Kopfweh, Rückenleiden, Kratzer im Finger - oft wird wegen vermeintlicher Lappalien der Notruf gewählt. Resultat sind immer mehr Einsätze und Unzufriedenheit unter Sanitäterinnen und Sanitätern.
„Einige erkennen wir schon an der Nummer“Bagatell-Einsätze bringen Kölner Rettungsdienst an seine Grenzen
In der Leitstelle mussten sie vom Schlimmsten ausgehen, als der Notruf eines Mannes nach einem Küchenunfall kam. Sehr tief und lang sollte die Schnittwunde in der Hand sein, sehr stark der Blutverlust. Für den Rettungsdienst war daher Eile geboten, mit Blaulicht und Martinshorn fuhren die Sanitäter zu dem Kölner. Als sie ihn in seiner Küche antrafen, wurde klar, wie maßlos der Mann übertrieben hatte. Die Verletzung glich eher einem Kratzer im Finger, die Wunde war mit einem Pflaster schnell behandelt.
Es sind Einsätze wie dieser, die den städtischen Rettungsdienst immer öfter an seine Kapazitätsgrenzen bringen. Zum einen werden die Personalsorgen durch Abgänge und Renteneintritte immer größer, zum anderen steigen nun plötzlich auch wieder die Einsatzzahlen – und zwar stark. „Wir haben in diesem Jahr 20 Prozent mehr Einsätze als im vergangenen Jahr“, sagt Rettungsdienst-Leiter Alex Lechleuthner. Woran das liegt, sei unklar. Das Personal reiche dafür aber schon jetzt nicht aus. „Wir brauchen jede Menge Nachwuchs. Aber wir bekommen den im Moment nicht“, sagt Lechleuthner – und warnt: „In den nächsten fünf Jahren werden wir kein vollständig besetztes Rettungsdienstsystem haben.“
Notrufe in Köln mehrmals am Tag unnötig
Zu den ohne Zweifel oft wichtigen Einsätzen kommen immer mehr sogenannte „Bagatellfahrten“, die aus medizinischer Sicht nicht nötig wären. Bauchschmerzen, Rückenleiden, Kopfweh – die Liste vermeintlich verzichtbarer Rettungsdiensteinsätze ist lang. Doch die Unterscheidung ist enorm schwierig. Anders als noch vor Jahrzehnten sind sich Fachleute zum Beispiel sicher, dass nicht nur Brustschmerzen und ein Kribbeln im linken Arm Symptome für einen Herzinfarkt sind.
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„Heute wissen wir, dass sich ein Herzinfarkt vom Bauchnabel bis zum Kiefer und bis in beide Arme und die Schulterblätter bemerkbar machen kann“, sagt Lechleuthner. „Und manche verspüren Übelkeit oder ein Engegefühl. Hinter all dem kann ein Herzinfarkt stecken. Solange wir das nicht ausschließen können, muss das schnell im Krankenhaus abgeklärt werden. Diese Differenzierung führt aber dazu, dass es viel ‚Beifang‘ gibt, den wir eben mitnehmen müssen.“
Es gibt aber auch solche Notrufe, die die Kräfte eindeutig unnötig binden. „Wenn man den fünften oder sechsten Anrufer mit einer Bagatelle hat, nervt das schon“, sagt Leitstellen-Mitarbeiter Mario Trommer. „Einige erkennen wir schon an der Nummer. Die rufen regelmäßig an. Viele wollen auch einfach nur mal mit uns reden oder fragen, wie viel Uhr es ist.“ Mehrfach am Tag sei bei einem Notruf klar, dass eine Hilfe des Rettungsdienstes nicht nötig sei, sagt Trommer.
Schon jetzt sind seine Kolleginnen und Kollegen quasi im Dauereinsatz. „Es gibt Tage, da sehen unsere Notfallsanitäterinnen und -sanitäter die Wache kaum oder gar nicht. In der Leitstelle sind oft fast alle Autos rot auf dem Monitor, weil alle Rettungswagen unterwegs sind und zu Spitzenzeiten im gesamten Stadtgebiet nur einer oder zwei noch frei sind“, berichtet Trommer. „Oft werden die Anfahrtszeiten dadurch so lange, dass die Hilfsfristen nicht mehr eingehalten werden können. Wir haben aber noch Rückfallebenen wie die Springer-RTWs und die sogenannten ‚First Responder‘. In dem Fall würde ein Löschfahrzeug Erste Hilfe leisten.“
Sanitäterinnen und Sanitäter in Köln genervt von Bagatellfahrten
Teile des Rettungsdienstpersonals nerven unnötige Einsätze angesichts der täglichen Belastung umso mehr – und einige wollen das nicht mehr länger mitmachen. „Viele Notfallsanitäterinnen und -sanitäter verlassen den Rettungsdienst wieder, weil sie unzufrieden sind“, sagt Notarzt Marco Strohm. „Wir frustrieren die Mitarbeitenden mit solchen Einsätzen. Und dann haben wir 20-jährige Notfallsanitäterinnen und -sanitäter, die da noch nicht mal helfen können, obwohl sie es gerne täten“, sagt Strohm weiter. „Bei mir hat sich inzwischen eine Akzeptanz eingestellt. Aber viele junge Menschen, die ihr komplettes Berufsleben noch vor sich haben und überall mit offenen Armen empfangen werden, gehen einfach. Und das ist auch absolut verständlich.“
„Wir sind auch schon zu jemandem gefahren, der mit einem gepackten Koffer auf uns wartete, brav in den Rettungswagen stieg, mit dem wir ihn dann ins 500 Meter entfernte Krankenhaus gefahren haben“, sagt Strohm. „Da kannten die ihn auch schon. Aber der Mann war einfach alleine zu Hause und hatte Angst, dass ihm mal etwas passieren kann. Weil keiner auf ihn aufpasst.“
Der Mann mit der marginalen Schnittverletzung am Finger wurde indes so renitent, dass er letztlich vom Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht wurde. Dort wartete er mehrere Stunden in der Notaufnahme. Als er schließlich drankam, stellte das Krankenhaus-Personal fest: Das Pflaster sitzt perfekt. Der Patient wurde entlassen.