Schäden?

Ursache bis heute unklar

Eine Ursache für die Missbildungen wurde bis heute nicht gefunden. Milanas Krankenhaus-Odyssee jedoch begann schon, als sie erst zwei Stunden auf der Welt war. Zur genaueren Untersuchung wurde sie erst in die Kinderklinik Amsterdamer Straße verlegt, dann wieder zurück nach Kalk. Die Mutter, um ihr Kind zu stillen, fuhr immer hinterher. Nach ein paar Monaten kam das Baby in eine Bonner Klinik. Hinzu kamen mehrfache Reisen nach Bayern, in eine Spezialklinik mit angeschlossener Prothesen-Werkstatt. Die Eltern, beide berufstätig, investierten dafür jedes Jahr einen Großteil ihres Urlaubs.

„Da Milana wächst und sich ihr Körper dauernd verändert, brauchen wir immer neue Prothesen und Orthesen“, erzählt die Mutter. „Zudem gehen wir jede Woche in die Physiotherapie, damit ihre Muskeln gekräftigt werden.“

Unbefangener Umgang von Kindern

In der Kindertagesstätte zieht das Mädchen die Prothesen aber aus und spielt fröhlich mit den anderen Kindern. Die Kleinen, erzählt die Mutter, würden völlig unbefangen mit ihrer Tochter umgehen. Unangenehm seien oft die Erwachsenen, die gaffen und dem behinderten Kind ungefragt ihr Bedauern ausdrücken. Die Eltern verbitten sich das dann. Die Fragen nach der Zukunft beschäftigen sie ständig. Wie soll ihre Tochter später alleine essen, sich anziehen, auf Toilette gehen? Wie soll sie schreiben lernen, Sport machen? Wird sie für immer ein Pflegefall bleiben? „Wir bekommen derzeit Pflegegeld, was uns etwas hilft. Alle Klamotten, also Hosen, Jacken oder Pullover müssen ja noch einmal in eine Änderungsschneiderei und dort gekürzt werden“, sagt der Vater. „Alleine Schuhe zu finden, in die ihre Prothesen passen, ohne sofort wieder herauszurutschen, ist nicht einfach.“

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Um für das Leben gerüstet zu sein, traf sich die Familie auch mit einem Kölner Contergan-Geschädigten. Der erklärte, wie er mit den Fehlbildungen am Arm aufwuchs, wie er trotzdem den Alltag gemeistert hat. „Unsere Tochter soll kein Sozialfall werden – und wir wollen durch sie kein Sozialfall werden“, sagt die Mutter. „Ich schäme mich nicht für sie. Ich bin so stolz auf sie.“

Neben dem Kampf im Alltag fechten die Eltern noch einen juristischen Kampf aus, für Schmerzensgeld und Schadenersatz. Denn nach Ansicht ihres Fachanwalts für Medizinrecht muss die behandelnde Gynäkologin schon vor der zwölften Woche, wo noch eine Abtreibung möglich gewesen wäre, gesehen haben, dass das Baby starke Fehlbildungen aufweist. Wäre es besser gewesen, Milana abzutreiben? Eine harte Frage. Die Mutter sagt: „Das hätten wir niemals getan. Aber die Ärzte oder die Behörden sollten die Entscheidung den Eltern überlassen. Das Kind bleibt schließlich nicht in der Praxis oder im Amt. Es bleibt bei der Familie. Und die muss sich dann um alles kümmern, was wir gerne auch tun.“